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Nachruf auf Odo Marquard - Kämpfer gegen die Wahrheit

Kolumne „Grauzone“ – Er war konservativ und ideologiekritisch: Der Gießener Philosoph Odo Marquard konnte mit absoluten Wahrheiten nie etwas anfangen. Und auch nicht mit Jürgen Habermas. Zum Tode eines großen Skeptikers

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Seine Essays trugen Titel wie „Apologie des Zufälligen“, „Philosophie des Stattdessen“ oder „Abschied vom Prinzipiellen“. Er war ein großer Stilist, ein wunderbarer Humorist und ein Virtuose des Bonmots. Von ihm stammen Sätze wie: „Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt“, „Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit“ oder „Theorie ist das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist“. Er selbst nannte sich „Transzendentalbelletrist“. Genau vor einer Woche, am 9. Mai, ist er gestorben: der Philosoph Odo Marquard.

In seinem Essay „Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“ – auch so ein schöner Marquard-Titel – hielt er trocken fest: „Weil wir sterben und dies wissen, darum werden wir auf unsere Vergangenheit verwiesen. Jedermanns Zukunft ist ‚eigentlich‘ sein Tod.“

Diese auf den ersten Blick banale Einsicht – Menschen sind sterblich – ist im gewissen Sinne das Zentrum des Marquardschen Denkens. Oder zumindest eines seiner Zentren. Denn für den skeptischen Denker des Zufälligen kann es das eine Zentrum oder das feste Fundament des Denkens nicht geben.

Der Mensch im Veränderungswahn


Die Endlichkeit des Menschen, davon war Marquard überzeugt, verweist ihn auf die Vergangenheit, auf seine Herkunft. Damit sind zwei Zumutungen verbunden. Erstens: Meine Herkunft ist unendlich größer und mächtiger als mein kleines, kurzes Leben. Und zweitens: Ich kann ihr nicht entkommen. Ich bin meine Herkunft.

Genau gegen diese Zumutungen wehrt sich das emanzipierte Individuum unserer Moderne aber mit Nachdruck. Es will nicht Herkunft sein, sondern vollkommen autonom. Also will es sich verändern. So wird die Veränderung zur Leitideologie unserer Zeit: Weil der moderne Mensch mehr sein will, als er ist, verfällt er dem Veränderungswahn.

Dummerweise aber gibt es das ganz Neue nicht. Jede Veränderung muss an Gegebenes anknüpfen. Ergebnis: Der Mensch versucht vergeblich, seine Herkunft loszuwerden. Er verleugnet das, was nicht zu verleugnen ist: die eigene Tradition, die eigene Kultur, das Gegebene. Der moderne Mensch, so könnte man sagen, will durch Selbstverleugnung er selbst werden. Das muss natürlich scheitern und endet zwangsläufig in der Castingshow oder beim Therapeuten.

Konservativismus der Skepsis


Dem hysterischen Veränderungswahn der Moderne setzt Marquard eine Beweislastumkehr entgegen: Nicht die Nichtveränderung ist begründungsbedürftig, sondern die Veränderung. „Die Beweislast hat der Veränderer“, schreibt er.

Das ist natürlich ein – im wahrsten Sinne des Wortes – konservatives Prinzip. Und in diesem Sinne war Marquard sicher ein Konservativer. Doch sein Konservativismus gründete in keiner weltanschaulichen Überzeugung, sondern – und das unterscheidet ihn vom Traditionskonservativen – in einer tiefen Skepsis gegenüber allen Ansprüchen auf absolute oder auch nur relative Wahrheit.

Denn Wahrheiten – normative Wahrheiten zumal – gibt es nur in der Ewigkeit. Jedoch: „Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz.“ Also müssen wir aus dem Zufall heraus leben, pathetisch ausgedrückt: aus dem Schicksal.

Mit bissiger Ironie schaute der gut gelaunte Stoiker daher auf die Gesellschaftsmodernisierer, die Ideologen von Reform und Veränderung, die Propagandisten befohlener Emanzipation.

Damit geriet Marquard zwangsläufig in Frontstellung gegen die Großintellektuellen der alten Bundesrepublik, gegen die Vertreter der Frankfurter Schule, gegen Jürgen Habermas, den er zur „Wacht am Main“ verkalauerte. Dessen Gedanken, es gäbe eine Art diskursiver Vernunft, war für Marquard eine unfreiwillige Satire auf die linke Ausdiskutierungskultur.

Im Revolutionsgeist der späten 60er Jahre erkannte der große Skeptiker den „nachträglichen Ungehorsam“, der mangels eines realen Gegners und befeuert durch moralische Hybris anfing, „in jeder Wirklichkeit Entfremdung, in jeder Institution Repression und in jedem Verhältnis Gewalt und Faschismus zu entdecken“.

Über die „Dummheit“ linker Ideologiekritik


Den 68ern und ihren modernen Adepten warf Marquard hellsichtig vor, die Wirklichkeit tribunalisiert zu haben. Im Entlarvungsgestus linker Ideologiekritik erkannte er spöttisch die „Fortsetzung der Dummheit unter Verwendung der Intelligenz als Mittel“.

Für den gebürtigen Hinterpommer war Geschichte kontingent, ohne Endziel, ohne Sinn und Zweck. Und das ist unser Glück. Denn der Zufall ist der Garant der menschlichen Freiheit. „Wir Menschen“, schrieb er, „sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“. Jeder Versuch, menschliche Existenz in das Korsett einer Erlösungsideologie zu zwängen, also den Zufall auszuschalten, ende zwangsläufig im Totalitarismus.

In schelmischer Abwandlung der elften Feuerbachthese von Karl Marx zog er die Lehre aus dieser Einsicht: „Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu verschonen.“

Unter den deutschen Intellektuellen war Odo Marquard ein Solitär, nämlich ein Liberalkonservativer, ein gelassener Ironiker, ein stilsicherer Humorist – also etwas, das eher nach England passt als in die vernagelte Diskurslandschaft der Dichter und Denker.

„Niemand lebt lange genug, um denen, die ihn überleben, alles, was er selbst versteht, zu überliefern“, schrieb Marquard einmal. Zumindest in einem Fall, seinem eigenen, ist das ein trauriger Verlust.

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