Das Journal - "Mord und Bestialität sind Tugenden"

In «Cioran, der Ketzer» zeichnet Patrice Bollon ein unbestechliches Portrait des rumänischen Freigeists und Aphoristikers

Drei Dienstmädchenzimmer, klassische chambres de bonne, in einem obersten Stock der Pariser Rue de l’Odéon, notdürftig zu einer Wohnung verbunden. Das war, gerade auch für seine Bewunderer, wichtig: dass der aus Rumänien gebürtige und im Pariser Exil lebende Emil Cioran noch als Achtzigjähriger wohnte, wie seine Philosophie sich gab – studentenhaft-bescheiden, mit einer profunden Verachtung für materiellen Besitz, immer gerade so über die Runden kommend, aber frei, unendlich frei, jeden Tag zu tun und zu lassen, was ihm beliebte.

Ciorans Ruhm als Philosoph, gerade auch bei eher einzelgängerischen Intellektuellen und in der Linken, zehrte davon, dass hier einer, unverdächtig jeder Linientreue, seine Welt entwarf, die für Demokratie oder konventionelle Utopien wenig übrig hatte, sie allenfalls spöttisch als enttäuschend bequemes Übel qualifizierte.

Schon zu Lebzeiten war die sorgsam gepflegte Legende vom Einsiedler unter den Dächern auf ein wichtiges Schönheitspflästerchen angewiesen. Es verdeckte die langjährige Gefährtin, Simone Boué, die Ciorans Freiheit eine Stabilität verlieh, die der provisorischen Dauerwohnung fehlte. Cioran selber erwähnte Simone Boué sparsam, und in den Texten über ihn tauchte sie lange nicht auf. Das war üblich. Cioran wäre nicht der erste Freigeist, der ahnte, dass die sorgend-nährend-ordnende Frau dem öffentlichen (Selbst-)Portrait nicht entsprochen hätte. Die zweite Legende aber, die vom unbequemen, über alle geistigen Fesseln erhabenen Denker, voll brillanter Bissigkeit, sturem Eigensinn und politischer Brisanz, musste, das zeigte sich spätestens nach Ciorans Tod im Jahre 1995, eine mindestens ebenso deutliche Ergänzung erfahren.

Was sollte man anfangen mit Sätzen wie diesen: «Damit ein Volk sich den Weg in der Welt bahnt, sind alle Mittel gerechtfertigt. Terror, Mord, Bestialität und Heimtücke sind nur im Niedergang kleinlich und unmoralisch, wenn durch sie eine Inhaltsleere verteidigt wird; wenn sie jedoch den Aufstieg eines Volkes fördern, sind es Tugenden. Alle Triumphe sind moralisch.»


Keiner sympathischer als Hitler

Dies hatte Cioran 1936 in «Schimbarea la fata a Romaniei» (Die Verklärung Rumäniens) veröffentlicht, und wer glauben möch­te, das sei nur verquastes Caféhaus-Gerede im Bukarest der dreißiger Jahre, der sollte auch Sätze lesen wie diesen: «Es gibt in der heutigen Welt keinen Politiker, der mir sympathischer ist als Hitler.» So gedruckt unter dem Namen des Deutschland-Korrespondenten Cioran in der Zeitschrift «Vremea» vom 29. April 1934. Oder, erklärend, im selben Artikel: «Wenn mir bei den Anhängern Hitlers etwas gefällt, so ist es der Kult des Irrationalen, die Verherrlichung der Lebenskraft als solcher, das mannhafte Ausgreifen der Kräfte, ohne kritischen Geist, ohne Vorbehalte und ohne Beherrschung.»

Patrice Bollon, dessen biografischer Essay «Cioran, der Ketzer» jetzt endlich auch auf Deutsch zu lesen ist, will Cioran weder verteufeln noch ihn entschuldigen. Warum hat Cioran damals derart deutlich Partei ergriffen, und dazu noch die inakzeptabelste von allen? Diese Frage irritierte Bollon. Sein Buch lebt nicht vom Skandal, sondern von längerer distanzierter Freundschaft, es ist informationsgesättigt, genau gearbeitet und argumentiert subtil. Bollon verfolgt den biografischen Entwicklungsgang des 1911 im Karpaten-Dorf Rasinari geborenen Essayis­ten, macht aber auch politische Hintergründe nachvollziehbar, zeigt, wie gut sich der neue Nationalismus Groß-Rumäniens nach dem Ersten Weltkrieg und ein traditionsreicher Antisemitismus vertrugen und wie der frühe, schillernde Cioran, der «die Juden» wegen ihrer «Überlegenheit bewunderte» und als Gefahr angriff, für beide empfänglich war.

Bollon ist oft vorbildlich differenziert. Etwa wenn er in Ciorans damals wirrer Weltanschauung eine eigenwillige Kreuzung aus Nationalismus und exzessivem Vitalismus entdeckt. Oder zeigt, was Cioran dazu brachte, gleichzeitig für den damals erfolgreichen Sowjet-Kommunismus und für Hitlers Faschismus zu sein.

Der Biograf untersucht auch den Wer­degang von Nae Ionescu, jenem Philosophie-Professor, der anerkannt verderblichen Einfluss auf eine ganze Generation rumänischer Intellektueller hatte (siehe „Literaturen” 7–8/2001). Nicht nur Cioran, auch Mircea Eliade, Eugène Ionesco oder Mihail Sebastian (siehe „Literaturen” 6/2005) und viele andere hörten ihm begeistert zu. Iones­cu weigerte sich immer wieder, sich schriftlich festzulegen. Doch durch die Auswertung von Aufzeichnungen zu Nae Ionescus Vorlesungen führt Bollon einen klassischen Seelenfänger vor, der seinen Studenten immer wieder nahe legte, alles bisherige Wissen zu verabschieden und nur nach ihren eigenen Zielen zu suchen – was sie, ganz brave Sektenjünger, begierig aufnahmen und sich dabei, meist ohne es zu bemerken, Ionescus Ansichten zu Eigen machten.


Was tun mit dem Frühwerk?

Am wichtigsten jedoch bleibt, dass Bollon Ciorans Frühwerk nicht als Ausrutscher kennzeichnet oder zu leugnen versucht, dass Cioran auch im Spätwerk, von «Die Lehre vom Zerfall» bis zu «Geschichte und Utopie», immer wieder an seinen vitalistischen Anfängen kleben bleibt und seine neuen, demokratisch verträglicheren Meinungen als «Schwäche» abtut, als «Erschöpfung». Bollon macht deutlich, dass Cioran gerade deswegen mit seinem Frühwerk innerlich nie abschließen konnte, weil er sich nie auch nur ansatzweise öffentlich dazu bekannte, sondern stattdessen peinliche Passagen in rumänischen Neuauflagen kommentarlos strich. Aber auch die Alternative, ganz zu ver­drängen, wollte ihm nicht gelingen.

Ob willentlich oder nicht: Cioran hat eine dritte Position gewählt: Er hat sich vom «Generationen-Wir» des Nationalismus ver­abschiedet, ist zu einem einzelgängerischen Ketzer geworden und hat seine frühen Tollheiten in einer lebenslänglichen, andeutungsreichen Diskussion im eigenen Werk dokumentiert.

 

Patrice Bollon
Cioran, der Ketzer
Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 361 S., 24,80 €

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