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(picture alliance) Realität oder Fiktion? Der „Tatort“ spiegelt die Befindlichkeiten der Nation

Politik im Tatort - In mörderischer Gesellschaft

Jeden Sonntagabend um 20:15 Uhr sitzt die halbe Republik vor dem Fernseher und starrt auf sich selbst. Denn was in der populärsten deutschen TV‑Reihe verhandelt wird, ist nicht weniger als die Befindlichkeit der Nation. Klaus Raab hat sich auf Spurensuche begeben, um den erstaunlichen Erfolg des „Tatort“ zu ermitteln. Und stieß dabei auf seltsame Zeugen

Wenn sich das Fadenkreuz aufbaut, das Schlagzeug einsetzt, wenn der Mann über den nassen Asphalt spurtet, kurz: sonntags zur heiligen Zeit, da muss der SPD‑Politiker Ralf Stegner manchmal doch zu einem Termin. Einige Dinge lassen sich auch vom Sonntag nicht wegorganisieren, Wahlabende zum Beispiel. Aber zum Glück, sagt Stegner, gebe es ja noch den Rekorder. Er zeichnet auf, lückenlos, Blum, Ballauf, Borowski. Und die alten, Trimmel, Haferkamp, Schimanski, stehen eh in seinem Regal. Stegner hat sie alle, 852 Filme, 1970 bis 2012.

Ralf Stegner, Chef der schleswig-holsteinischen SPD, ist kein Genusspolitiker, er selbst wirkt im Fernsehen, als hätte er Büroklammern gefrühstückt. Aber er hat sich keinen Moment gewundert, dass man ihn zum Tatort befragen will, zu der Beziehung von Politik, Gesellschaft und dieser Sendung mit dem ungeheuren Erfolg. Er hat zu sich nach Hause eingeladen, nach Bordesholm südlich von Kiel. Stegner hat eigentlich Urlaub, aber das ist ein Termin, bei dem er bei sich und seiner Leidenschaft sein darf, er trägt Poloshirt und Hausschuhe.

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In der Person Ralf Stegner trifft sich beides: Als Politiker hat er leidvoll erfahren, wie schwierig es ist, das Publikum für sich zu begeistern. Und zugleich gehört er im Falle des Tatorts selber zu den Begeisterten dieses Krimis, dieser über die Langstrecke gesehen mit der Tagesschau erfolgreichsten Sendung des deutschen Fernsehens. Sechs bis elf Millionen Zuschauer sehen sie sich an, Sonntag für Sonntag, Jahr für Jahr, nur unterbrochen von einer Sommerpause, die aber von Wiederholungen überbrückt wird und die jetzt auch schon wieder vorbei ist. Der Tatort ist ein Phänomen. Wie verhält es sich zwischen ihm und der gesellschaftlichen Debatte, wie beeinflussen sie sich? Und warum werden die Zuschauer dieses Krimis partout nicht überdrüssig?

Aufnahmegerät läuft. Also, Herr Stegner? „Was an wichtigen Themen in der Gesellschaft verhandelt wird, kommt im Tatort vor“, sagt er. „Er ist ein Stück Bundesrepublik Deutschland.“ Ein Satz ist das, den sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte, um einen Politiker als jemanden einzuführen, der volksnah sein will und zugleich tief genug im Berufsjargon verwurzelt ist, um das Land bei der Staatsform zu nennen. „Die Republik“, sagt Stegner, „wird darin nicht nur aus München, Hamburg oder Berlin beschrieben“, wie sonst üblich, „sondern auch aus Saarbrücken, Stuttgart, Frankfurt, Münster, Hannover und, was weiß ich, Ludwigshafen. Das ist schon Darstellung bundesrepublikanischer Realität.“

Da ist ein häufig benutztes Tatort- Stichwort: Realität.

Und tatsächlich scheint vieles von dem, was man sieht, real. Nehmen wir Kiel. Wenn jemand, der noch nie in der Stadt war, erklären müsste, wie Kiel ist, was würde ihm einfallen? Der Tatort. Gut, und dann noch Ralf Stegner. Er hat für die SPD die Landtagswahl 2009 gegen den Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen, CDU, verloren und beim nächsten Mal in einer SPD-Mitgliederbefragung gegen den heutigen Ministerpräsidenten Torsten Albig. Aber man kennt dieses Gesicht. Wenn Stegner im Fernsehen auftaucht, weiß man sofort: aha, Kiel. Obwohl er in Süddeutschland aufwuchs, wo seine Eltern eine Gastwirtschaft hatten, in der sie sonntags schon in den siebziger Jahren den Tatort zeigten. Kiel, das ist sein Gesicht, das sind die Gesichter von Kubicki, Carstensen, Albig, früher Simonis, noch früher Engholm und Barschel.

Ansonsten ist da der Tatort: Da ist das Moor im Wald, zu sehen in „Borowski und das Mädchen im Moor“. Dann hätten wir da das Meer und irgendwo dahinter Schweden; beides weiß man aus „Borowski und der coole Hund“. Und dann ist da diese grüne flurbereinigte Unendlichkeit, wie sie sich im Tatort- Fall „Borowski und der stille Gast“ am 9. September andeutet.

Der Tatort macht das Bild von Kiel. Und nichts von dem, was der Tatort zeigt, ist falsch. Betrachtet man Kiel aus der Totalen, auf einem Satellitenbild zum Beispiel, sieht man das, was man in den Filmen sieht: das Meer vor der Haustür, drum herum grüne Flächen, und irgendwo Baumansammlungen, zwischen denen sich ja wohl irgendwo ein Moor befinden wird. Schweden ist rechts oben.

Seite 2: Warum die meisten Tatort-Kommissaren wirklich da draußen herumlaufen könnten

Und der Tatort macht nicht nur Kiel, er macht auch Ludwigshafen, Saarbrücken, Hannover und Leipzig, ab diesem Herbst Dortmund und von 2013 an Erfurt. Was weiß man von Konstanz? Dass es dort grünt und blüht. Der Tatort erzeugt Bilder, die von Soldaten, alleinerziehenden Müttern und Hartz‑IV‑Empfängern. Es geht um Menschen und wie sie in ihrer Zeit und bei sich selbst feststecken. Wie sie reden, wie sie sich die Hand geben, welche sozialen Rollen sie spielen, welche Autos sie fahren, wie sie lieben, wie viel sie saufen und wie oft sie „Scheiße“ sagen. Was sie treibt.

Den meisten Tatort-Kommissaren, die überzeichneten Münsteraner Charaktere vielleicht ausgenommen, würde man daher zuschreiben, dass sie heute wirklich da draußen herumlaufen könnten; anders als zum Beispiel Spiderman oder die Christine-Neubauer-Figuren, die sich in Schmonzetten in ihresgleichen verlieben. Tatort-Charaktere, die nicht in die Zeit gehören, werden abgesetzt, wie Kommissar Haferkamp, der von 1974 bis 1980 in Essen ermittelte. Er rauchte filterlose Roth-Händle und trug schwarze Existenzialisten- Rollkragenpullover unterm Trenchcoat. Er war modern – in den Siebzigern. Deshalb gibt es ihn heute nur noch als Wiederholung. Und in Ralf Stegners DVD‑Regal.

Die Frage ist, was passiert, wenn man näher an die wirkliche Welt heranzoomt.

Zoom auf Stegners Haus, nahe der Kieler Straße zwischen Bordesholmer See und Schmalsteder Mühlenteich gelegen. Man könnte einen Fußball in die Blumen schießen, könnte die Gartentür öffnen und sich in den angebauten Wintergarten auf Korbsessel setzen. Es ist real. Aber jeder Regisseur, der hier drehen müsste, würde aufheulen: Dieses Haus ist uneindeutig. Nicht klein- oder großbürgerlich, Nippes schon, aber doch wieder nicht so viel, dass es wehtut. An der Decke hängt ein Kronleuchter, aber oben wächst das Kabel heraus. Dagegen haben Häuser im Tatort eine eindeutige Schichtzugehörigkeit, es sieht dort nach Bahnhofstoilette aus oder nach Designerkatalog.

Vom Tatort, Stegners Leidenschaft, die zu zeigen sich anbieten würde, um im Film die Person näherzubringen, die hier lebt, ist nirgends etwas zu sehen. In seinem Arbeitszimmer stehen zwar alle Tatorte auf DVD im Regal, aber kaum eine hat ein Originalcover. Das würde kein Requisiteur durchgehen lassen.

Ermittlungsergebnis: Die Welt ist keine Kulisse. Die Welt im Tatort schon.

Und so mag es also sein, dass all das, was man im Tatort sieht, in der Gesellschaft vorkommen könnte, umgekehrt aber stimmt das nicht; es könnte nicht alles, was man in der Gesellschaft findet, im Tatort auftauchen. Das gilt auch für die Tatort- Kommissare; sie würden in einer Fußgängerzone nicht auffallen, aber 95 Prozent der Fußgängerzone würden im Tatort wie Fremdkörper wirken.

Nehmen wir Stegner: Dass er Marotten hat, die Tatort-Leidenschaft, dazu seine Fliegen, das qualifiziert ihn dringend als Kommissar. Ballauf und Schenk stehen an einer Kölner Currywurstbude, Stoever und Brockmöller sangen in Hamburg Lieder, und Borowksi kämpft in Kiel mit seinem Passat, den er „Brauner“ nennt wie die Walküre Helmwige das Pferd im „Ring des Nibelungen“. Einen Spleen braucht jede Figur, das macht sie wiedererkennbar.

Stegner hat Eigenheiten, aber sein Beruf als Politiker wäre ein Grund zur Disqualifikation als populärer Krimicharakter. Komplexität, Aktentaschen und Büroklammern sind zwar real, aber langweilig. Und Langeweile ist der Tod des Films. Realistisch gezeichnete Politiker gibt es deshalb kaum im Krimi. „Wenn Politiker im Tatort auftauchen, sind das in der Regel reiche Staatssekretäre, die große Villen haben, ihre Frauen betrügen und im Übrigen korrupt sind“, sagt Stegner. „Die Darstellung von Politik ist schon eine eigenartige.“

Seite 3: Der Tatort als kulturelle Landkarte

Die Darstellung bundesrepublikanischer Realität endet im Tatort also, wo sie langweilen würde oder nicht glaubhaft wäre. Und ein Politiker, der keine korrupte Drecksau ist, das glaubt im Krimi kein Mensch.

Der Tatort ist demnach kein Spiegel oder Abbild, er ist eine kulturelle Landkarte. Besser: eine Sammlung von Landkarten, ein Atlas. Landkarten bilden die Landschaft nicht ab, sie verweisen auf sie, sie sind ihr Modell. Sie vereinfachen, ordnen als zentral erachtete Aspekte, blenden aus. Aus der Totalen wirkt das Bild, das der Tatort zeichnet, daher noch wie ein sachgemäßer Überblick – Kiel liegt am Meer, Schweden rechts oben. Zoomt man aber heran, sieht man nicht mehr die Welt, sondern nur, wie die Tatort-Macher auf sie verweisen.

[gallery:Die 30 besten Tatort-Folgen]

Berlin. Der Schauspieler Fahri Yardim kommt mit dem Fahrrad zum Café. Er soll demnächst ein populärer Tatort-Charakter werden. Der NDR hat ihn engagiert, um mit Til Schweiger ein Ermittlerduo zu bilden. Yardim hat einen leicht norddeutschen Zungenschlag, er redet sofort los. Wer ist Fahri Yardim? „Ich bin Hamburger“, sagt er, „schon deshalb ist diese Rolle für mich eine große Ehre.“ Türkisch? Er sei Hamburger. Also deutsch? Och, eigentlich verbinde ihn mit einem Arbeiterkind aus Frankreich wahrscheinlich mehr als mit einem deutschen Spitzenbanker. So viel zum Selbstbild des Schauspielers Yardim.

Yardim wird allerdings nicht Yardim sein im Tatort. Gesucht für seine Rolle wurde kein Darsteller aus Hamburg, sondern explizit einer mit türkischem Hintergrund. Worauf also verweist Fahri Yardim? In der Zeitung jedenfalls stand, als bekannt wurde, dass er die Rolle übernimmt: „Tils Neuer wird ein Türke.“ Yardim ist, genau wie Schweiger, ein wandelnder Verweis. Der berühmte Schweiger verweist im Tatort auf den Mainstream, Yardim auf eine gesellschaftliche Gruppe, selbst wenn er sich gar nicht über sie definiert.

Auch so legt der Tatort Ist-Zustände in der Gesellschaft fest: Eine Gruppe, auf die ein Sonntagskommissar verweist, gehört dazu.

Köln. Im Büro von Gebhard Henke stehen ein Grimme-Preis, ein Deutscher Fernsehpreis und ein Deutscher Comedypreis und verweisen darauf, dass hier Fernsehen nicht geglotzt, sondern gedacht wird. Henke arbeitet als Fernsehspielchef beim WDR, im ARD‑Verbund hat er das Amt des Tatort-Koordinators. Wenn der vielgliedrig- föderale Sonntagskrimi einen Kopf hat, dann ist er das.

Henke nutzt, wenn er vom Tatort spricht, als übergeordneten Begriff nicht „Realität“, sondern das Wort „Kunst“. Während die fiktionalen Figuren für, zum Beispiel, Ralf Stegner Transporteure gesellschaftspolitisch relevanter Geschichten sind, verhält es sich für Henke andersherum. Die Oberthemen sind für ihn Oberflächen, auf denen sich die Charaktere entwickeln können: „Selbst wenn der Aufhänger für einen Film ein aktuelles Thema ist“, sagt er, „sind die Zwänge des Kriminalfilmgenres viel stärker als das Einklinken in die Realität. Oft sind die Oberthemen ja nur ein Rahmen, und die viel größere Frage ist: Wie schaffen wir darin Raum für die Figuren?“

Es war im Juni 1981, als die Figur im Tatort die Oberhand über das Problem gewonnen hat. Damals tauchte Horst Schimanski auf. Seine Fälle wurden erstmals komplett aus der Ermittlerperspektive erzählt. Die erste Einstellung des ersten Schimanski-Tatorts zeigt: ihn. Wie um zu markieren, dass es sich um einen Bruch handelte, warf in Minute vier jemand einen Fernseher aus dem Fenster. Mit Schimanski zog das literarische Ich in den Sonntagskrimi ein. „Das Verhalten zum Fall war bei ihm immer wichtiger als der Fall selbst“, sagt Hajo Gies, einer der Schimanski- Erfinder, der als Regisseur 21 Tatorte gedreht hat. Und siehe da: Schimanski zog die ganze regionale Vielfalt des Tatorts mit. Mit ihm kam der konstante Erfolg, und Sonntag 20:15 Uhr wurde zum Ritual der Abendgestaltung.

Seite 4: Politik im Tatort – ein Erfolgsrezept?

Die Frage ist, was das dann soll mit Afghanistan, Müllskandal, Ehrenmord und Pflegenotstand, mit dem bundesrepublikanischen Politikkram also, der zwar nicht in jedem Film aufpoppt, aber doch in vielen.

Gebhard Henke hat darauf mehrere Antworten. Erstens: Die Gründerväter, wie er sie nennt, hätten es so gewollt. Der Tatort wurde erfunden, als man überlegte, wie man dem ZDF-Erfolg „Der Kommissar“ etwas entgegensetzen könne. Die Ursprungserzählung handelt von drei WDR-Mitarbeitern, dem Redakteur Peter Märthesheimer, dem Fernsehspielchef Günter Rohrbach und dem Dramaturgen Gunther Witte, die laut Henke am entscheidenden Tag am Decksteiner Weier in Köln spazieren gingen, alle drei sollen einen Trenchcoat getragen haben. Wie Kommissar Haferkamp, der später im WDRTatort ermittelte.

Witte hatte die Idee zu einer Regionalkrimireihe für das Genre des Fernsehspiels, das sich in den Siebzigern politisch verstand, und zu der alle ARD-Anstalten Beiträge leisten sollten. Die Sender brachten ihre regionale Identität ein, sie setzten ihre weltanschaulichen Akzente. Das Prinzip war: Jeder produziert für sich.

Henke glaubt, dass hier, im Anstaltspluralismus und damit der Unterschiedlichkeit der Filme, die dieser hervorbringe, das Erfolgsgeheimnis der Reihe liegt, weil er „die Vielfalt sichert und auch ein Motor von Kreativität ist, den man definitiv nicht hätte, wenn alles aus einem Guss wäre“.

Zweitens hat Henke eine dramaturgische Antwort: „Ich fände es langweilig, wenn man die Uhr danach stellen könnte, dass immer ein Reicher in seiner Villa erschlagen wird.“ Tatsächlich sind die Möglichkeiten, warum ein Mörder jemanden umbringt, begrenzt. Als Motive denkbar sind etwa Eifersucht, Neid, Eitelkeit oder Zorn. Oder ein Täter ist psychisch gestört, dann muss man nicht viel begründen, ein Irrer darf ja im Krimi immer alles. Oder aber die Umstände sind schuld, Armut, Arbeitslosigkeit, mafiöse Strukturen. Und da sind wir bei der Politik: Sie steigert die Vielfalt dramaturgischer Möglichkeiten, der Tatort benutzt sie, die Politik eröffnet ihm Varianten.

Politik im Tatort – Henke hat noch eine dritte Antwort, warum sie stark vertreten ist. Verkürzt lautet sie: Klar könnten wir diese Themen weglassen, aber dann wäre der Tatort nicht mehr der Tatort, und da wären wir ja schön blöd.

Das ist natürlich nicht so innovativ, und deshalb analysiert vermutlich Stegners Sohn beim Besuch in Bordesholm den Tatort so: „Am Anfang gibt es eine Leiche, am Ende immer eine Auflösung, und dazwischen lernt man die Kommissare kennen. Find’ ich langweilig.“ Stegner junior hat gerade Abitur gemacht, er gehört zu der Altersgruppe, unter der das Sonntagabendritual nach einer Allensbach-Befragung nicht halb so verbreitet ist wie unter den Zuschauern über dreißig.

Aber der Tatort funktioniert wie keine andere Sendung, und die Fans haben eine konkrete Vorstellung von der Reihe. Man sehe das an jüngeren Regisseuren, sagt Henke; sie würden die Grundverabredung – der Tatort als politisches Fernsehspiel, in dem gesellschaftliche Realität verarbeitet werden kann – von Haus aus kennen, sie hätten ihn schon mit ihren Eltern geguckt, und man müsse ihnen nicht mehr erklären, was machbar sei. Der Tatort ist eine gesellschaftspolitische Marke auch einfach deshalb, weil er es ist.

Seite 5: Ehrenmord, Zwangsheirat, Patriarchat — Themenhäufungen am Tatort

Die Verarbeitung politischer Ereignisse gelingt dann mal besser und mal schlechter. In Köln, wo vielleicht der sozialdemokratischste aller Tatorte gedreht wird, trauern die Ermittler, wenn sie mal nach Leipzig fahren, ihrem Soli nach, fühlen sich aber ansonsten wohl, wenn sie in einen Arbeitskampf geraten. In Bremen, wo die ehemalige Friedensaktivistin Inga Lürsen ermittelt, kämpft man bisweilen mit der großen Weltbedrohung, mal mit Satan-, mal mit Islam-, mal mit Terroristen, der Bremer ist der -ismus-Tatort. In Konstanz lotet die innerlich gespaltene Klara Blum aus, was ein Staatsdiener tut, wenn er an die Grenzen seiner Befugnisse stößt.

In diesem Spätsommer bekommen es Ballauf und Schenk mit Afghanistan-Rückkehrern zu tun, Flückiger in Luzern mit Immobilienhaien, Borowski mit einem Serientäter und Lürsen in Bremen mit einem Geiselnehmer.

Es gibt aber Jahre, 2008 war so eines, in denen fast jeder Film auf einer politischen Folie spielt. Manche nervt das. Als bei „Walulis sieht fern“, einer 2012 mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Comedyreihe, einmal „der typische Tatort in 123 Sekunden“ nachgespielt wurde, fragte der Kommissar-Parodist seine Kollegin in ihrem Metagespräch über die Reihe: „Sag mal, haben wir eigentlich schon ein Ereignis von gesellschaftlicher Relevanz?“ Und sie: „Du meinst den verkrampften sozialkritischen Einschlag? Kommt jetzt: Atomlobby.“

Der Regisseur Hajo Gies sagt: „Der Tatort wird immer Themen aufgreifen, von denen er annimmt, dass sie ankommen. Man kann sicher sein, dass man das, was man im Spiegel oder Stern der letzten Woche gelesen hat, ein Jahr später als Tatort in der ARD wiederfindet.“ Wenn man kurz mal eine Suchmaschine bemüht, sieht man: keine allzu unverschämte Zuspitzung.

2003 sind Blutdiamanten Thema in den Medien; 2006 läuft ein WDR-Tatort namens „Blutdiamanten“. 2007 wird an der Charité ein Forschungsprojekt zu Pädophilie abgeschlossen; zwei Tatorte 2008 handeln von pädophilen Männern. Soldaten mit posttraumatischem Belastungssyndrom sind 2009 immer wieder in der Presse. 2011 sieht man traumatisierte Afghanistan- Rückkehrer im Saarbrücker, 2012 einen traumatisierten Kriegsfotografen im Leipziger Tatort. 2010 kauft Nordrhein- Westfalen seine erste CD mit Kundendaten der Bank Credit Suisse; 2012 handelt „Schmuggler“ aus Konstanz vom Geldtransfer über die Schweizer Grenze.

Knapp eineinhalb Jahre dauere es von der Idee bis zur Ausstrahlung, sagt Gebhard Henke, der Tatort-Koordinator.

Zwischen Dezember 2007 und Januar 2009, ein bis zwei Jahre nach dem Streit um die Mohammed-Karikaturen also, senden verschiedene ARD-Anstalten gleich fünf Tatorte, in denen islamische Protagonisten auftauchen. In allen geht es, es wirkt im Nachhinein fast wie eine Kampagne, um Ehrenmord, Zwangsheirat oder Patriarchat. „Das war wie eine unterirdische Verabredung“, sagt Henke, „man merkte, das ist ein Stoff, auf den viele Autoren fast gleichzeitig angesprungen sind. In dem Moment, in dem man die Häufung realisierte, waren sie schon produziert. Das ist der Preis des föderativen Systems, in dem man nicht jeden Schritt abstimmt. Aber daraus lernen wir natürlich.“

Seite 6: Ob Endlager, Rockerbanden oder Zwangsheirat: Bei allen Themen wirkt der Tatort wie ein Verstärker

Bekannt ist schon jetzt, dass es die neuen Saarbrücker Ermittler um Kommissar Jens Stellbrink, gespielt von Devid Striesow, 2013 mit der Rockergang Dark Dogs zu tun bekommen und einem Mord, der an reale Fälle von 2010 und 2011 erinnert, in die Mitglieder der Hells Angels verwickelt waren.

Die These liegt daher nahe, dass das, was der Tatort tatsächlich spiegelt, die Medienagenda des jeweiligen Vorjahrs ist. Die Frage, ob ein Tatort einen direkten politischen Zweck verfolge, wäre damit geklärt: in der Regel nicht. Dafür kommen die Filme zu spät.

Was nicht heißen soll, dass im Tatort nie klare politische Positionen vertreten würden.

Der 2008 ausgestrahlte Film „Salzleiche“, der im Wendland spielt, kommentierte die Atompolitik, indem eine Leiche, die in einem Salzhügel vergraben war, an der Oberfläche auftauchte – was, worauf Regisseurin Christiane Balthasar hinweist, unmöglich wäre, wenn stimmen würde, was Atomenergiebefürworter sagen: dass das Salz nie wieder hergibt, was es einmal einschließt.

Ob Endlager, Rockerbanden oder Zwangsheirat: Bei allen Themen, die wiederkehren, wirkt der Tatort wie ein Verstärker: Der erste Anlass mag vorüber sein, aber beim nächsten Mal, wenn es wieder um das Verbot von Hells Angels oder Gorleben geht, hat man schon Bilder vor Augen. Der Tatort, der auf einer Folie spielt, kann dann selbst die Folie der nächsten Debatte zum Thema werden und die ersten Assoziationen liefern.

Aber auch wenn der Tatort ein größeres Publikum für ein Thema emotionalisieren kann, vermag er es nicht, ein Thema zu setzen und sogar direkt etwas zu bewirken. Der einzige Spielfilm, von dem er wisse, dass er kausal etwas verändert habe, sei „Contergan“ vom WDR gewesen, sagt Gebhard Henke – danach seien die Renten der Geschädigten erhöht worden. Dass aber der Tatort die Welt eins zu eins verändere, glaube er nicht.

Ermittlungsergebnis: Der Tatort nimmt am Gesellschaftsgespräch teil. Aber er kann kein Thema auf die Agenda setzen.

Wir sind da wieder bei Ralf Stegner. Er ist als Politiker in der Lage, etwas zu bewirken, das der Tatort nicht kann. Er kann sich zum Beispiel mit anderen SPD-Linken zusammentun und ein Steuerkonzept formulieren. Das wäre eine Tat mit Ziel, vielleicht sogar mit Ergebnis. Der Tatort hat selten ein konkretes Ziel, außer ein möglichst guter Film zu sein. Was schreibt Stegner dem Tatort dann eigentlich zu? Was will er von ihm?

Stegner sagt: „Unterhaltung ist eine extrem gute Sache, um Themen zu transportieren, insbesondere solche, die einem auch an die Nieren gehen. Also ich wette, dieser Afghanistan-Film hat Leute dazu gebracht, über den Kriegseinsatz nachzudenken, die das sonst nicht getan hätten.“ Der Tatort und seine fiktionalen Charaktere als erfolgreicher Vermittler institutionalisierter Politik.

Seite 7: Der Fernsehkommissar als Polizist?

Die Frage ist, von wem sich die Zuschauer am liebsten etwas vermitteln lassen. Während der echte Polizist eine Wächterfunktion ausübt, hat der Fernsehkommissar eine andere Funktion: Er führt die Zuschauer über unbekanntes Terrain. Fernsehkommissare sind keine Polizisten. Sie sind Mischungen aus Entertainern und Ethnologen, die Mikrokosmen erkunden, mit einer mal sechs, mal elf Millionen Studenten umfassenden Seminargruppe. Manche Zuschauer vertrauen sich gern einer mütterlichen Klara Blum an. Die anderen folgen lieber einem alleinerziehenden Vater, wie ihn Til Schweiger bald geben soll. Oder darf’s eine alleinerziehende Mutter sein, wie sie Maria Furtwängler erfolgreich spielt? Oder eine Kommissarin und ein Kommissar – denen man ansieht, dass aus ihrer Familie mal jemand eingewandert ist – , wie sie Aylin Tezel im Herbst in Dortmund und Fahri Yardim 2013 in Hamburg verkörpern?

Mit dem Hamburger Undercoveragenten Cenk Batu, gespielt von Mehmet Kurtulus, wollten sich zu wenige Zuschauer identifizieren. Schlechte Quote. Weil er ein Türke ist? Fahri Yardim, der nun einen der Hamburger Parts übernimmt, sagt: „Der Gedanke kommt mir auch, blöderweise, aber aus einer gewissen Impulsgewohnheit: Oh, irgendwas läuft nicht gut, und da kommt ein Türke drin vor, könnte man da stillen Rassismus vermuten, der sich in Desinteresse äußert?“ Die Antwort aber laute: nein. „Cenk Batu hat, glaube ich, eher deswegen nicht funktioniert, weil er vielen Leuten nicht traditionell genug Tatort war. Das Konzept des Undercovermanns, der da alleine in den Untergrund eintaucht, da fehlte womöglich etwas, was man sehr gerne sieht – dieses Geplänkel zwischen zwei Kollegen.“

Was aber ist mit ihm, Fahri Yardim, der keinen Undercoveragenten spielt? Der im Casting ausgewählt wurde, weil er einen türkischen Hintergrund hat? Ist er damit eine Art Alibitürke, der, egal was er tut, vor allem einen Migrationshintergrund haben muss? „Das ist eine Thematik, mit der ich öfter konfrontiert werde“, sagt er, „aber die geht mir schon echt auf den Sack. Ich glaube, es ist einfach ein schönes Symbol für urbanes Leben. Das, was vielleicht noch irgendwo als exotisch gilt, als Selbstverständlichkeit zu erzählen, das bildet Großstadt schön ab.“

Trotzdem projiziert am Ende jeder Zuschauer in seine Figuren, was er mag, empfindet Zu- oder Abneigung. Bildet sich Werturteile. Im besten Fall öffnen fiktionale Fernsehcharaktere damit Welten, im schlechtesten reproduzieren sie Vorurteile. An den Figuren kann man jedenfalls ablesen, in welcher Gesellschaft wir leben.

Auch an der Ermittlerin Conny Mey etwa, die Nina Kunzendorf in Frankfurt spielt: In ihr manifestiert sich eine Genderdebatte der Gegenwart. Sie ist eine Frau, erkennbar im Arbeitermilieu aufgewachsen, die in erstaunlich engen Jeans ausführlich Flure entlanggeht und von einem Kollegen zu hören bekommt, sie solle lieber im Nagelstudio anfangen. Ist es sexistisch, sie ständig von hinten zu zeigen? Oder verweist ihr Hintern, da er zu dieser behänden, impulsiven und hartnäckigen Frauenfigur gehört, darauf, dass enge Jeans und Nagellack nicht gleich dumme Nuss bedeuten? Tatsache ist: Darüber wird debattiert.

Bordesholm. Ralf Stegner sagt, wenn er es sich aussuchen dürfte, wäre er am liebsten Borowski. Grummelig, aber mit Tiefgang. Auf eine schüchterne Weise hat er damit erklärt, wie er selbst gesehen werden möchte.

Ein bisschen wie ein Sonntagabendkommissar, das wäre womöglich gern manch ein Politiker. Es sind Identifikationsfiguren, denen Millionen vertrauen – was damit zu tun hat, dass sich Politiker 90 Minuten nach Beginn ihrer Arbeit gerade den zweiten Sitzungskeks nehmen. Die Kommissare dagegen haben nach 90 Minuten eine Lösung gefunden. Abspann, Musik, die neue Woche kann beginnen. Die Probleme der alten sind gelöst.

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