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Evolution im Zeitraffer - Vom Städter zum Hinterwäldler

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Neueste Erkenntnisse zu Darwins Theorie legen nahe, dass sich Evolution schneller vollziehen kann als gedacht. Ein Berlinbesuch unserer Landkolumnistin bestätigt das

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Nachdem mein Mann der Bauer sich mit der Kreissäge in den Finger geschnitten hatte, musste ich allein die Tiere versorgen. In nur wenigen Tagen konnte ich dabei zusehen, wie sich in den Fältchen meiner spröden Hände der Dreck absetzte, wie Heustaub und Pferdemist ihre Spuren hinterließen und der Gärgeruch der Heulage selbst nach dem Duschen nicht ganz verschwand. Ich beobachtete an mir, wie aus der Journalistin die Bäuerin wurde. Wie schnell das ging, diese Metamorphose.

Dann las ich von den Erkenntnissen Pablo Libradoas und Clio Der Sarkissianas von der Universität Kopenhagen. Die Forscher haben mit ihren Kollegen jakutische Hauspferde und Stichlinge von der Südküste Alaskas untersucht. Sie stellten fest, dass die von Darwin vor 200 Jahren beschriebene Anpassung mitunter mit einer erstaunlichen Rasanz vonstatten geht. Regulatorische Regionen in der DNA sollen dafür zuständig sein, dass sich die Pferde innerhalb weniger Jahrzehnte an die eisige Kälte in ihrem Umfeld angepasst haben. Der Stichling dagegen, ein Meeresbewohner, habe sich nach einem Erdbeben rascher als erwartet an die vielen entstandenen Süßwasserpfützen gewöhnt und kann heute – je nach Gusto – hüben wie drüben überleben. „Evolution auf der Überholspur“ nennt das die FAZ.

Ausflug in die Großstadt
 

Ich, nun also Bäuerin in der Lüneburger Heide, bin in der vergangenen Woche nach Berlin gereist, um auf den Pfaden meiner Städtervergangenheit zu wandeln. Um Erinnerungen aufzufrischen wie jene kostbare an all die Morgen, an denen ich mich morgens um fünf Uhr mit dem Fahrrad auf den Weg in die Redaktion machte, über die Warschauer Brücke fahrend die Lichter beschauend, die sich zwischen Friedrichshain und Kreuzberg in der Spree spiegelten.

Ich habe alles aufgesogen: Das orange Leuchten des Schriftzugs über einem Neuköllner Obstladen, das Summen und Brummen der überfüllten Kreuzberger Markthalle, das Geplauder mit dem französischen Käseverkäufer, den puppenstubenhaften Prenzlauer Berg in seiner ästhetischen Perfektion und den intellektuellen Austausch mit einem Kunstbuchhändler im Hinterhaus. All die Menschen, die unterschiedlichen Lebensmodelle, die Fülle an Alternativen.

Reizüberflutung an der Straßenampel
 

Dann stand ich an der Torstraße in Berlin-Mitte. An einer Ampel kamen etwa 20 Menschen auf mich zu. Und ich war wie erstarrt, als rattere in meinem Kopf ein Scanner, der kurz davor war, aufgrund der Masse an Informationen durchzubrennen. Mein Gehirn versuchte, jedes einzelne Gesicht zu speichern. Die Frau mit den großen dunklen Augen und dem Fransenpony, den Mann mit dem dicken weinroten Schal, einen weiteren hübschen Hochgewachsenen mit auffälliger Brille und und – da war ich schon vorbei auf der anderen Straßenseite. Mein überhitztes Hirn aber offenbarte, wie sehr ich mich an das reizarme Landleben gewöhnt hatte.

Heute bin ich noch immer immer erfüllt von all den Eindrücken. Ich habe ihn sehr genossen, meinen 42-Stunden-Ausflug nach Berlin. Es war wie Zoo, Zirkus und Theater in einem.

Aber hier zu Hause ist es auch gut. Da draußen fällt ein Blatt, die Katze sitzt vor dem frisch geschlagenen Holz in der Sonne. Sie macht – nichts. Ich werde es ihr gleich tun. Und irgendwann wieder nach Berlin fahren. Bis dahin denke ich an Marlene Dietrich und ihre Friedrich-Holländer-Hymne über den Verzicht, der schrieb: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, möcht ich etwas glücklich sein. Denn wenn ich gar zu glücklich wär, hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.“

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