Schwerpunkt: Wir Voyeure - Mephisto vor Gericht oder: Wie frei darf Kunst sein?

Der Konflikt zwischen Fiktion und Realität, Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Ein juristischer Befund

Die Kunst ist frei. So sagt es unsere Verfassung, das deutsche Grundgesetz, in Artikel 5 Absatz 3 Satz 1. Wie weit aber geht diese Freiheit der Kunst? Ist sie wirklich schrankenlos und nicht begrenzt durch andere Verfassungsgüter?
 
Nein, urteilten die Richter des Bundesgerichtshofes im berühmten Fall «Mephisto» aus dem Jahr 1968. Das vom Bundesverfassungsgericht überprüfte Urteil gilt für Juristen noch heute als Leitlinie. Die grundsätzlich vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit findet – so entschieden die Richter damals und so entspricht es seit jeher unangefochtener juristischer Doktrin – verfassungsimmanente Schranken, also Begrenzungen durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang. Sie kann beispielsweise durch das «allgemeine Persönlichkeitsrecht» desjenigen beschränkt werden, der sich in einer Romanfigur wiederzuerkennen glaubt und verunglimpft sieht.
 
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein aus der Verfassung abgeleitetes Grundrecht und damit prinzipiell gleichrangig mit dem Grundrecht auf freies künstlerisches Werken und Wirken. Es ist ein verhältnismäßig «junges» Recht und wurde von der Rechtsprechung erst auf dem Boden unseres Grundgesetzes, namentlich aus dessen grundlegenden Wertentscheidungen (Würde des Menschen, Artikel 1 Absatz 1, und allgemeine persönliche Handlungsfreiheit, Artikel 2 Absatz 1) als eigenes Grundrecht herausgebildet. Es umschreibt die Ausprägungen der Persönlichkeit eines Menschen in seinen Beziehungen zur Umwelt und enthält einen hierauf bezogenen Achtungsanspruch jedes Einzelnen.
 
Der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts ist unterteilbar. Er gliedert sich in drei Ebenen unterschiedlicher Schutzdichte, die sich wie konzentrische Kreise um den absolut geschützten Kern der Persönlichkeit legen, mit nach außen abnehmender Schutzwirksamkeit. Den innersten Kreis bildet die Intimsphäre, die vor allem das Sexualleben, aber auch die innere Gedanken- und Gefühlswelt samt ihren äußerlichen Erscheinungsformen (wie etwa Tagebuch-Aufzeichnungen) umfasst. Die Intimsphäre genießt als Kernbereich des Persönlichkeitsrechts absoluten verfassungsrechtlichen Schutz.
 
Um die Intimsphäre legt sich als weiterer Kreis die Privatsphäre, die den Bereich einer Person meint, der Außenstehenden gewöhnlich verschlossen bleibt und nur insoweit zugänglich ist, als der Einzelne selbst Einblick gewährt. In diesen Bereich fallen etwa Krankengeschichte und Familien-Auseinandersetzungen einer Person. Der freiwillig auf der Titelseite der Boulevardpresse ausgetragene Ehezwist eines prominenten Paars bedeutet vor diesem Hintergrund, dass sich die entzweiten Eheleute eines Teils ihrer verfassungsrechtlich grundsätzlich geschützten Rechtspositionen begeben. Der verfassungsrechtliche Schutz ist in dieser Sphäre also durchlässiger und nicht absolut.
Die Autobiografie – Sachbuch oder Belletristik? Den äußeren Kreis bildet die Individualsphäre. Sie betrifft die allgemeinen Beziehungen eines Menschen zu seiner Umwelt, also insbesondere sein öffentliches, wirtschaftliches und berufliches Wirken. Der Persönlichkeitsrechtsschutz erreicht hier seine geringste Schutzdichte. Geschützt sind grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht und die persönliche Eigenart eines Menschen. Beeinträchtigungen der Individualsphäre sind vom Einzelnen in weit größerem Ausmaß hinzunehmen als Beeinträchtigungen der Privatsphäre.
 
Wenn das Persönlichkeitsrecht mit anderen Verfassungsgütern kollidiert, etwa der Kunstfreiheit, und wenn es eine solche Kollision erforderlich macht, die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen, dann beginnt diese Unterteilung in verschiedene Persönlichkeitssphären eine Rolle zu spielen: Ein Eingriff in die Individualsphäre wiegt weniger schwer als ein Eingriff in die Privatsphäre. Erst wenn eine umfassende Güter- und Interessenabwägung unter Würdigung aller Umstände im konkreten Einzelfall ergibt, dass der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht als unbefugt zu bewerten ist, kann der Verletzte sich dagegen wehren – mit Hilfe eines Unterlassungs- bzw. Ersatzanspruchs.
 
Angesichts der allgemeinen Tendenz, auch intimste Details realer Beziehungen in autobiografisch gefärbten literarischen Werken zu verarbeiten – man denke an die mit gerichtlichen Veröffentlichungsverboten belegten Romane «Esra» von Maxim Biller und «Meere» von Alban Nikolai Herbst –, liegt das Konfliktpotenzial auf der Hand: Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht kollidieren.
 
Problematisch sind nicht Biografien oder Dokumentationen: Solche Textsorten sind der Wahrheit verpflichtet und müssen sich, wollen sie Persönlichkeitsrechts-verletzungen vermeiden, an den Tatsachen messen lassen. In diese Kategorie des «Sach»-Buchs fällt beispielsweise das mit zahlreichen Einstweiligen Verfügungen des Hamburger Landgerichts belegte Buch «Hinter den Kulissen» von Dieter Bohlen, das in seiner ursprünglichen Fassung nicht glaubhaft gemachte «ehrenrührige Tatsachenbehauptungen» enthielt. Hierzu zählt ferner die Biografie über Herbert Grönemeyer, gegen die der Musiker allerdings nicht aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen vorgegangen ist, sondern wegen der Verletzung seines Urheberrechts an eigenen Wortbeiträgen, die aus früheren Interviews stammten und in der Biografie nun ohne Erlaubnis zitiert wurden. 
 
Der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht entsteht nicht durch solche dokumentarischen Werke, sondern durch das literarische Kunstwerk. Hier sind die Übergänge zwischen Fiktion und Realität meist fließend. Selbst die Gerichte sind sich nicht einig darüber, wo die Fiktion beginnt und wo sie endet.
So urteilte die siebte Kammer des Landgerichts München I kürzlich (es ging um die vergütungsrechtliche Kategorisierung bei der Verwertungsgesellschaft Wort), die Autobiografie sei als Sachbuch einzuordnen, während die neunte Kammer desselben Gerichts, die den Fall «Esra» zu verhandeln hatte, Maxim Billers stark autobiografischen Roman als Literaturwerk und nicht als Sachbuch betrachtete. 
 
In letzter Zeit häufen sich gerichtliche Fälle unheilvoller Vermischungen von Fiktion und Realität, die zunehmend mit einem Verbot des Literaturwerkes enden. Nicht vor Gericht behandelt, dafür aber breit in den Medien diskutiert wurde Martin Walsers Roman «Tod eines Kritikers». Der Kriminalroman «Wilsberg und der tote Professor» von Jürgen Kehrer beschäftigte wiederum die Justiz. Es liegt also plötzlich reichhaltiges Anschauungsmaterial zur juristischen Abgrenzungsproblematik vor. Ohne einen Rückblick auf das eingangs erwähnte «Mephisto»-Urteil aber ist die heutige Rechtsprechung kaum verständlich.
 
Der Fall Höfgen/Gründgens als Modell Klaus Mann schrieb «Mephisto. Roman einer Karriere» 1936 im Amsterdamer Exil, wo das Werk im selben Jahr vom Querido-Verlag in deutscher Sprache herausgebracht wurde. Zwei Jahrzehnte dauerte es, bis Manns Roman im Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschien. Zu einer Veröffentlichung in der damaligen Bundesrepublik, wie 1963 von der Nymphenburger Verlagshandlung angekündigt, kam es jedoch zunächst nicht. 
 
Verantwortlich dafür war ein acht Jahre währender juristischer Streit, der vor sämtlichen zivilrechtlichen Instanzen bis zum Bundesgerichtshof ausgetragen und schließlich auch vom Bundesverfassungsgericht behandelt wurde. Interessierte westdeutsche Leser hatten sich damit abzufinden, dass «Mephisto» nur auf dem Schwarzmarkt über die DDR oder die Schweiz, zuletzt auch als französischer Raubdruck erhältlich war, bis der von der Rechtskraft der Zivilurteile nicht erfasste Rowohlt Taschenbuchverlag im Januar 1981 den umkämpften Roman als rororo-Paperback auf den bundesdeutschen Buchmarkt bringen konnte.
 
Stein des Anstoßes im Fall «Mephisto» war die Hauptfigur des Romans, ein Schauspieler mit Namen Hendrik Höfgen. Dieser wurde schonungslos vorgeführt – als ehrgeiziger Opportunist mit perversen sexuellen Neigungen und als rücksichtsloser Mitläufer der nationalsozialistischen Machthaber. Als seine Karriere gefährdet erscheint, liefert dieser Höfgen seine ständige Bettgefährtin an die Gestapo aus.
 
Nach der beschriebenen Physiognomie, als berühmter Darsteller des Mephisto in Goethes «Faust» und angesichts einer Theaterkarriere bis hin zum Generalintendanten der Preußischen Staatstheater war die Romanfigur Hendrik Höfgen ersichtlich an die reale Person des Schauspielers und Intendanten Gustaf Gründgens angelehnt. Die Figur war zwar nach dem Vorbild von Gründgens entworfen, die wesentlichen negativen Charakterzüge und Handlungen aber wurden ihr im Roman unstreitig angedichtet.
Peter Gorski, der Adoptivsohn und Alleinerbe des damals eben verstorbenen Gustaf Gründgens, versuchte das Erscheinen des Romans auf dem Klageweg zu verhindern. Zunächst erfolglos: 10.000 Exemplare konnten gedruckt werden – allerdings nur mit einem per Einstweiliger Verfügung erstrittenen Vorwort. Aus der Berufungsinstanz im Hauptsacheverfahren ging Gründgens’ streitbarer Adoptivsohn jedoch siegreich hervor. Mit Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom Juni 1966 wurde das Buch als «Schmähschrift in Romanform», so die Wortwahl der Berufungsrichter, verboten. Knapp zwei Jahre später bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil.
 
So konnte Peter Gorski mit seiner Ansicht letztlich durchdringen, «Mephisto» sei kein Kunstwerk, sondern ein Schlüsselroman, mit dem Klaus Mann sich an Gründgens rächen wolle. Die besondere Brisanz erhielt der Fall, der damals großes Aufsehen erregte, nämlich durch die anfangs freundschaftlichen und sogar verwandtschaftlichen Bande zwischen Gustaf Gründgens und dem aus politischer Überzeugung emigrierten Klaus Mann, dessen Schwester Erika kurzzeitig mit Gründgens verheiratet war.
 
Das «Mephisto»-Urteil hat in vielerlei Hinsicht Leitbildfunktion. Richtungsweisend war der Richterspruch insbesondere für die Entwicklung des «postmortalen Persönlichkeitsschutzes». Das Persönlichkeitsrecht an sich geht wegen seines höchstpersönlichen Charakters zwar mit dem Tod (in Ermangelung eines Rechtsträgers) unter, doch besteht in gewissem Umfang ein über den Tod hinaus dauernder Achtungsanspruch fort. Für das Urheber-Persönlichkeitsrecht war dies bereits anerkannt. Neu war, dass diese Rechtsprechung nun auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ausgedehnt wurde. Nach Auffassung der Bundesrichter kann der Persönlichkeitsschutz insbesondere in Form von Unterlassungsansprüchen durch Angehörige wahrgenommen werden. Der postmortale Persönlichkeitsschutz ist naturgemäß zeitlich begrenzt und wird mit der Erinnerung an den Verstorbenen – abhängig von dessen Bekanntheitsgrad zu Lebzeiten – nach einigen Jahren verblassen.
 
Wie man ein Urbild zum Abbild verfremdet Der Richterspruch, bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht, setzte Maßstäbe, die bis heute wirksam sind, nicht nur, weil er erstmals einen postmortalen Persönlichkeitsschutz anerkannte, sondern auch dadurch, dass er den weiten Schutzbereich der Kunstfreiheit abgrenzte. In ihren Entscheidungsgründen stellten die Richter des Bundesgerichtshofes darauf ab, dass Gründgens in der Hauptfigur des Höfgen deutlich zu erkennen sei. Es werde ein grundsätzlich negativ verzerrtes, verunglimpfendes Charakter- und Lebensbild der realen Person Gründgens vermittelt, bei dem der Leser zwischen Wahrheit und Erdichtetem nicht unterscheiden könne. Eine solche wahrheitswidrige Darstellung sei weder durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gerechtfertigt noch durch das (speziellere) Grundrecht der Kunstfreiheit.
Die Freiheit der Kunst sei zwar ein außerordentlich umfassendes Grundrecht, das den gesamten künstlerischen Werk- und Wirkbereich schütze. Der Künstler dürfe also grundsätzlich an reale Geschehnisse und persönliche Erfahrungen anknüpfen. Die Kunstfreiheit werde aber durch das verfassungsrechtlich verankerte Persönlichkeitsrecht begrenzt. Wenn Impulse aus der realen Umwelt schöpferisch verarbeitet werden, bleibt demnach nur bei ausreichender Verfremdung ein weiter Schaffensspielraum. Erhebe die romanhafte Darstellung einer Person der Zeitgeschichte nicht den Anspruch, historische Begebenheiten wirklichkeitsgetreu widerzuspiegeln, so dürfe der Autor die Figur auch «ergänzend charakterisieren». Nach der Güterabwägung, welche die Bundesrichter im konkreten Fall vornahmen, ist die Grenze der Kunstfreiheit aber überschritten, «wenn das Lebensbild einer bestimmten Person, die derart deutlich erkennbar als Vorbild gedient hat (wie im Fall ‹Mephisto›), durch frei erfundene Zutaten grundlegend negativ entstellt wird, ohne dass dies als satirische oder sonstige Übertreibung erkennbar ist». Der Autor, der ein reales Vorbild verwende, müsse daher die reale Person unkenntlich machen, es sei denn – so das widersprüchliche Ergebnis – , es handle sich bei der Beschreibung um die Wahrheit.
 
Die Verfassungsbeschwerde des vom «Mephisto»-Verbot betroffenen Verlags blieb erfolglos und wurde im Jahr 1971 um Haaresbreite, nämlich mit Stimmengleichheit, zurückgewiesen. In ihrer Begründung nahmen die Richter des Bundesverfassungsgerichtes ausführlich Stellung zu Inhalt und Grenzen der Kunstfreiheit, die für das erzählende Kunstwerk insbesondere die freie Themenwahl und -gestaltung umfasse. Für die Güterabwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht fand das Gericht eine Formulierung, die seither als Faustregel gilt: Zu fragen sei, «ob und inwieweit das ‹Abbild› gegenüber dem ‹Urbild› durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‹Figur› objektiviert ist». Werde ein «Portrait» des «Urbildes» gezeichnet, komme es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung oder die Bedeutung der «Verfälschung» für den Ruf des Betroffenen oder sein Andenken an. Gemessen an diesen Maßgaben seien die angefochtenen Zivilurteile nicht zu beanstanden.
 
Das «Mephisto»-Urteil, ein Fehlurteil? Die Richter Erwin Stein und Wiltraut Rupp-von Brünneck legten Sondervoten ein, die nachdenklich stimmen. Stein wirft den Zivilrichtern im Fall «Mephisto» eine einseitig an der realen Welt orientierte Betrachtungsweise vor, die allenfalls für eine wahrheitsgetreue Dokumentation oder Biografie angemessen sein könne, die ästhetische Realität eines literarischen Werkes aber vollkommen außer Acht lasse. Das künstlerische Werk, das auf die wesenhafte, anschauliche Gestaltung durch die Einbildungskraft des Autors abziele, dürfe nur an einem kunstspezifischen Maßstab gemessen werden. Der Schriftsteller strebe eine «wirklichere Wirklichkeit» an, in der Faktisches und Fiktives unauflöslich miteinander verbunden seien. Freiheit der Kunst bedeute, dass der Autor an Persönlichkeitsdaten der Wirklichkeit, insbesondere von Personen der Zeitgeschichte, anknüpfen dürfe. Denn Aufgabe der Kunst sei es gerade, zeitgenössische Konflikte bewusst zu machen. Beim Roman «Mephisto» handle es sich daher nicht um ein «Portrait» des Schauspielers Gründgens, sondern um die Darstellung des von der Person Gründgens verselbständigten Typus oder Phänomens des geistigen Mitläufers.
Ähnlich argumentiert Rupp-von Brünneck, die den angefochtenen Urteilen vorhält, ein «Kunstwerk in der Form eines Romans mit der Elle der Realität» gemessen zu haben, so als ob es sich um eine gewöhnliche kritische Äußerung in einem Zeitungsartikel handle. 
 
Ferner zeigt sie, wie widersprüchlich das Ergebnis des Bundesgerichtshofes ist: Dem Autor werde einerseits vorgeworfen, er habe zu wenig «verfremdet» (also seinen Romanhelden Gründgens zu ähnlich und wirklichkeitsgetreu nachgebildet); andererseits, er habe zu stark «verfremdet», nämlich seine Figur mit erdichteten negativen Verhaltensweisen und Charakterzügen ausgestattet, die dem Lebensbild Gründgens’ nicht entsprächen. Diese Betrachtungsweise sei mit dem Wesen des Kunstwerks nicht vereinbar, es bestehe vielmehr die Gefahr, dass künstlerische und rechtliche Bewertung vermischt würden. Auf dem Boden des Grundgesetzes sei zudem vom mündigen Bürger auszugehen, der fähig ist, ein literarisches Kunstwerk von einer gewöhnlichen Meinungsäußerung zu unterscheiden.
 
Der abweichenden Meinung der beiden Verfassungsrichter muss man unumwunden beipflichten – gerade wenn man sich vor Augen hält, dass autobiografische Verflechtungen fast als Charakteristikum moderner Literatur verstanden werden können. Die ästhetische Realität eines Kunstwerks muss an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab bewertet werden, unabhängig von einer Überprüfung an Fakten. Die Rechtsprechung hat dies mittlerweile allgemein für die Kunstfreiheit herausgearbeitet.
 
Man wird das «Mephisto»-Urteil daher heute in der Tat als ein Fehlurteil bezeichnen müssen: Es wird der Eigengesetzlichkeit eines literarischen Kunstwerks nicht gerecht und ist auch angesichts seines dialektischen Ergebnisses nicht haltbar, weil es dem Autor zugleich zu große Nähe zur realen Person und zu starke Entfernung von dieser vorwirft. Setzt man kunstspezifische Maßstäbe an, so ist die von Klaus Mann gezeichnete Figur gegenüber der realen Person Gründgens verselbständigt. Entscheidend für den Fall «Mephisto» ist letztlich, dass es sich bei Gründgens zum damaligen Zeitpunkt um eine Person der Zeitgeschichte handelte, die in der Öffentlichkeit stand. Eine literarische Auseinandersetzung mit seiner Person musste er sich gefallen lassen.
 
Was Maxim Biller von Klaus Mann unterscheidet Zwischen dem Fall «Mephisto» und dem aktuellen Fall «Esra», der dem Oberlandesgericht München zur Berufungsentscheidung vorliegt, bestehen Parallelen, aber auch Unterschiede. In dem Streit geht es darum, dass Maxim Billers Roman erkennbar autobiografische Züge trägt. Der Autor macht keinen Hehl daraus, sich an die Realität angelehnt zu haben (weshalb eine Qualifizierung als Schlüsselroman von vornherein ausscheidet). Explizit erklärt er, reale Geschehnisse und Personen verarbeitet zu haben. Und dementsprechend sind durch zahlreiche Hinweise im Roman zwei Figuren als reale Personen, nämlich eine junge Frau, zu der der Autor in der Vergangenheit eine Liebesbeziehung unterhielt, und deren Mutter deutlich wiederzuerkennen.
Das Landgericht München I untersagte die Veröffentlichung des Romans. Es wandte die Formel aus dem «Mephisto»-Urteil an und wertete die Tatsache, dass Einzelheiten aus dem Sexualleben der jungen Frau und die Erkrankung eines engen Familienmitglieds ausführlich beschrieben worden waren, als schwer wiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Zu Recht. Schon wegen des Eingriffs in die absolut geschützte Intimsphäre scheint die Entscheidung des erst-instanzlichen Gerichts richtig. Zudem geht es im Fall «Esra», anders als bei «Mephisto», nicht um eine Person der Zeitgeschichte, sondern um eine Privatperson, die erst durch die mediale Präsenz des als Ich-Erzähler auftretenden Autors in die Öffentlichkeit gestellt wird. Der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts ist hier enger zu ziehen. Dass Details aus dem Sexualleben einer Privatperson und zum Gesundheitszustand eines nahen Angehörigen verbreitet werden, ist absolut inakzeptabel und muss von der betroffenen Person nicht hingenommen werden. Das Verbot durch das Münchner Landgericht ist daher zu begrüßen. Zu hoffen bleibt, dass das Urteil vom Oberlandesgericht bestätigt wird.
 
Es fällt auf, dass in der heutigen Diskussion und Rechtsprechung dem Persönlichkeitsrecht desjenigen, der sich in einer Romanfigur wiedererkennt, oft Vorrang vor der Kunstfreiheit des Autors eingeräumt wird – wie im Fall «Esra» und bei dem durch das Berliner Landgericht verbotenen Roman «Meere» von Alban Nikolai Herbst. Doch nur scheinbar findet hier eine Entwicklung hin zu einer stärkeren Betonung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber der Kunstfreiheit statt.
 
Denn zum einen ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht entwicklungsgeschichtlich ein jüngeres Recht, das in den letzten Jahrzehnten durch die Gerichte erst herausgearbeitet werden musste. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, ihm werde größere Bedeutung zugebilligt. Es gibt aber auch Urteile neueren Datums, die unter Anwendung der «Mephisto»-Formel gerade zum gegenteiligen Ergebnis kommen und in der konkreten Güterabwägung der Kunstfreiheit Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einräumen – etwa das Urteil des Landgerichts Münster zu Jürgen Kehrers Kriminalroman «Wilsberg und der tote Professor» vom Januar vergangenen Jahres. In diesem Fall verneinte das Landgericht zwar, dass in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen worden sei, da der Kläger in der – nach Auffassung der Richter – «verselbständigten», fiktiven Romanfigur des Professor Kaiser nicht wiederzuerkennen sei. Das Gericht betonte aber, rückgreifend auf die abweichenden Voten der Verfassungsrichter Stein und Rupp-von Brünneck, dass auch dann, wenn ein solcher Eingriff in das Persönlichkeitsrecht unterstellt werden könne, dieser durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt sei. Also auch diese neue Tendenz zeichnet sich ab: die Betonung einer besonderen Bedeutung der Kunstfreiheit.

Zum anderen hat sich die Schutzrichtung des Persönlichkeitsrechts verschoben. Es geht nicht mehr allein darum, staatliche Eingriffe abzuwehren. Angesichts immer hemmungsloserer Medien, zusammen mit der zunehmenden «Outing»-Freudigkeit vieler Privatpersonen, rückt der Schutz des Individuums gegenüber anderen Privatpersonen verstärkt ins Blickfeld. Daher ist es richtig, wenn der persönlichkeitsrechtliche Schutz von Menschen, die gegen ihren Willen in die Öffentlichkeit gebracht werden, ausgebaut wird. Das gerichtliche Verbreitungsverbot für einen Roman, der das Persönlichkeitsrecht einer Privatperson verletzt, bedeutet dabei keineswegs – wie manchmal polemisch behauptet wird – einen «Übergriff der Justiz auf die Literatur». Denn es verhält sich gerade umgekehrt: Der Freiheit der Kunst wird nur dann zur Geltung verholfen, wenn ihre Grenzen mit Hilfe des Rechts ausgestaltet und verteidigt werden. Dass sich die Justiz in künstlerische Bereiche einmischt, die einer rechtlichen Bewertung nicht zugänglich sind, ist nicht zu fürchten, solange jener kunstspezifische, ästhetische Maßstab gilt, den die «abweichenden» Richter im Fall «Mephisto» für das literarische Kunstwerk schon vor dreißig Jahren forderten. Die Kunst bleibt in ihren Gegenständen und Gestaltungsformen frei.


Eva Inés Obergfell ist Juristin und seit Februar 2004 Assistentin am Lehrstuhl für Wirtschaftsrecht und Recht des Geistigen Eigentums an der TU München. Zuvor hat sie in Berlin als Anwältin gearbeitet, hauptsächlich im Bereich des Urheber-, Medien- und Presserechts

Erwähnte Bücher
Klaus Mann Mephisto.  Roman einer Karriere Rowohlt TB, Reinbek 2004.  414 S., 6 €
 
Maxim Biller Esra. Roman Kiepenheuer & Witsch,  Köln 2003. 192 S., 18,90 € (z.Z. verboten)
 
Alban Nikolai Herbst Meere. Roman Marebuchverlag, Hamburg 2003. 261 S., 22 € (z.Z. verboten)

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