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Martin Brinkmann - Der Kopf hinter der frechsten deutschen Literaturzeitschrift

Er bezeichnet sich als „general-oppositionell gesinnt“, hat aber die Lizenz zum Wehtun: Seit 20 Jahren gibt Martin Brinkmann die Literaturzeitschrift „Krachkultur“ heraus

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Drei Personen, mindestens, wohnen in Martin Brinkmann: Herausgeber der Zeitschrift Krachkultur ist er seit 20 Jahren, Schriftsteller wurde er, und nun ging er auch unter die Literaturagenten, in München, unweit jener pittoresken Straßenzüge, wo einst der Pumuckl seine Späße trieb, Meister Eder tischlerte und mit putzigem Lokalkolorit ein Kinderbuchklassiker verfilmt wurde. Hier ist München die glatte Antithese zu allem, was das Leben und Schreiben des Martin Brinkmann bestimmt.
 
„Wie“, fragt Brinkmann, der mit seinen 36 Jahren einen zornigen jungen Mann abgibt, „wie“, fragt er in seinem Büro in einer Mansarde unweit des Wiener Platzes, „wie kommt es denn, dass immer mehr Menschen psychologische Betreuung brauchen, obwohl sie tagein, tagaus Ratgeber lesen, die ihnen das schöne Leben beibringen sollen?“ Die Antwort hat der schlaksige Mann mit den dünnen Haaren und dem norddeutsch trommelnden Zungenschlag parat: Weil die Menschen abgespeist werden mit Künstlichkeit. Weil ihnen der „Kontakt mit der Weltliteratur“ fehlt. Weil die Bücher, die sie lesen, „nicht wehtun, keine Erkenntnisse eintreiben, sondern nur den Kopf streicheln und die Sinne ablenken“.
 
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Nach solchen Sätzen, die auch nach freundlichst dargebotenem Erdbeerkuchen eine klirrende Weile in der Luft stehen bleiben, klingt es wie eine Gegenwartsbeschreibung, wenn Brinkmann sich und Ko-Herausgeber Fabian Reimann rückblickend als „general-oppositionell gesinnt“ bezeichnet. Auf dem Gymnasium von Bad Bederkesa saßen die beiden Schüler, lasen Horrorbücher und wollten ihrer Sehnsucht nach der „neuen Sicht auf die Dinge“ ein Gefäß geben. Die Krachkultur war geboren. Es gibt sie noch, im Gegensatz zu den meisten Literaturzeitschriften der neunziger Jahre. Die Jubiläumsausgabe, Nummer 15, ist ein kraftstrotzender Lebensbeweis der neuen Sicht, Literatur ohne Schminke.
 
Geändert hat sich gleichwohl viel. Dem Faible für das Horrorgenre schwor Brinkmann ab. Auch ist keine „Avantgarde um jeden Preis“ das Ziel, wohl aber ein „unkonventioneller, ein noch nicht etablierter oder schon wieder nicht mehr etablierter Zugriff auf die wesentlichen Themen“. Diesem Anspruch kann ebenso der verstorbene Ostberliner Underground-Poet Matthias Baader Holst genügen („ich bin am ende doch das hat nichts zu heißen / wer zu lang lebt verliert sich schnell“) als auch Ernst Jünger, wie er auf dem Titelbild von Ausgabe 8 traulich seinen Sittich anblickt. Spätere Branchengrößen wie Karen Duve, Tanja Dückers, Saša Stanišić hatten in der Krachkultur frühe Auftritte. Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff steuerte eine Betrachtung über „Hoffnung“ bei.
 

 

Soll also ein neuer Kanon entstehen, ein Gegengift gegen das „Wellness-Paradies deutscher Buchmarkt“? Brinkmann lächelt: Ja, über die Jahre sei man tatsächlich zu Bewahrern geworden. Die Krachkultur will auch Gedächtnis sein. Darum gelang es Brinkmann bereits 2004, Richard Yates dem Publikum näherzubringen – ehe 2008 die Verfilmung von „Zeiten des Aufruhrs“ mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet für eine globale Renaissance sorgte.
 
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Heimito von Doderer dürfte es schwerer haben. Brinkmann holt aus dem Nebenzimmer seine Dissertation. Sie ist 700 Seiten stark, kostete ihn fünf Lebensjahre und handelt von Musik und Melancholie. Die Recherchen im Nachlass sorgten für eine komplett ausverkaufte Ausgabe der Krachkultur. Brinkmann konnte die Erzählung „Chronique scandaleuse oder René und die dicken Damen“ erstveröffentlichen. War Doderer nicht Formenbewahrer, während Krachkultur eine Lust am Formenzertrümmern hat? Da täuscht sich der Gast: „Eigentlich“, sagt Brinkmann, „war Doderer ein Postmodernist. Er schrieb das beste Deutsch des 20. Jahrhunderts. Was er der Literatur abverlangte, gilt noch heute.“ Das sprechende Zitat folgt: Literatur, so Doderer, müsse „eine gewisse Krudität des Griffes ins innere Geweid“ wagen. Also das Wesentliche ganz unlieblich sagen.
 
Für Brinkmanns eigene Dichtung steht die Probe aus. Er schaut auf das Buch auf dem Küchentisch, den Roman von 2001, „Heute gehen alle spazieren“, fixiert die Kirchturmspitze von St. Johannes, draußen, oberhalb des Wiener Platzes, blickt in die Stube: „Ich dachte damals, ich hätte es geschafft. Dann aber ruhte ich mich auf den Lorbeeren aus.“ Erzählungen schreibt er regelmäßig, jüngst für Lettre International. Der Roman war die für ein Debut „typische autoanalytische Bearbeitung der eigenen Biografie“. Zwischen Zivildienst und Studium bemitleidet sich ein junger Mann in Norddeutschland: „Was soll nur aus mir werden?“ Witz und Selbstironie machen das schmale Buch zur feinen Sommerlektüre. Auch der Tod von Brinkmanns Vater, der zur See fuhr, verfängt sich dort im Gitter der Lakonie: „Die Frau, die meinen Vater anscheinend gekannt hat, wünscht mir nicht mal herzliches Beileid.“
 
In der neuen Krachkultur gehen Schriftstellerinnen der Frage nach, was die „Pornografisierung der Männergehirne“ mit den Frauen macht. Nicht die teils grellen Stimmen aber aus den USA sind die wahre Entdeckung, sondern die Skizze „Glatt“ des deutschen Autors Torsten Wohlleben ist es. Dieser schildert in einer musikalisch präzisen Sprache, die Doderer gefallen hätte, die unheilige Schönheitsbehandlung der reichen, schönen Viktoria. Grundiert wird „Glatt“ von jener lässigen Melancholie, die getrost die vierte Person genannt werden kann, die in Martin Brinkmann fröhlich Quartier genommen hat.

 

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