Kurz und Bündig - Koschorke, Lüdemann, Frank, de Mazza: Der fiktive Staat

Diese Geschichte hat sich noch nicht erledigt. Man schaue nur auf die Religionskriege der Gegenwart: Ein Staat nennt sich Demokratie, führt zur Selbstvergewisserung aber eine göttliche Sendung ins Feld, die seinen Soldaten den Kampf gegen die Gotteskrieger auf der anderen Seite zur grundlegenden Mission erklärt. So unterläuft die Realität noch un­serer Tage eine Binsenweis­heit der Aufklärung: dass näm­lich Staaten nicht vom Himmel gefallen sind, weder als Natur­ereignis noch als Gotteswerk.

Diese Geschichte hat sich noch nicht erledigt. Man schaue nur auf die Religionskriege der Gegenwart: Ein Staat nennt sich Demokratie, führt zur Selbstvergewisserung aber eine göttliche Sendung ins Feld, die seinen Soldaten den Kampf gegen die Gotteskrieger auf der anderen Seite zur grundlegenden Mission erklärt. So unterläuft die Realität noch un­serer Tage eine Binsenweis­heit der Aufklärung: dass näm­lich Staaten nicht vom Himmel gefallen sind, weder als Natur­ereignis noch als Gotteswerk. Allenfalls könnte man sagen, dass Staaten allmählich vom Himmel geholt wurden. «Der fiktive Staat» – eine aus Bei­trägen von Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza kompilierte Monografie über «Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas» – führt dafür Daten ins Feld: die profunde Darstellung strukturiert sich anhand von rechtsgeschichtlichen, philosophischen und literarischen Texten um die Jahreszahlen 1649, 1793 und 1837. Es ist eine Geschichte der nationalen Ernüchterung. Denn im selben Maße, wie dem Staat sakrale Weihen und transzendentale Legitimationen abgesprochen werden, erkennen auch die Staatsangehörigen in ihm bloß eine «zweckrationale Veranstaltung» – die sie wie eine Brandschutzversicherung «vor gewissen Risiken schützt, der man aber nie seine Liebe oder gar sein Leben opfern würde». 1649 und 1793 führen die Exekutionen von Königen – erst Karls I. von England, dann Ludwigs XVI. von Frankreich – vor Augen, dass der soziale Körper nunmehr nicht als Gottes-, sondern als Menschenwerk zu begreifen ist. Karl I. gelang es allerdings, seinem Volk auf dem Schafott als Märtyrer entgegenzutreten, seine eigene Hinrichtung als Passionsspiel zu inszenieren. So treiben die zwei Körper des Königs – der sterbliche, mit dem Tod verfallende Leib des Individuums und der unsterbliche, auf den Nachfolger übergehende Amtskörper – die Geschichte bis zur Französischen Revolution um. Bevor Ludwig XVI. 1793 seinen Kopf in die Guillotine legt, hat sich eine viel komplexere Maschinerie bereits in Gang gesetzt – mit parlamentarischen, juridischen, administrativen und polizeilichen Zahnrädchen, einzig zu dem Zweck, Ludwig vom Roi zum schlichten Citoyen umzuwidmen: auf dass kein König, sondern bloß ein gemeiner Bürger enthauptet werde. So raubt die Republik dem Ancien Régime den Körper und gibt sich selber einen. Ein Verfassungsstreit im Königreich Han­nover erklärt dann 1837 den Staat erstmals selbst zur juristischen Person. So wird die Konstruktion des politischen Körpers, wie wir ihn noch heute kennen, allmählich manifest – über die Zeit und über europäische Grenzen hinaus.

 

Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza
Der fiktive Staat. Konstruk­tio­nen des politischen Körpers in der Geschichte Europas
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2007. 414 S., 14,95 €

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