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Dirigenten-Nichtwahl - Das Problem der Berliner Philharmoniker: sie selbst

Die Berliner Philharmoniker haben perfekt gewählt: niemanden. Erst im nächsten Jahr wollen sie einen neuen Anlauf zur Berufung des Chefdirigenten wagen. Die Zeit sollte das Orchester für eine innere Erneuerung nutzen

Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Ein Ritual unter allen Umständen zu pflegen, ist verlockend. Auf jeden Fall weckt so etwas große Erwartungen. Und die Berliner Philharmoniker sind Meister dieser Rituale. Am Montag versammelten sie sich, um ihren neuen Chefdirigenten zu wählen. Der Nachfolger von Sir Simon Rattle soll in zwei Jahren sein Amt antreten. Erst in letzter Sekunde haben die Musiker allerdings den Ort der Wahlentscheidung bekannt geben wollen: die Jesus-Christus-Kirche in Dahlem.

[[{"fid":"65518","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":234,"width":345,"style":"margin: 3px 6px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Es ist ein symbolischer Ort. Einst von Wilhelm Furtwängler entdeckt und von Herbert von Karajans Klängen erfüllt. Dieses von Klassik-Weihrauch umwehte Haus schien den Musikern gerade recht, um ihre Eitelkeit als Musik-Papst-Macher zur Schau zu stellen. War der Ort bereits ein Hinweis auf ihre Entscheidung? Ein Zurück in die Zukunft, ein Aufbruch in die verklärte Vergangenheit? Die Geheimniskrämerei begründeten sie damit, den „Tagungsort schützen“ zu wollen – so, als gliche die Wahl des Chefdirigenten in Berlin einem G7-Gipfel oder den Chaostagen in Kreuzberg.

Fortsetzung erst im nächsten Jahr


Nach einigen Wartestunden begannen die ersten Klassik-Fans mit humorvollem Zynismus: Jemand fälschte einen Philharmoniker-Tweet und erklärte Kermit den Frosch als Nachfolger. Österreichische Journalisten spöttelten über die „Arrogant-Harmoniker“. Erst als die Nacht über Dahlem gezogen war, trat endlich Orchestervorstand Peter Riegelbauer vor die Presse. Er nannte keinen Namen und erklärte, dass man sich nächstes Jahr erneut zusammensetzen würde.

In Wirklichkeit waren nicht einmal ein Dutzend Kamerateams vor Ort, und die Jesus-Christus-Kirche war zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Denn das Ritual der vermeintlich weltweit einzigen demokratischen Dirigentenwahl ist im globalisierten Klassik-Geschäft höchstens noch eine hübsche Nostalgie-Veranstaltung. Nicht nur, weil die Berliner Philharmoniker in Kritiker-Rankings seit einigen Jahren gleichberechtigt neben anderen Ensembles um den Titel des besten Orchesters spielen. Nicht nur, weil Simon Rattle mit seinem Folge-Engagement in London Berlin als Durchgangsort definiert hat. Sondern auch, weil der Klassik-Markt schon lange nicht mehr auf die deutsche Hauptstadt schielt. Es war vorauszusehen, dass ein Kandidat, auf den sich die Berliner geeinigt hätten, nicht das Telefon abnehmen und in Freudentänzen ausbrechen würde.

Der Riege der gehandelten Spitzenkandidaten geht es derzeit nämlich auch ohne die Berliner Philharmoniker prächtig. Viele haben schon im Vorfeld müde abgewinkt: Daniel Barenboim, der sich zu seiner Staatskapelle in Berlin bekannte und mit dem West-Eastern Divan Orchestra Weltpolitik macht, Mariss Jansons, der fast schon provokant einige Tage vor der Wahl in Berlin seinen Vertrag in München verlängerte oder Andris Nelsons, der sich öffentlich zu Boston bekannt hat.

Die wichtigsten Kandidaten haben müde abgewinkt


Selbst ein Christian Thielemann, der vielen als gebürtiger Berliner und Vertreter des perfekten romantischen Klanges prädestiniert für diesen Job erschien, ist in Dresden nicht unzufrieden. Er hat längst die Leerstellen der Berliner beim ZDF-Silvesterkonzert oder in Salzburg gefüllt. Er freut sich auf seine Exkurse nach Wien, seine Gastdirigate in Berlin und sein Sommer-Engagement in Bayreuth. Warum sollte er all das sausen lassen und den Berlinern zusagen?

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Und überhaupt: Wie hat man sich so ein Telefonat nach der Wahl eigentlich vorgestellt? „Hallo, Herr Thielemann – wir haben Sie gerade gewählt, wollen Sie kommen?“ Für den Dirigenten wäre das natürlich schmeichelhaft. Aber die Zeiten von Karajan, Abbado und Rattle sind vorbei. Wir bewegen uns in einem postmodernen Klassik-Markt, der keine One-Man-Shows wie Karajan mehr kennt. Ein Dirigent, dem der Job in Berlin angeboten wird, müsste erst einmal viele Dinge abwägen: Unter welchen Bedingungen? Mit wie vielen Dirigaten? Mit welcher Freiheit? Und was passiert mit seinem Exklusiv-Vertrag für ein DVD-Label? Selbst Außenseiter-Kandidaten hätten nicht spontan zusagen können, etwa der Dirigent Paavo Järvi. Er hätte klären müssen, wie er aus seinen Verträgen bei der Kammerphilharmonie in Bremen, beim NHK in Japan und in Paris kommen würde. Schließlich wollen die Berliner ihre Chefs exklusiv. Abgesehen davon, ob er das überhaupt wollen würde, ob das lukrativ wäre und künstlerisch interessant. Denn gerade in der konzentrierten Vielfalt liegt doch derzeit für viele Dirigenten der Charme.

Zu all diesen Fragen ist es gestern nun nicht gekommen. Die Berliner Philharmoniker haben nämlich ein ganz anderes Problem: sich selbst. In der Ära Rattle haben sie einen Großteil ihrer Identität verloren. Nicht nur ihr Klang hat sich internationalisiert und damit dem weltweiten Mainstream von Boston über London bis Tokyo angepasst, sondern auch die Musiker des Ensembles, die einst stolz waren, die philharmonische Tradition, den erdenschweren Klang Furtwänglers, behutsam zu entwickeln, sind heute international aufgestellt. Schon unter Abbado, aber besonders unter Rattle hat die „deutsche Fraktion“ innerhalb des Orchesters Konkurrenz aus den USA, aus Venezuela und anderen Ländern bekommen. Während die Berliner ihrem Ritual der Dirigenten-Papstwahl treu bleiben, haben sie die rituelle Beschwörung ihres Klangideals weitgehend über Bord geworfen.

Anspruch auf Unverwechselbarkeit


Man kann sich leicht ausmalen, wie der Wahl-Marathon gestern abgelaufen ist: Christian Thielemann war Favorit der alten Musiker-Riege, besonders der Bläser. Die Streicher wollten ihn um jeden Preis verhindern (diese Verhältnisse werden sich nächstes Jahr mit dem Ausscheiden einiger alter Musiker verändern). Mariss Jansons hätte sicherlich als Kompromiss-Alternative getaugt. Mit ihm hätten die Berliner ein Alleinstellungsmerkmal gehabt, hätten sein Spätwerk verwirklichen und von Dubai bis New York abkassieren können. Aber der Mann wird diese Ehre nun den Münchnern geben. Also blieben die jüngeren Kandidaten. Aber würden die Berliner ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit gerecht werden, wenn sie einen Shooting-Star engagieren, der längst in Boston oder in Paris oder sonstwo agiert? Wären sie dann nicht auch nur eines der vielen Orchester, die um die gleichen Dirigenten buhlen? Abgesehen von der Frage, wie gut es wäre, nach der zähen Rattle-Zeit wieder einen Maestro zu berufen, mit dem der Weg nicht in eine lange, ungewisse Zeit führen würde?  

Irgendwann kursierten vor der Jesus-Christus-Kirche auch Gerüchte, dass sich die Philharmoniker eine Absage eingefangen hätten und deshalb neu denken müssten. Bestätigt ist das allerdings nicht. Aber es wird nicht lange dauern, bis Details durchsickern – auch damit wird das Image des Orchesters nicht steigen.

Am Ende haben die Berliner an diesem merkwürdigen Tag, an dem sie glaubten, die Weltpresse würde vor der Jesus-Christus-Kirche auf sie warten, vielleicht nicht ganz freiwillig, wohl etwas Wesentliches erkannt: Ihre Wahl eines neuen Chefdirigenten wäre eine Farce, wenn es nur darum gehen würde, irgendjemanden zu wählen.

Nicht irgendeinen x-beliebigen Superstar-Dirigenten wählen


Nun haben sie sich erst einmal vertagt. Gut so. Sie haben ein Jahr Zeit, um weitere Erkenntnisse zu sammeln. Derzeit sind die Berliner ein sehr gutes Orchester unter vielen guten Orchestern. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele gute Dirigenten, die nicht mehr auf einen Anruf von ihnen warten. Die Benennung eines Messias in Form eines Superstar-Dirigenten wird definitiv keine Erneuerung der Berliner Philharmoniker bringen – die muss im Orchester selbst anfangen. In kontroversen Debatten über den eigenen Klang, in der Aufarbeitung der letzten Jahre und in der Frage, wie ein modernes Orchester in Zukunft aufgestellt sein muss. Viele Ensembles wie Boston, Amsterdam oder London haben sich diesen Fragen bereits vor zehn Jahren gestellt und erst dann den passenden Dirigenten für ihre kollektiven Ideen gesucht.

Vielleicht ist es nötig, dass die Berliner in einem Jahr noch einmal neugierige Journalisten an irgendeinen geheimnisvollen Ort in Berlin bestellen, um dann unter dem Druck der Weltöffentlichkeit ihre Eitelkeit, einen neuen Meister zu wählen, fallenlassen und festzustellen, dass Orchester wie die Wiener Philharmoniker ganz gut damit fahren, ihre eigene Qualität ganz ohne Chef zu entwickeln. Stattdessen setzen sie auf vielfältige Inspiration von unterschiedlichen Gästen.

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