
- Christen müssen sich einmischen
Cicero kritisiert in seiner aktuellen Ausgabe die zunehmende Politisierung der Kirchen. Der evangelische Bischof Markus Dröge hält dagegen: Politische Stellungnahmen und tätige Nächstenliebe lägen im Wesen der Kirche
Die Aufforderung, dass die Kirche sich ums sogenannte Eigentliche kümmern, sich aber bitte nicht politisch oder zu gesellschaftlich aktuellen Fragen äußern solle, ist so alt wie die biblischen Texte selbst.
Christliche Grundhaltung
Schon im Alten Testament mahnen die Propheten Amos und Jesaja, den Gottesdienst nicht losgelöst von dem gesellschaftlichen Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden zu sehen. Die Witwen, die Waisen und „der Fremdling in deinen Toren“ standen unter besonderem Schutz. Im Neuen Testament nimmt Jesus diesen Impuls in seiner großen Rede vom Weltgericht auf und beschreibt, nach welchen Kriterien Gott das Engagement der Frommen messen wird und führt dann aus:
„Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Und im Bild des Gleichnisses, das Gott als König bezeichnet, fragen die Gerechten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,34-41)
Diese Grundhaltung zieht sich als cantus firmus durch das Alte wie das Neue Testament. Gottesliebe und die Zuwendung zum Nächsten sind untrennbar miteinander verbunden. Wie könnten Christen in einer Zeit, in der Menschen in Not sind, schweigen oder untätig bleiben, wenn die Bibel als Gründungsurkunde nicht nur eine schöne Erinnerung bleiben soll?
Hätte man dem Unrecht tatenlos zusehen
Selten höre ich Kritik daran, dass sich Dietrich Bonhoeffer und die Bekennende Kirche den Nationalsozialisten entgegengestellt haben. Auch kenne ich niemanden, der die katholische Kirche in Polen dafür kritisiert, dass sie in den 1980er Jahren viele Menschen ermutigt hat, gegen das staatliche Unrecht aufzubegehren.
Und wie groß ist der Stolz auf die Friedens- und Umweltgruppen der evangelischen Kirche, die 1989 vor allem in Leipzig und Berlin für Meinungs- und Pressefreiheit demonstriert haben, die mit dem Ruf „Keine Gewalt“ und den Fürbittgebeten den Weg zu einer keinesfalls selbstverständlichen friedlichen Revolution geebnet haben? Wie viele Pfarrerinnen und Pfarrer haben nach dem Fall der Mauer die Runden Tische moderiert und damit zu einem friedlichen Zusammenleben, zu einer Gesprächsatmosphäre von Opfern und Tätern beigetragen und die Demokratie in den Neuen Bundesländern gefördert? Hätte die evangelische Kirche zu dem staatlichen Unrecht schweigen, und der politischen Unterdrückung so vieler Menschen tatenlos zusehen sollen?
Heutige Herausforderungen
Und welche Themen sind es heute? Natürlich bleibt es auch für die nächsten Jahre das große Thema, wie wir zu einem gerechten Leben weit über die Grenzen von Westeuropa hinaus kommen können, so dass auch in Afrika und Südamerika gesungen werden kann, „Lobet den Herren, der alles so herrlich regieret“.
Die Kritik an dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche wird dann besonders deutlich, wenn sie sich mit der politischen Haltung der Kritiker nicht deckt. So nehme ich auch die in der Titelgeschichte des Cicero geäußerten Vorbehalte wahr: Flüchtlingshilfe, Umweltschutz, Gleichberechtigung, Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Auch bei Fragen der heutigen medizinischen Entwicklungen wie der Präimplantationsdiagnostik oder der Gentechnik kann die Kirche nicht schweigen, da hier Grundfragen des christlichen Menschenbildes berührt werden: die unteilbare Würde jedes Menschen als Geschöpf Gottes.
An die Verantwortung von „Regierenden und Regierten“ erinnern
Dass neben der tätigen Nächstenliebe auch die Spiritualität eine Grundsäule des christlichen Glaubens ist, ist hingegen ganz unstrittig. Und lange, zu lange hat die evangelische Kirche den Reichtum unterschätzt, den Psalmen und Liedern, Klöster und Kontemplation ausstrahlen. Viele Beispiele gibt es inzwischen dafür, die Spiritualitätsangebote deutlich auszubauen.
So wie der Cicero ein Magazin der politischen Kultur und der Debatte sein will, so nötig ist der Dialog auch in der Kirche. Es wird auch weiterhin den Diskurs brauchen, wie sich das Vertrauen auf Gottes Gnade, die Stärkung von Spiritualität und die tätige Nächstenliebe miteinander verbinden. Eines allerdings steht für die Evangelische Kirche nicht zur Disposition: Jeder Amtsträger, jede Amtsträgerin ist an das Ordinationsgelübde gebunden, in dem er oder sie gelobt hat, die Bekenntnisgrundlagen der Kirche zu achten. Dazu gehört die Barmer Theologische Erklärung des Jahres 1934. Sie legt fest, dass es zur Aufgabe der Kirche gehört, an „Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ zu erinnern und damit an die Verantwortung von „Regierenden und Regierten“. Fazit: Es gehört zum Wesen der Kirche, sich mit politischen Stellungnahmen öffentlich zu Wort zu melden.
Dieser Text ist eine Replik auf die Titelgeschichte der Cicero-Septemberausgabe, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.