- Kein Anfang ohne Zaudern
Kathrin Passig und Sascha Lobo wissen, wie sie «Dinge geregelt kriegen», ohne sich zu disziplinieren
Falls sich in der Küche das Geschirr stapelt; falls Sie seit ein paar Wochen Ihre Post nicht mehr geöffnet haben, weil das Lesen der Briefe möglicherweise unangenehme Behördengänge nach sich ziehen könnte; falls Sie Ihre Arbeit immer erst im allerletzten Moment und nur unter größtem äußeren Druck erledigen – dann gehören Sie eindeutig zur Zielgruppe von Kathrin Passigs und Sascha Lobos Buch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin». Die beiden Autoren haben es aus Notwehr geschrieben, wie sie freimütig bekennen, und es fußt auf einer für den eigenen Seelenhaushalt sehr beruhigenden Erkenntnis: «Nicht ich bin unzulänglich, die Welt ist ungünstig eingerichtet und falsch gewartet.» Obwohl die Menschheitsgeschichte und der Fortschritt grundsätzlich auf protestantischem Leistungsethos beruhen, zieht das unscheinbare Individuum in vielen Fällen eben doch einfache Bedürfnisbefriedigungen vor: Lieber jetzt in der Sonne liegen und Eis essen, als später für eine mühevolle Arbeit belohnt werden.
Es gibt einen Begriff für dieses Verhalten: «Prokrastination». Prokrastinierer oder LOBOs (das heißt: Lifestyle of Bad Organisation, ein Akronym, das nicht umsonst auf einen der beiden Autoren verweist) sind Menschen, die dringend notwendige Arbeiten aufschieben, zu diesem Zweck alle möglichen Ablenkungsmanöver entwickeln und dafür auch unliebsame Folgen in Kauf nehmen. So neu die Begriffe, so alt das Phänomen: Von Rossini ist überliefert, dass seine Eingebung nichts mehr anregte «als die Notwendigkeit». Das Vorspiel zur «Diebischen Elster» entstand am Tag der Uraufführung – und auch nur deshalb, weil der Direktor der «Scala» den Komponisten zuvor mit Notenpapier in eine Kammer eingesperrt hatte. Es scheint also ein Zusammenhang zwischen Prokrastination und Kreativität zu bestehen, womöglich ist das eine sogar Voraussetzung fürs andere: Erst wenn man nervös der dritten Deadline entgegenschreitet, wird genug Adrenalin freigesetzt, eine Arbeit auch zu Ende zu führen. Diese Rezension hier etwa verdankt sich der Tatsache, dass es einen Redaktionsschluss gab und die Miete bezahlt werden muss.
Wollen uns die meisten Ratgeber erklären, wie man mit ein bisschen Selbstüberwindung, psychologischen Taschenspielertricks oder Autosuggestions-Motivationstraining dem neoliberalen Alltag begegnen kann, so geht es dem Autoren-Duo Passig/Lobo primär darum, uns vom schlechten Gewissen zu befreien. Und das kann man den beiden nicht hoch genug anrechnen. Den Herausforderungen des Berufs- und sonstigen Lebens ist nämlich meist gar nicht anders als ausweichend zu begegnen, sagen sie. «Es mag manchmal nötig sein, Dinge zu tun, die einem nicht gefallen, aber erstens ist das noch unbewiesen, und zweitens lebt man glücklicher, wenn man den Anteil dieser Tätigkeiten so gering wie möglich hält. Kurzum, wir wollen das Leben so organisieren, dass man das Leben nicht mehr organisieren muss. Das realistische Mindestziel ist, dass Sie dieses Buch lesen, in Ihrem Leben nichts ändern, sich damit aber besser fühlen als vorher.»
Ratgeber und Ratgeber-Parodie
Passig und Lobo geizen nicht mit Anschauungsmaterial aus dem eigenen, schier aussichtslosen Kampf mit der Selbstdisziplin und dem Prokrastinationsalltag von Freunden. Aber auch mit wissenschaftlichen Studien werden die verschiedensten Facetten des heiklen Themas sichtbar gemacht. So changiert der Text zwischen Sachbuch und Ratgeber – und ist doch zugleich eine gelungene Parodie auf Sach- und Ratgeberliteratur.
Manche Sätze möchte man sich he-rausschreiben und als Tageslosung über den Computer hängen: «Der Zwang ist gewissermaßen der dunkle Zwilling des Lustprinzips» zum Beispiel. Oder auch: «Der fade Pfad ist falsch.» Und die Sentenz «Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne» fasst den so instruktiven wie gewundenen Essay des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl «Über das Zaudern» kurz und bündig zusammen.
Nicht das Mindeste, was man zu guter Letzt über dieses Werk souveräner Selbsthilfe sagen kann: Trostreich ist die schiere Existenz von «Dinge geregelt kriegen». Das Buch beweist nämlich, man kann selbst als LOBO reüssieren.
Kathrin Passig, Sascha Lobo
Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Rowohlt Berlin, Berlin 2008. 272 S. 19,90 €
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