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(picture alliance) Neue Literatur startet immer mit dem Aneinandersetzen von Buchstaben

Das Schwarze sind die Buchstaben - Kanzler, Gott und armer Tropf

Macho-Eitelkeit kann kulturellen Mehrwert haben, egal ob sie von ganz oben oder unten kommt. Über männliche Allmachtsfantasien in zwei exotischen Romanen und einem urwestdeutschen Hörbuch

Siebzig Minuten Helmut Schmidt. Er poltert, wütet, schnarrt und säuselt. Die Stimme jagt vom Kopf in den Bauch und wieder zurück, oft durch die Kehle, wo sie schaurig zusammengequetscht wird. Die fünfziger, die sechziger, die siebziger und ein Scheibchen der achtziger Jahre hindurch, dann taucht er in unseren Tagen als Elder Statesman wieder auf. Ein weiter Bogen. Ein oft enges Herz. Ein Totalkrampf, wenn er „Liebe“ sagen muss: Sofort einsetzende Schnappatmung verschluckt das Wort fast wieder.

Eher brav marschiert Jürgen Roths Audiobook „Helmut Schmidt: Politik ist Kampfsport“ diese Wegstrecke ab. Sturmflut in Hamburg, Notstandsgesetze, Genschers Verrat. Der eine oder andere schöne Kurzschluss gelingt, aber das Didaktische dominiert: ein Grundkurs „Schmidt Schnauze“. Man hört sich das an und sitzt staunend vor den Originaltönen. Man wirft schnell einen Blick in die Gegenwart: die Kanzlerin im Bundestag. Bald wird ihr zu Ehren eine Aktenordnermarke „Merkel“ heißen. Dann lauscht man wieder Schmidt, der sich einem jauchzend um die Ohren schlägt. Was waren das für Zeiten, als ein Politiker sich noch mit solchem Selbstgenuss ausstellen, sich mit solcher Chuzpe angreifbar machen und öffentlich so herrisch um Liebe betteln durfte? Ein Monstrum, dieser Schmidt, ein Riesenzwerg, zerrissen zwischen der Lust an der Macht und seiner „verdammten Pflicht und Schuldigkeit“; mal Rumpelstilzchen, mal sein eigener Zuchtmeister mit Rohrstock. Mal verdonnert er sich und die ganze Welt zum Aktenstudium und schickt alle „Visionäre“ zum Arzt, dann hüpft er wieder „Scheiße!“ schreiend ums Kanzleramt.

Hat es je einen deutschen Volksvertreter gegeben, der in seiner Zerrissenheit großkünstlerhaftem Genietum so nahe gekommen ist? Und das mit einem so ungebremsten kleinbürgerlichen MachoGehabe? Und wie heißen die empathiehemmenden Medikamente, die unsere Politiker heute einwerfen, damit ihnen vor den Teleobjektiven der hochauflösenden Kameras, die an jeder Ecke auf sie lauern, ja nie die Visage verrutscht? Angela Merkel gewinnt eine wichtige Abstimmung. Da platzt es urplötzlich aus ihr heraus: Millimeterweit schiebt sich einer ihrer Mundwinkel nach oben.

Jürgen Roth: „Helmut Schmidt: Politik ist Kampfsport“; Audiobook; Kunstmann, München 2011; 70:08 min, 14,90 Euro

Lesen Sie auf der nächsten Seite, um was es bei John Kennedy Toole: „Die Verschwörung der Idioten" geht

Ein enger Verwandter dieser gut-bösen Figur Helmut Schmidt aus unserem bundesdeutschen Lebensmärchen ist Herr Ignatius Reilly aus New Orleans, die Hauptfigur von John Kennedy Tooles legendärem Schelmenroman „Die Verschwörung der Idioten“ aus den USA der frühen sechziger Jahre, der jetzt in neuer Übersetzung vorliegt. Ignatius ist ein unappetitlich fetter Mensch mit einer grünen Jägermütze auf dem Kopf, der als kompletter Nichtsnutz bei seiner Mutter lebt und auf seinem Zimmer vernichtende kulturkonservative Traktate verfasst. Ein Wüterich auch er, einer von ganz unten allerdings.

Ignatius R. ist die Hauptfigur einer Groteske. Helmut S. hat sich mit Amt und Würden dagegen abgesichert, als eine solche erkannt zu werden. Was beide eint, ist ihre Überlebensgröße. Und auch das Zickenhafte. Ganz oben und ganz unten findet männliche Eitelkeit verblüffend ähnliche Ausdrucksformen; beide Male ist ihr kultureller Mehrwert ganz erstaunlich.

Die Geschichte des Manuskripts ist fast so unglaublich wie der Held des Romans: John Kennedy Toole war ein dicklicher Mensch, der in symbiotischer Umklammerung mit seiner Mutter lebte. Als er seinen Roman geschrieben hatte, fand er ihn perfekt. Mit den Verbesserungsvorschlägen eines wichtigen Lektors konnte er nicht umgehen, 1969 brachte er sich um. Seine Mutter ging jahrelang mit der „Verschwörung der Idioten“ hausieren, bis sie einen kleinen Universitätsverlag gefunden hatte, der die Urfassung druckte. Dann kam posthum der Pulitzer-Preis, 1981. Das Buch ist ein grandioses Gesellschaftspanorama. Neben Mutter und Sohn konkurrieren eine korrupte Bumskneipenwirtin, ein Polizist in abstrusen Verkleidungen, eine sexuell befreite Studentin und allerlei anderes Gelichter um unsere Aufmerksamkeit, ohne dass der Autor uns wirklich dabei hilft, uns für eine Figur zu entscheiden. Auch die Handlung ist eigentlich nicht von Belang, obwohl es eine gibt.

Groß ist Tooles unschuldig-geniales Talent zur Überzeichnung, seine nach allen Seiten gleichzeitig abgefeuerte Bösartigkeit, die dem Kenner höchsten Genuss verschafft. Der Übersetzer, Alex Capus, ist ein erfolgreicher Schriftsteller, der in der Sprache des Buches nur dann wirklich heimisch wird, wenn Ignatius sich zu seinen Traktaten aufschwingt.

John Kennedy Toole: „Die Verschwörung der Idioten“; Roman, neu übersetzt von Alex Capus; Klett-Cotta, Stuttgart 2011; 462 Seiten, 22,95 Euro

Erfahren Sie auf Seite 3, was Ngugi wa Thiong’os 944-Seiten-Roman „Herr der Krähen“ zu bieten hat

In Ngugi wa Thiong’os 944-Seiten-Roman „Herr der Krähen“ thront „Seine Allmächtige Vortrefflichkeit“, der Herrscher, über dem afrikanischen Land Aburiria, einer satirischen Überhöhung von Kenia unter dem Despoten Daniel arap Moi. Dieser Herrscher ist so allmächtig und vortrefflich, dass seine Unterlinge sich Augen und Ohren vergrößern lassen, um ihm zu zeigen, wie gut sie für ihn lauschen und spähen. Sie lassen sich aber auch immer wieder bereitwillig vom Glauben an Geister verwirren und vom Weg abbringen. Jedes Ereignis kann ein Zeichen des Heils oder Unheils sein, jede merkwürdige Geste Fluch oder Segen. Und so beginnt eine wilde Jagd um die Deutungshoheit über Schlangen, Warteschlangen und Sträucher, an denen Dollarnoten wachsen. Ein Chaos entsteht, das die Allmacht Seiner Vortrefflichkeit auf das Schönste relativiert. Denn ein Mächtigerer als er dirigiert dieses Chaos: seine Vortrefflichkeit, der Autor. Ngugi wa Thiong’o ist heute 73 Jahre alt. In Kenia hat man ihn ins Gefängnis geworfen, bis heute kann er in seinem Heimatland nicht leben. Sein „Herr der Krähen“ ist keine Anklage, sondern ein schöner, trauriger und auch hoffnungsvoller Turmbau aus Geschichten, die nie an ihrem schwärzesten Punkt enden. Die Titelfigur ist ein Wunderheiler wider Willen, der vor Verfolgung und Vergötterung in den Suff flieht. Aber dann …

Dieses Buch ist Weltliteratur. Es sollte nicht so kurz abgefeiert werden wie hier. Es ist ein allumfassendes Kompendium, das uns in ganz sorglos aneinandergereihten Geschichten und Untergeschichten unsere Schwächen vorführt: unseren Größenwahn, unsere Bereitschaft zu Verrat, Folter und Korruption, unsere Misogynie. Alle erscheinen sie uns hier in afrikanischer Gestalt. Und dann ist da auch noch Afrika, mit seiner Magie und seinen Minderwertigkeitskomplexen, die sich verzweifelt im „Weiß-Wahn“ ausdrücken. Den Befallenen bleibt der Wunsch, weiß zu werden, in der Kehle stecken, bis es ihnen die Sprache verschlägt. Und haben sie nicht recht in dem Wunsch, weiß sein zu wollen? Hätte die Global Bank einem weißen Diktator wirklich nur einen Boten mit der Absage ins New Yorker Hotel geschickt, fragt sich der auf diese Weise düpierte und sozusagen entallmächtigte Herrscher? Wahrscheinlich nicht. Da kann man leicht weiterfragen: Wäre dieses Buch mit einem weißen Autor nicht vielleicht doch in einem der großen deutschen Verlage für weiße Weltliteratur erschienen anstatt im bewundernswerten kleinen A1-Verlag? Wahrscheinlich schon.

Ngugi wa Thiong’o: „Herr der Krähen“; Roman, übersetzt von Thomas Brückner; A1-Verlag, München 2011; 944 Seiten, 29,90 Euro

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