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Kaiserdämmerung - Franz, Rot, Gold

Wenn er könnte, würde er aus einem Hubschrauber heraus Deutschland regieren: Franz Beckenbauer ist ein Phänomen – geliebt von einer ganzen Nation, Agent unerfüllbarer Hoffnungen. Doch in Krisenzeiten werden selbst Kaiser zu Menschen

Autoreninfo

Dirk Gieselmann, 37, ist Redakteur bei 11FREUNDE und freier Mitarbeiter bei DUMMY. Er geht in seiner Freizeit ganz gern mal spazieren.

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„Jeder sollte mal im Hubschrauber über Deutschland fliegen“, sprach Franz Beckenbauer 2006, während der WM, die er hierher geholt hatte. „Dann sähen alle, wie schön unser Land ist.“

Er rief diesen Satz aus dem Luftraum hinunter in eine Republik, deren Arbeitslosenzahl, im Jahre eins nach der Einführung von Hartz IV, gerade auf 5,39 Millionen gestiegen war. Dreizehn Prozent der Erwerbspersonen waren also im Begriff, in die Armut abzusinken. Ein vermutlich noch größerer Anteil begann, in Angst zu leben, dem gleichen Schicksal anheimzufallen. Ja gut, äh: Wenn sie keine Schuhe haben, sollen sie doch Hubschrauber fliegen.

Es ist ein erstaunliches Phänomen der Boulevardkultur, dass viele Deutsche, die doch angeblich vom Neid zerfressen sind, diesem Beckenbauer sein Marie-Antoinette-haftes Dahergerede so lange nachgesehen, ja ihn sogar zu ihrem Kaiser erhoben haben. Und das, obwohl sie doch andere Helden – man befrage dazu nur mal Boris Becker – nach Leibeskräften marginalisiert haben.

Stellvertreter des Fußballgottes
 

Franz Beckenbauer war offenbar der eine Auserkorene, dem sie rückhaltlos zu gönnen bereit waren, was sie sich selbst und allen anderen versagten: dass das Leben leicht sein kann, wenn man nur Glück hat. Er selbst war klug genug, sich so volksnah zu geben, dass der Eindruck entstand, er teile dieses Glück. Wie ein Stellvertreter des Fußballgottes auf Erden segnete er die Gläubigen – etwa im „Aktuellen Sportstudio“, wo er einen Ball, der auf einem vollen Weißbierglas ruhte, ins Loch der Torwand schoss und dann mit der Busladung von Bayern-Fans jubelte, als wäre er immer noch einer von ihnen. Der Franzl aus Giesing, das Wunderkind aus ihrer Mitte, das Bescheidenheit und Hybris in eine ungeahnte Balance zu bringen vermochte. „Ich bin ja gelernter Versicherungskaufmann“, sagte er einmal. „Stellen Sie sich vor, ich wäre heute noch jeden Tag in der Versicherung – gut, die Allianz wäre dann mit Abstand das größte Unternehmen der Welt.“

Beckenbauer war ein Genie des Fußballs, des Volkssports schlechthin, somit vom Volk legitimiert und nicht von der Elite. Gerade die einfachen Leute blickten zu ihm auf, zu seinem Poster, das über ihrem Bett hing, in dem sie sich von der Schufterei ausruhten, ihrem vermeintlich gottgewollten Lebenszweck. „Ich habe gerade ›Sofies Welt‹ gelesen, diesen dicken philosophischen Schinken“, berichtete er einmal. „Sokrates, Aristoteles, Platon und diese Leute haben sich vor 2.000 Jahren Gedanken gemacht, da sind wir noch auf den Bäumen gesessen und haben uns vor den Wildschweinen gefürchtet. Seither haben sich nur ganz wenige weiterentwickelt.“ Während die Werktätigen sich also immer fester in der Unbill ihrer Existenz verstrickten, in Inflationsangst, Hypotheken und Benzinpreisvergleichen, hatte Beckenbauer für sich längst die Position des Liberos erfunden, des freien Mannes. Er lebte ein Leben, von dem andere nur träumen konnten: ungebunden und dennoch aufgehoben, geliebt von einer ganzen Nation, der Agent ihrer unerfüllbaren Hoffnungen.

Er schlug 40-Meter-Pässe mit dem Außenrist, wurde Weltmeister, trug Pelzmäntel, zog von München nach New York, ging im legendären Nachtclub Studio 54 ein und aus, erwehrte sich dort nonchalant der Avancen Rudolf Nurejews („Rudi, ich bin von einer anderen Fakultät!“) und zog Damen vor, deren Herzen ihm natürlich zuflogen. Er kehrte zurück nach Deutschland, wurde Teamchef der Nationalmannschaft, lachte über die diesseitigen Spieler, die ihm zur Verfügung standen (Buchwald! Augenthaler! Klinsmann!), wurde kraft seiner Aura, die er freundschaftlich „Aurora“ nannte, dennoch abermals Weltmeister und schritt nach dem Finalsieg gegen Argentinien allein über den Rasen des Olympiastadions von Rom, über ihm das Feuerwerk, sphärisch schmunzelnd mit seiner Goldmedaille um den Hals, und wusste, dass er endgültig allen Zumutungen entschwebt war. Von nun an würde er im Hubschrauber über Deutschland hinweg fliegen, das, von oben betrachtet, kleiner wirkte als er.

Fliegend, geradezu schwere- und wie immer mühelos schien er dann auch die WM 2006 hierher geholt zu haben. Selbst die größte Sportveranstaltung des Planeten war ihm offenbar einfach so zugefallen, wo andere Interessenten zwielichtige Fifa-Funktionäre aus undemokratischen Schwellenländern hatten schmieren müssen, damit sie sich überhaupt ihre Bewerbungsmappe anschauten. Franz, Rot, Gold: Die Nationalmannschaft schied zwar im Halbfinale gegen Italien aus, Beckenbauer aber war schon vor dem Turnier zum dritten Male Weltmeister geworden.

Von der Lichtgestalt zum Kassenwart
 

Dass er, wie der „Spiegel“ herausgefunden hat, die Wahlmänner aber doch nicht mit seinem charmanten Lächeln für sich gewonnen hat, sondern mutmaßlich mit einer finanziellen Zuwendung in Höhe von 6,7 Millionen Euro, entzaubert ihn auf sehr plötzliche und drastische Weise. Bestand sein sagenhaftes Aufgehobensein in dieser Welt etwa nur aus einem engmaschigen Netz aus wechselseitigen Interessen und Gefallen, die man einander in gewissen Kreisen schuldet? Ist die Lichtgestalt ein ganz und gar diesseitiger Mauschler mit den Methoden eines provinziellen Kassenwarts? Und nicht nur das: Es ist auch eine fundamentale Kränkung seiner rückhaltlosen Bewunderer. Kaufen hätten sie die WM auch selber können. Hatte er nicht suggeriert, dass er so etwas nicht nötig habe? Welch eine Enttäuschung, dass der Fußballgott auf solch piefige Weise dann doch nur einer von ihnen war.

„Das Sommermärchen war nicht gekauft“, plärrten die Hofberichterstatter von der „Bild“ in ihrer ersten Panik. Das war zwar nur das Ergebnis einer Telefonumfrage des leitenden Angestellten Alfred Draxler bei Beckenbauer selbst, DFB-Präsident Wolfgang Niersbach und WM-Botschafter Günter Netzer. Aber es kam aus tiefster Überzeugung – weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf. Immer mehr deutet jedoch darauf hin, dass es eben doch so war, und der Schmerz der sich Bahn brechenden Erkenntnis (inzwischen hat Draxler sich bei „Spiegel“-Chef Klaus Brinkbäumer öffentlich für seine Anwürfe entschuldigt) ist der „Bild“ deutlich anzumerken. Er äußerte sich zunächst als Trotz, dann als Verunsicherung, schließlich als irgendwie ratlose Verlassenheit.

Franz Beckenbauer hatte den berüchtigten Springer-Lift nicht benötigt, um nach oben zu gelangen. Und er wird auch nicht in ihm nach unten fahren. Mit einem Mann von 70 Jahren geht nicht einmal die „Bild“ um, als wäre er ein Sternchen aus der Casting-Show. Was bleibt, ist eine Leerstelle, wo sonst seine Bundesliga-Kolumnen standen, in denen er aus der Hubschrauber-Perspektive süffisant über das possierliche Treiben seiner Epigonen urteilte.

Was bleibt, ist ein helles Rechteck an der Wand, wo einst das Porträt des Kaisers hing.

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