schreiben: Das Gedicht - Jürgen Becker: «Zwischendurch im Erzgebirge»

Still sitzen und sehen, wie unten der Nachmittag
die Dämmerung erwartet, wie Scharfschützen hinter
einem Mauerrest verschwinden und Kinder
einem weißen gepanzerten Fahrzeug nachlaufen, wie
eine Hügellinie, die eine Grenzlinie ist, das Nichts
des Schnees vom Nichts des Himmels trennt, und
entlang der Grenze, die eine diesseits, die andere
jenseits, fliegen die beiden einzigen Krähen, die
es in dieser baumlosen Landschaft gibt, wie

Still sitzen und sehen, wie unten der Nachmittag
die Dämmerung erwartet, wie Scharfschützen hinter
einem Mauerrest verschwinden und Kinder
einem weißen gepanzerten Fahrzeug nachlaufen, wie
eine Hügellinie, die eine Grenzlinie ist, das Nichts
des Schnees vom Nichts des Himmels trennt, und
entlang der Grenze, die eine diesseits, die andere
jenseits, fliegen die beiden einzigen Krähen, die
es in dieser baumlosen Landschaft gibt, wie
das changierende Muster eines Ölteppichs entsteht
mit dunkler werdenden Rändern, wie auf der Wiese
ein Baumstumpf die Form eines Körpers annimmt mit
abgeschlagenen Armen und Beinen, wie unterm Kirschbaum
sich die Avantgarde zeigt, mit spitzen, grünen Lanzen,
die später, in den nächsten Tagen, die Konvention
der Schneeglöckchen annimmt, wie in dunklen Fenstern
Bildschirme aufleuchten und auf jedem Bildschirm
zuerst eine Schrift und dann das Gesicht einer Frau
erscheint, die lautlos die Lippen bewegt.
(1992)

Michael Lentz/Michael Opitz: In diesem Land. Gedichte 1990–2010
S. Fischer, Frankfurt a.M. 2010. 637 S., 18 €


 

Das Glück des Gedichts liegt in seinem Nach-Hau­se-Kommen. Dort lösen sich das Outrierte seiner Form, die Ausstellung seiner Empfindsamkeit in Evidenz auf. Das geglückte Gedicht ist immer überfällig. Jürgen Becker, ein lebender Klassiker deutscher Lyrik, schreibt «Zwischendurch im Erzgebirge» im Jahr 1992. Draußen ist Landschaft, draußen ist auch Jugoslawienkrieg, aber dieses Draußen ist drinnen: im Blick aus dem Fenster oder in die Halbdistanz des Fernsehens, dessen Bilder sich, lose Erinnerungen an die politische Wirklichkeit in einer Landschaft, in die Wahrnehmung drängen. Doch was lagert worauf: die nachrichtliche Welt auf der Aussicht, die Aussicht auf dem Nachrichtenbild? Wieder stellt Becker ein nature morte her, eine Landschaft mit einer fließenden, das heißt durchlässigen Grenze zwischen zwei Territorien, dem Erzgebirge und dem Balkan, dem Hüben und Drüben. In ein paar Takten Vers schieben sich Flächen ineinander, «sheets of sound» mit den Bezeichnungen: einsetzende Dämmerung über der Landschaft, Bilder aus einem Krieg, eine Ölpest, Frühlings Erwachen, der Mund der Nachrichtensprecherin. Warum dies mehr ist als eine Aufzählung? Weil ihr Nacheinander manifest wird als ein Ineinander, und wie die Hügellinie die Schneelandschaft nicht vom Himmel abgrenzt, so fliegen auch Worte, Begriffe, Anschauungen wie die Krähen diesseits und jenseits, im Anschaulichen und im Symbolischen, in der Intimität der Innenwelt und in der Öffentlichkeit der News – Zeitgenossen des Augenblicks, aufgelöst im Zwischenreich des Transit, Gestalt geworden einzig in dem Medium, das sich zu seiner Kristallisation verdichtet: Nur Gedicht, nur dies Gedicht konnte dies werden. Das ist sein melancholisches Glück.

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