Islam - Die Säkularisierung als Symptom der Krise

Entgegen der Angst vor einer Islamisierung ist der Islam weltweit auf dem Rückzug. Immer weniger Muslime leben ihren Glauben aktiv aus. Das belegen Zahlen, die der Religionswissenschaftler Michael Blume für sein aktuelles Buch gesammelt hat

Bilder wie diese werden seltener, immer mehr Muslime bezeichnen sich eher als „Kulturmuslime“ / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitet das Referat »Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak« im Staatsministerium Baden-Württemberg.

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Viyan und ich müssen lachen. Gerade haben wir im Kreise einiger Freunde unser Essen bestellt. Ich, der Christ, habe dabei aus Rücksicht auf meine muslimische Ehefrau auf Schweinefleisch verzichtet. Viyan dagegen hat Schweinefleisch bestellt, obwohl sie aus einer muslimischen Familie stammt und in den deutschen Statistiken noch immer als „Muslimin“ geführt wird. Sie ärgert sich auch immer wieder darüber, aufgrund ihrer „orientalischen“ Haut und Haare von Fremden als Muslimin angesehen oder gar auf Arabisch oder Türkisch angesprochen zu werden. Denn Viyan schließt nicht aus, dass es einen Gott geben könnte. Sie ist sich aber inzwischen sehr sicher, dass dessen Worte nicht im Koran zu finden sind. Und sie versteht sich als Deutsche, die ihre kurdische Herkunft und Herkunftssprache nicht leugnet, aber auch nicht darauf reduziert werden mochte. Einem Teil ihrer Familie würde sie all dies aus Höflichkeit und zur Vermeidung von Ärger nie sagen; umso mehr genießt sie es, im Kreise von Freunden auch als Agnostikerin akzeptiert zu sein.

Säkularisierung durch Krieg

Es gibt längst Millionen von „Muslimen“ wie sie. So ergab eine Befragungsstudie für die Deutsche Islamkonferenz (DIK) im Jahre 2009, dass nur noch eine Minderheit von 33,9 Prozent der „Muslime“ in Deutschland angab, täglich zu beten – geschweige denn fünf Mal täglich. 15,3 Prozent beteten ein „paar Mal im Jahr“ und 20,4 Prozent „nie“. Entsprechend äußerten sich 15 Prozent der Antwortenden als „nicht“ oder „eher nicht“ gläubig. Und diese Prozentangaben sind noch deutlich untertrieben – denn bei der freiwilligen Befragung wurden naturgemäß nur jene als „Muslime“ gewertet, die sich selbst als solche bezeichnet hatten.

Auch der deutsch-pakistanische Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza vermerkt ein schnelles Anwachsen des Atheismus und auch Antitheismus unter ehemaligen Muslimen, das durch die digitalen Medien noch befeuert werde. Er sieht dabei Parallelen zu den europäisch-christlichen Konfessionskriegen nach der Reformation: „Ähnlich wie in Europa, konnte das Fanal religiöser Gewalt den Weg für eine zunehmende Säkularisierung und Verdrängung von Religion ebnen. Schon jetzt beobachtet man in der muslimischen Welt die ersten Sprösslinge dieser Entwicklung: In Tunesien und Ägypten bekennen sich Menschen öffentlich zum Atheismus. In den sozialen Netzwerken entstehen atheistische Foren, diese sind zu Logen und Treffpunkten dieser im Netz wachsenden Bewegung geworden, die im IS keine Pervertierung des Islam erblickt, sondern einen Zusammenschluss von Muslimen aus der ganzen Welt mit dem Ziel, den Islam zu verwirklichen. Deshalb müsse die Religion überwunden werden.“

Kultureller Islam

Auch die Journalistin Karen Krüger stieß schon zu Beginn ihrer „Reise durch das islamische Deutschland“ im eigenen Freundeskreis auf dieses Phänomen: „Einige schlugen vor, ich solle sie nicht als Muslim, sondern als ‚Kulturmuslim‘ bezeichnen, nicht als religiös, sondern als spirituell.“ Dazu passt, dass der Anteil derjenigen „Muslime“ schnell wächst, die verschiedene religiöse Traditionen nach eigenem Entschluss kombinieren. „Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück“, hatten beim „Religionsmonitor“ 2008 schon 33 Prozent der teilnehmenden Muslime bekundet; beim Religionsmonitor 2013 waren es bereits 42 Prozent. Das mag kaum den Lehren traditioneller islamischer Religionskritiker (Ulema) entsprechen, doch es entspricht der Lebensrealität und den Wünschen von immer mehr vor allem jüngeren Menschen muslimischer Herkunft.

Ergebnisse einer emnid-Befragung von 2016 im Auftrag einer Forschungsgruppe der Universität Münster unter Türkeistämmigen in Deutschland haben diese Beobachtungen inzwischen bestätigt. So sank der Anteil der Türkeistämmigen, die nach eigenen Angaben wöchentlich eine Moschee oder ein alevitisches Gebetshaus (Cem-Haus) besuchten, von 32 Prozent bei denen, die selbst zugewandert sind, auf 23 Prozent bei denen, die bereits in Deutschland geboren wurden. Doch als „tief“ oder „eher“ religiös bezeichneten sich 72 Prozent der in Deutschland geborenen Deutschtürken gegenüber nur 62 Prozent der aus der Türkei Zugewanderten. Die Münsteraner Forschungsgruppe schloss daraus: „Möglicherweise spiegeln die Antworten auf diese Frage weniger die ‚tatsächlich gelebte‘ Religiösitat wider als vielmehr ein demonstratives Bekenntnis zur eigenen kulturellen Herkunft.“

Übernahme westlicher Werte

Gegenüber den oft formulierten Ängsten vor einer „fortschreitenden Islamisierung“ wird auch hier deutlich, dass die traditionell-strengen Gebote im Namen des Islams immer seltener befolgt werden: Während noch 27 Prozent der selbst aus der Türkei Zugewanderten meinen, Muslime sollten einem Menschen des anderen Geschlechts nicht die Hand schütteln, denken dies nur noch 18 Prozent der bereits in Deutschland Geborenen. Auch der Anteil der muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, ging entsprechend von 41 Prozent unter den Zugewanderten auf 21 Prozent unter den in Deutschland Geborenen zurück.

Auch internationale Daten zeigen die wachsende Kluft zwischen dem öffentlich bekundeten „eigentlichen“ Islam und der Lebensrealität der „Muslime“, die sich zunehmend ihre eigenen Gedanken machen. In der bereits erwähnten Pew-Studie von 2013 bejahten die Befragten die Frage, ob ihr eigenes Leben denn der Überlieferung des Propheten Muhammad (der Sunna und den Hadithen) entspreche, bereits sehr unterschiedlich. So waren noch 75 Prozent der Afghanen der Auffassung, in ihrer Lebensführung entspreche „viel“ der Sunna und den Hadithen, und immer noch 22 Prozent fanden, dies sei „wenig“ der Fall, was eine Summe von stolzen 97 Prozent ergibt. Unter den Türken ordneten sich nur noch 33 Prozent bei einem „viel“ ein und immerhin noch 43 Prozent meinten, ihr Leben entspreche den islamischen Überlieferungen „wenig“, Summe: 76 Prozent. In europäisch-islamischen Ländern wie Albanien sanken die Anteile schließlich auf 20 Prozent (sieben Prozent „viel“, 13 Prozent „wenig“).

Ein letztes Aufbäumen

Auch der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler und erklärte Ex-Muslim Hamed Abdel-Samad schreibt über dieses Phänomen. Er hatte bereits 2010 beobachtet: „Was den Islam betrifft, mag er in seinem jetzigen Zustand alles Mögliche sein, nur eines ist er meines Erachtens gewiss nicht: Er ist nicht mächtig. Er ist im Gegenteil schwer erkrankt und befindet sich sowohl kulturell als auch gesellschaftlich auf dem Rückzug. Die religiös motivierte Gewalt, die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Raums und das krampfhafte Beharren auf der Sichtbarkeit der islamischen Symbole sind nervöse Reaktionen dieses Rückzugs. […] Es handelt sich nur um das verzweifelte Anstreichen eines Hauses, das kurz davorsteht, in sich zusammenzustürzen. Aber auch der Zusammenbruch eines Hauses bleibt gefährlich, und das nicht nur für seine Bewohner.“

Tatsächlich verdecken also die offiziellen Statistiken, die „geborene“ Muslime mit beitragszahlenden Kirchenmitgliedern vergleichen, den massiven Glaubens- und vor allem religiösen Praxisverlust in der islamischen Welt. Während die Säkularisierung in den christlich geprägten Gesellschaften mit jeder nicht vorgenommenen Taufe und mit jedem Kirchenaustritt vollzogen wird, werfen die Angaben zu „Muslimen“ religiös Fromme und Engagierte mit religionskritischen Agnostikern und Atheisten islamischer Herkunft in den gleichen Topf.

Während ein konfessionsloser Pegida-Demonstrant in Dresden durch das Tragen eines schwarz-rot-goldenen Kreuzes und das Ablesen eines Weihnachtsliedes noch lange nicht zum Christen wird, gelten – und verstehen sich – Millionen Araber, Türken und Kurden als Muslime, auch wenn sie seit Jahren kein Gebet mehr gesprochen und keinerlei finanzielle Beitrage mehr an Religionsgemeinschaften entrichtet haben. Dem irakischen Soziologen Ali Al-Wardi (1913–1995) wird ein Zitat zugeschrieben, das die krisenhafte Widersprüchlichkeit gut auf den Punkt bringt: „Wenn die Araber zwischen einem religiösen und einem säkularen Staat wählen könnten, so würden sie den religiösen wählen und in den säkularen fliehen.“

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch „Islam in der Krise“ von Michael Blume. Das Buch erschien am Ende August im Patmos Verlag, 192 Seiten, 19 Euro.

 

 

 

 

 

 

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