Portrait - "Ich mag Menschen. Sehr sogar"

Der norwegische Erzähler Per Petterson lebt und schreibt im Kielwasser einer persönlichen Tragödie. Seine Romane fügen sich zu einer panskandinavischen Familiengeschichte von unten. Ein Besuch in der nordischen Einsiedlerwelt

Bis heute ist immer noch ungeklärt, wie es am 7. April 1990 zu dem verheerenden Schiffsbrand auf der «Scandinavian Star Ferry» kommen konnte. Die Fähre war kurz vor Ostern unterwegs von Oslo nach Frederikshavn im dänischen Jütland, mit hunderten Kurzurlaubern an Bord, als gegen zwei Uhr morgens Feuer ausbrach und sich rasend schnell über drei Passagier-Decks ausbreitete. Hatte ein Pyromane den Brand gelegt? Oder war es ein Wirtschafts­verbrechen, ein Fall von Versicherungsbetrug?

Unter den 158 Menschen, die durch die Flammen umkamen oder im Schlaf an giftigen Rauchgasen erstick­ten, befanden sich auch die Eltern und der jüngste Bruder Per Pettersons. Er selbst war damals 38 Jahre alt, ein geschiedener Buchhändler und angehender Schriftsteller in Oslo. Eigentlich hätten er und seine beiden kleinen Töchter mit an Bord sein sollen für den alljährlichen Familien-Osterurlaub in Dänemark, der Heimat seiner Mutter. Doch Per Petterson hatte den Termin – ja, was: verschlampt? vergessen? verdrängt? Womöglich wollte er insgeheim gar nicht mitfahren? Er versprach, zwei Tage später, am Montag, mit einer anderen Fähre nachzukommen.

Dazu kam es nicht. Bereits am frühen Samstagmorgen sah er im Fernsehen die ersten Luftbilder von der brennenden Fähre, die unter einer mächtigen schwarzen Rauchsäule im Skagerrak trieb. Später, als feststand, was geschehen war, schloss Petterson mit sich selber einen Pakt. Er habe damals beschlossen, so erzählt er siebzehn Jahre später in seinem Holzhaus in den norwegischen Wäldern, er werde aus dieser Katastrophe keinesfalls einen Roman machen: «Ich habe mir geschworen, niemals zum ‹Scandinavian Star›-Chronisten zu werden.»


Aus der Krise in ein neues Leben geschleudert

Stattdessen hat er den Roman «Im Kielwasser» geschrieben. Darin bildet das Fähr-Unglück den Fluchtpunkt. Von dorther werden alle Vorgänge im Buch bestimmt, dorthin führen sie alle zurück. Aber der Fluchtpunkt selbst liegt außerhalb des Romans: Er wird nicht erzählt. Allenfalls, dass die Katastrophe hie und da in kurzen Erinnerungsblitzen des Ich-Erzählers Arvid Jansen wetterleuchtet: Wie ihm von der Feuerwehr in Oslo ein Video aus dem Schiffsinnern gezeigt wird, das er gar nicht sehen will – den von den Zeitungen so genannten «Todeskorridor», eine «Landschaft aus halbnackt daliegenden Körpern».

Wie er und sein älterer Bruder, die beiden einzigen Überlebenden der Familie, im schwedischen Hafen Lyse­kil an der Kaimauer stehen, wohin das Wrack geschleppt worden ist, und wie sie hinaufschauen zu dem leeren Schiffsrumpf, mit seinen «großen fächerförmigen schwarzen Flecken um die Bullaugen».

Oder wie er und sein Bruder im Rikshospital die Särge abholen müssen und der Mann vom Beerdigungsinstitut sich betreten räuspert, ehe er sie darauf aufmerk­sam macht, «dass die Särge wahrscheinlich nicht so schwer sind, wie man meinen könnte».

«Im Kielwasser» umschweigt das Schiffsunglück als solches, denn «alle erinnern sich an den Brand, deshalb ist es so schwer, darüber zu sprechen». Umso eindringlicher erzählt der Roman von den Folgewirkungen, von dem, was danach mit Arvid Jansen und seinem älteren Bruder, einem Architekten und Maler, geschah: wie die Katastrophe beide Brüder aus der Bahn warf, in eine Krise stürzte und sie schließlich in ein neues Leben schleuderte.


«Du wolltest dich also verdrücken»

Auf den ersten Blick gibt sich «Im Kielwasser» als Bruder­zwistgeschichte, verdichtet auf zwei schmerzintensive Krisenwochen. Der Roman setzt ein, sechs Jahre nach dem Brand, mit einem schwer betrunkenen Arvid, der frühmorgens vor einem Buchladen randaliert, in dem er längst nicht mehr arbeitet, und folgt dem desorientierten Mann dann auf seinen stadtstreicherhaften Irrwegen durch das eisige spätwinterliche Oslo, als wäre er einer von den zerrissenen Helden und hungrigen Stadtwanderern Knut Hamsuns. Als Ich-Erzähler lässt Arvid die Leser seine Verzweiflung spüren, seine quälenden Träume, seine Selbstisolierung, seine Schreibhemmung – er wirft schließlich das Manuskript des Romans, mit dem er nicht weiter weiß, in den Müll. Und er unternimmt zaghafte Versuche, anderen Menschen wieder nahe zu kommen und erstmals zu ihnen über das Unglück zu sprechen.

Wem er nicht nahe kommen, zu wem er nicht sprechen kann, das ist sein Bruder. Der erholt sich gerade nach einem Selbstmordversuch: Er konnte die Erinnerung an die Katastrophe nicht loswerden, aber auch nicht mehr er­tragen. Diese Tat hat Arvid weniger erschreckt als vielmehr erbost. «Du wolltest dich verdrücken und mich allein zu­rücklassen», wirft er dem Älteren vor. Und dann prügeln sie sich. Am Ende sitzen beide Brüder in der Küche, «am Boden versammelt», kaputt, mit schmerzenden Knochen, aber glänzenden Augen. Jetzt kann es nur noch aufwärts gehen für die letzten lebenden Mitglieder der Familie Jansen.

Arvid Jansen ist Per Pettersons literarisches Alter Ego, schon seit seinen frühen, nicht ins Deutsche übersetz­ten Erzählungen aus den achtziger Jahren. Mit Arvid teilt der Autor alle biografischen Eckdaten: das Geburtsjahr 1952, die Herkunft, die Familie, die Eltern und die Brüder, die Wohnorte, den Bildungsgang, die Arbeitsplätze, die gescheiterte Ehe und die Töchter, die Lektüre, die politischen Überzeugungen, bis hin zum «Klassekampen» als der abon­nierten Tageszeitung, sowie den Berufswechsel mit Mitte dreißig vom Bibliothekar und Buchhändler zum Schriftsteller. Vor allem teilt er mit seinem Roman-Double die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, den Schmerz und den Kummer im Kielwasser des Unglücks.

Petterson greift zu Erfindungen nur, wenn es ihm unumgänglich erscheint. «Warum den Fluss überqueren, wenn man Wasser will?», fragt er, und es klingt wie ein Sprich­wort. «Ich verwende, was vorhanden ist. Warum hät­te ich für Arvid eine Wohnung in Oslo eigens neu erfin­den sollen? Ich habe für den Roman meine damalige Wohnung verwendet, schließlich kenne ich sie am besten.»


«Der Roman ist sozusagen autobiografisch»

Petterson wohnt dort schon lange nicht mehr. Er hat in den neunziger Jahren die Stadt verlassen und ist mit Pia, seiner neuen Gefährtin, etlichen Hunden und Katzen und anderthalb Dutzend Schafen in ein leer stehendes Gehöft nahe der schwedischen Grenze gezogen, dorthin, wo Elch und Luchs einander Gute Nacht sagen. Das Haus heißt «Porten» und liegt etwa eine Autostunde nordöstlich von Oslo abgeschieden im Wald. Der nächste Nachbar wohnt einen Hügel weiter.

Es ist Mitte Februar, das Anwesen ist tief verschneit, die Straße hierher führte durch dichte Schwarzkiefern, an gefrorenen Wasserfällen und zugeschneiten Seen vorbei; sie war nicht gestreut, auch die Zufahrt zu diesem Morä­nenrücken ist blankes Eis. Der Pfad hinüber zu Pettersons Schreibhäuschen, das hundert Meter den Hang hinab am Waldsaum liegt, ist ausgeschaufelt. Fußspuren führen hin und zurück. Wir sitzen in der Wohnküche. Pia, sehr blond und sehr still, backt Brot im Herd, Laika, die semmelblonde Hündin, und die Katzen dösen im Warmen. Der paprikarote dicke Kampfkater riskiert ein Auge – das andere hat ihm ein Rivale ausgekratzt.

Der Blick aus den Fenstern zeigt ringsum nichts als Nadelbäume bis zum Horizont, gesprenkelt mit einzelnen Birken. Hier nimmt er seinen Anfang, der nordeuropäische Fichten- und Kieferngürtel, der sich über Skandina­vien und den Ural bis nach Sibirien erstreckt, und sogar darüber hinaus. Per Petterson schiebt noch ein Birkenscheit in den eisernen Ofen. Er beharrt darauf, in seinen Büchern nichts zu erfinden, wenn es nicht sein muss. Bei «Im Kielwasser» musste es nicht sein, abgesehen vom Selbstmord­versuch des Bruders – der ist fiktiv. «Der Roman ist sozusa­gen autobiografisch, aber nicht im buchstäblichen Sinn.»

«Im Kielwasser» ist im Innersten ein Vaterroman, aber nicht im buchstäblichen Sinn, sondern eingeklemmt und versteckt hinter der Sohnes- und Bruderzwistgeschich­te. Sie hätten nie richtig miteinander geredet, sagt Per Petterson über seinen Vater – und sagt Arvid im Roman über seinen Vater Frank Jansen, den Arbeiter aus der Schuhfabrik, den Chorsänger und Sportsmann, den Skifahrer, Boxer und Waldläufer, den Heimwerker und Gewerkschaft­ler, den schweigsamen und schüchternen, spröden und starren Mann, gefangen in einer falschen Ehe. Da der Sohn zu Vaters Lebzeiten nie richtig mit ihm sprechen konnte, kann er auch nicht geradewegs und rundheraus über den toten Vater schreiben. Ihn treibt nur ein vages Gefühl: «Mein Vater hat sich ein Buch verdient.»

«Bei lebendigem Leib ans Kreuz genagelt»

Deshalb ist der Roman «Im Kielwasser» nur indirekt als Ehrenrettung des Vaters zu lesen, als verschämte Abbitte dafür, ihm Unrecht getan, ihn nie richtig wahrgenommen zu haben. Posthum werden ihm dafür nun Mitgefühl und spätes Verständnis nachgetragen. Der altmodische Fabrik­arbeiter, der, statt Worte zu machen, lieber seinen athleti­schen Körper für sich sprechen ließ und dem sprachstol­zen Sohn damit auf den Geist ging, erscheint im Buch jetzt in einem anderen Licht: Erinnert wird der Vater in aufgewühlten Momenten der Sorge, der Schwäche, der Angst. Und dem scheinbar so schlicht gearteten Mann wächst im Nachhinein ein Geheimnis zu: Warum trug der Vater stets, sogar bei seiner Hochzeit, das Foto einer anderen Frau in seiner Brieftasche bei sich? Und warum sagte er, als er nach der Hochzeit aus der Kirche kam, zu seinem Bruder den rätselhaften Satz «Bei lebendigem Leib ans Kreuz genagelt» – und lachte dazu?

Die Familienkatastrophe vom 7. April 1990 hat in Per Petterson den Schriftsteller freigesetzt. Erst der Tod der Eltern gab ihm die Freiheit, sie zu seinen Protagonisten zu machen und ihnen ein Romanleben anzudichten – ein leidenschaftliches Leben voll ungestillter Sehnsüchte, verheimlichter Gefühle und verschwiegener Verzweiflung. «Sehnsucht nach Sibirien» und «Im Kielwasser» sind fiktive Rekonstruktionen des Lebens der Mutter und des Vaters, wie es hätte gewesen sein können, ehe der Sohn gebo­ren wurde, und wie er es sich nun aus Erinnerungssplittern, flüchtigen Beobachtungen und zufällig aufgeschnappten Nebensätzen zusammenreimt. Was Petterson sich am intensivsten ausmalt, sind die früheren Gefühlsverstrickungen, aus denen heraus Mutter und Vater später zufällig aneinander gerieten und dann aneinander hängen geblieben sind – nicht unbedingt zu ihrem Glück.

Ohne die Schiffskatastrophe hätte Petterson diese alternativen, imaginären Elterngeschichten nicht schreiben können. Eben diese Romane haben ihn zu einem der eigenwilligsten und suggestivsten norwegischen Erzähler der mittleren Generation gemacht. Dazu kommt noch «Pferde stehlen», sein drittes Buch seit dem Brand (siehe „Literaturen” 4/2006), auch dies eine abgründige Vater-Sohn-Geschichte voller Kindheitsechos, die ihr Geheimnis erst im Nachhinein preisgibt.


«So so, Hemningway, du schreibst also»

Eine Aura von Stille umgibt alle drei Romane. Sie erzählen beredt von wortkargen Menschen in nordischer Landschaft, in dichten Wäldern, an grauen Meeresufern, in kalten, unwirtlichen Hafenstädten. Im Zusammenhang gelesen, ergeben sie so etwas wie eine panskandinavische Arbeiterfamiliengeschichte des 20. Jahrhunderts, gesehen von innen und außen zugleich. Er sei ein politischer Schriftsteller, aber er schreibe keine politischen Romane: So definiert Petterson seinen herkunftsgeprägten Blickwinkel. In ihrer Verschwiegenheit, Gefühlsdichte und genauen Milieukenntnis erinnern seine Bücher manchmal an die frühen Romane des Schweden Per Olov Enquist. Wie diese verströmen sie ein Fluidum von Naturnähe, Menschenfreundlichkeit und melancholischer Lebensinnigkeit.

Der Autor bettet die einsilbigen Wortwechsel seiner Figuren in lang nachklingende Hallräume. Knappe Sätze wie «Wir wollen los und Pferde stehlen» oder Vaters höhnische Bemerkung zum Sohn «So so, Hemning­way, du schreibst also» gewinnen so leitmotivische Bedeutung. Alle großen Daseinsfragen werden wie nebenbei berührt: Liebe und Liebesverrat, Familie, Freundschaft, Erwachsenwerden, Altern und Sterben, überhaupt das Vergehen der Zeit. Vor allem beschäftigt Petterson ein Rätsel in immer neuen Varianten: das verpasste und verfehlte, das falsche Leben. Wie wird es verfehlt? Warum wird es verpasst? Wieso gelingt der glückhafte Augenblick so selten?

Diese Romane kommen täuschend einfach daher, sie prunken nicht mit ihren Erzählmitteln, stellen ihre Kunstgriffe nicht aus. Dennoch sind sie mit äußerstem Bedacht und größter Sorgfalt geschrieben – kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, kein Wort am falschen Platz. Sie entwickeln eine Sogkraft, einen leisen, aber mächtigen Zauber.

«Schiet – da ist mir ein Plot unterlaufen»

Der Autor beteuert, er sei keiner von den Roman-Ingenieuren und halte nichts von ausgetüftelten Konstruktionsplänen, überhaupt hasse er Plots und schreibe seine Bücher nicht mit Vorsatz; vielmehr lasse er sich überraschen von den Wendungen, die seine Geschichten unerwartet nehmen können. Lange brütet er träumerisch über seinen Büchern und lebt mit ihnen – wenn es sein muss, auch drei, vier Jahre lang. Es kann passieren, dass der Roman bereits Dinge weiß, die dem Autor noch gar nicht klar sind. Hinter seinem Rücken entwickeln die Bücher ihr eigenes Leben.

Er lässt es ruhig zu, dass widerstreitende Gefühle in ihm darum wetteifern, Sätze zu werden. «Ich will gar nicht wissen, welche Seite gewinnen wird. Aber ich spüre, wie meinem Schreiben dadurch Wärme und Leuchtkraft zuwachsen, die es sonst nicht hätte.» Manchmal, etwa in «Pferde stehlen», stellt er mitten im Schreiben fest, dass ihm («Schiet – ein Plot!») eine spannende Romanstruktur unterlaufen ist. «Ich bin mir nie bewusst, wie weit meine Geschichte bereits gediehen ist. Aber plötzlich ist sie fertig.»

Im «Kielwasser»-Roman demonstriert er an seinem schreibgehemmten Helden Arvid, wie sich ein Buch ganz unversehens bei seinem künftigen Autor einstellen kann. Nach langer und quälender Sprachdürre fallen plötz­lich einige Sätze bei Arvid ein. Er klickt sich in sein Textverarbeitungsprogramm und schreibt: «Anfang November. Neun Uhr. Die Kohlmeisen knallen gegen das Fens­ter. Manchmal fliegen sie nach dem Zusammenprall wie benommen davon, dann wieder fallen sie in den Neuschnee und mühen sich ab, bevor sie erneut auf die Flügel kommen. Ich weiß nicht, was ich habe, das sie haben wollen. Ich sehe aus dem Fenster hinüber zum Wald. Über den Bäumen zum See hin erscheint ein rotes Licht. Wind kommt auf. Ich sehe die Form des Windes im Wasser.» Es sind – diesen kleinen Insider-Scherz gestattet sich Petterson – die Anfangssätze des Romans «Pferde stehlen». Zugleich hat sein Held Arvid damit seine Schreibblockade überwunden. Er ahnt: »Ich schreibe mich hinein in eine mögliche Zukunft.»

«Pferde stehlen» war ein norwegischer Bestseller, gewann in Oslo den Buchhändler- und den Kritikerpreis und hat überdies Pettersons internationalen Erfolg be­grün­det. Im Vorjahr wurde das Buch in Paris als bester auslän­discher Roman in französischer Übersetzung aus­gezeich­net. Auch für «Pferde stehlen» hat Petterson den Fluss nicht eigens überqueren müssen: Einer der Schauplätze des Romans ist ganz unverkennbar die Gegend, in der wir uns hier befinden. Und die semmelblonde Hündin Lyra, die darin eine lebhafte Nebenrolle spielt, war Laikas Mutter. Auf halbem Weg zur Schreibhütte liegt sie unter einem Baum begraben.


«Meine Eltern hätten nie heiraten dürfen»

In der Wohnküche duftet inzwischen das frisch gebackene Brot auf dem Tisch. Wir essen, und Petterson erzählt von seiner panskandinavischen Familie – von den Eltern seines Vaters, Arbeitsmigranten aus Värmland in Schweden, die sich in Oslo niederließen, als die Stadt noch Kristiania hieß. Sie waren fromme Baptisten, der Großvater arbeitete lebenslang in der Schuhfabrik Salomon – wie später auch seine Söhne, ehe die Billigschuhe aus Italien dem Werk den Garaus machten – und unterrichtete außerdem in der Sonntagsschule. Im «Kielwasser»-Roman taucht der Großvater auf als Stütze der Baptistengemeinde, der «wie ein Patriarch über die Familie und eine Handvoll erlöster Arbeiterseelen herrschte».

Pettersons Mutter war Dänin, und der Sohn ist der festen Ansicht, dass seine Eltern nie hätten heiraten dürfen. Sie passten einfach nicht zusammen – die gescheite und selbständige Schreinerstochter aus Frederikshavn in Jütland, die eigenbrötlerische Fischer und Bauern zu ihren Vor­fahren zählte und in Oslo eine Einzelgängerin blieb, trotz Ehemann und vier Söhnen; und der wortarme norwegische Proletarier aus der Schuhfabrik, immer umgeben von seiner Großfamilie, der sich nur im Clan oder im Kollektiv mit seinen Kumpels wirklich wohl fühlte – im Boxer-Team, in der Fußballmannschaft, im Männerchor.

Sie war und blieb eine Außenseiterin, die sich fortsehnte, nach London, nach Sibirien oder sonst wohin, eine eigensinnige und bildungshungrige Frau voller Weltneugier und Lesewut und mit einer Brieffreundin in Magdeburg, mit der sie auf Deutsch korrespondierte – so, wie sie auch Günter Grass auf Deutsch las und Somerset Maugham auf Englisch. Sie war es, die dem Sohn beibrachte, wie man eine Leihbibliothek benützt. Hingegen der Vater: «Er war ein Freiluftmensch», sagt Petterson, «ein Skilangläufer und Waldwanderer, immer unterwegs mit seinen Sportsfreunden in den norwegischen Bergen. Er trug alles mittels Körper aus, nicht mittels Worten. Ich bin ein Nationalromantiker, pflegte er zu sagen. Und das, obwohl seine Herkunftsgeschichte gar nicht norwegisch war, sondern schwedisch.»


«Ich fühle mich, als würde ich in Stücke brechen»

In ihm selber, sagt der Sohn, prallen die unverträglichen Temperamente von Vater und Mutter aufeinander. Er ist ein Misfit und Einzelgänger seit seinen Schultagen und ein autodidaktischer Vielleser wie seine Mutter; und er lebt ein raues, einfaches und naturnahes Leben inmitten der nationalromantischen norwegischen Wildnis, was sein Vater gewiss sehr gebilligt hätte. Manchmal allerdings drohen ihn seine beiden Hälften zu zerreißen – so wie es seine Hündin Laika in Stücke zu reißen droht, wenn sie einen ruhig mümmelnden Elch verbellt, ihn aber leider nicht jagen kann, weil er sich nicht vom Fleck rührt. «Mindestens einmal täglich fühlte ich mich, als würde ich in zwei Stücke zerbrechen, so wie Laika, wenn ihr klar wird, dass sie nicht zugleich den Elch jagen und ein gehorsamer und glücklicher Hund sein kann.»

So schreibt Per Petterson in seiner Erzäh­lung «Der Mond über Porten», einer Geschichte über Identitätsverlust und Wandlungsschmerzen – über die Qualen eines Milieuwechslers aus der Arbeiterschaft, den es mächtig in die Literatur zieht, über seine Angstlust beim Loslassen, Sich-Verlieren und Ein-Anderer-Werden. In finsterster Nacht steht das erzählende Ich allein im Freien und fühlt sich uneins mit sich. Sein früheres und sein heutiges Selbst leiden unter dem unheilbaren Zwiespalt, zugleich die Literatur erjagen und ein gehorsamer und glücklicher Arbeitersohn bleiben zu wollen.

Die Metamorphose ist schmerzhaft und will nicht gelingen. «Ich habe versucht, beide in meinem Körper zu versammeln: den, der ich war, und den, der ich hätte werden können, wenn ich nur einmal richtig losgelassen hätte; ich habe versucht, beide in die eine Person zu gießen, die ich bin, aber es gelingt mir nur selten.» Doch dann teilen sich die Wolken, der Mond scheint über Porten, «und wie ich mich umdrehe und auf den Wald zurückschaue, werfe ich einen klaren, scharf umrissenen Schatten. Sofort spüre ich es: die Trennung von Körper und Nicht-Körper ist so scharf wie ein Messer. Sie tut weh».


Ein heimliches Aufleuchten als Roman-Impuls

Als er sich daranmachte, das Vorleben seiner Eltern literarisch neu zu erfinden, hatte Petterson, wie er erzählt, nichts in der Hand außer winzigen Indizien und Erinnerungsspuren. Sie deuteten darauf hin, dass beide füreinander nicht die große Liebe gewesen waren. Für die Vater­geschichte ging der Sohn von jenem Foto in der Geldbörse aus sowie von einem vagen Familiengerücht über eine «dänische Verlobte» aus Kopenhagen, die es in Vaters Leben einmal gegeben habe. Das genügte ihm, um daraus ein neues Vaterbild zu erschaffen: «Ich wollte meinem Vater mehr Weltkenntnis und mehr Erfahrungen als Mann geben. Er sollte ein großes Geheimnis in sich tragen und ein Mensch von einigem Tiefgang sein, damit ich ihn achten konnte. Ich hätte ihn dann besser verstehen und vielleicht sogar bewundern können.»

Das passte zu dem Wenigen, das Petterson über seine Mutter und deren Leben vor seiner Geburt wusste. «Das Einzige, was mir vorlag, waren ihre Bewegungen als junge Frau. Sie setzte sich gegen Kriegsende von Frederikshavn nach Kopenhagen ab, arbeitete in der Telefonvermittlung, ging dann nach Stockholm und wollte nach dem Krieg nach London, denn sie konnte gut Englisch. Das Geld reichte aber nur bis Oslo.»

Entscheidend dafür, dass der Roman «Sehnsucht nach Sibirien» – eine Art Bildnis der Mutter als junge Frau – überhaupt in Gang kommen konnte, war allerdings etwas anderes: ein Glanz in Mutters Augen. «Immer, wenn sie ihren Bruder in Dänemark erwähnte, leuchteten ihre Augen. Wenn sie über meinen Vater sprach, passierte das nie. Als Kind schloss ich daraus: Der Mann in ihrem Leben war ihr Bruder, nicht mein Vater. Aus diesem Gefühl heraus entstand mein Roman.»

Ganz ähnlich beschreibt Petterson den Impuls, der ihn zu seinem Roman «Pferde stehlen» anregte. Auch hier das plötzliche Aufleuchten in einem Gesicht bei der Erwähnung eines bestimmten Namens, beim Aufblitzen einer bestimmten Erinnerung. In diesem Fall war es Pias Bruder, dessen Augen zu glänzen begannen, wann immer die Rede auf seinen Vater kam.


«Ich könnte ein tibetischer Mönch sein»

So traten sie denn in Per Pettersons Phantasie und ließen sich darin nieder: der Bruder Jesper in «Sehnsucht nach Sibirien» und der Vater von Trond T. in «Pferde stehlen». Sie nahmen geheimnisvolle Romangestalt an, wurden von Seite zu Seite lebendiger und besetzten schließlich das emotionale Zentrum im Buch, umglänzt von der Liebe, mit der ihrer gedacht wurde. So stark war ihr Eigenleben als literarische Gestalten, dass der Autor nachher selbst nicht mehr unterscheiden konnte, «was Fiktion ist und was Realität». Die dänische Verwandtschaft nahm Pettersons Version vom Leben seiner Mutter sowieso für bare Münze – «und da wollte ich sie nicht enttäuschen». Im erweiterten Familiengedächtnis wird sich wohl künftig die Literatur auf Kosten der Lebenswahrheit durchsetzen.

Beide Romane sind große Liebesgeschichten, so inständig wie wortkarg, so glühend wie kummervoll, denn beide bleiben unerfüllt. Gerade ihre Unerfülltheit bildet den Goldrand, der sie in der Erinnerung rahmt: die Liebesgeschichte zwischen Schwester und Bruder im «Sibirien»-Roman und die Liebesgeschichte zwischen einem Sohn und einem Vater in «Pferde stehlen». Beide Männer treten auf als Vielgeliebte und Vielbewunderte – und verschwin­den eines Tages ganz plötzlich und auf Nimmerwiedersehen. Beide werden vom Autor mit dem Charisma und der Kühnheit von Helden ausgestattet: Sie engagieren sich im Zweiten Weltkrieg im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Jesper rettet in Dänemark verfolgte Juden, hilft ihnen übers Meer nach Schweden und muss schließlich selber fliehen; und Tronds Vater leistet in Norwegen Kurierdienste für den Widerstand und hilft Verfolgten über die nahe schwedische Grenze, bis er sich eines Tages davonmacht in ein anderes Leben.

Zuvor aber schenkt er seinem 15-jährigen Sohn Trond einen wunderbaren gemeinsamen Sommer in den norwegischen Wäldern. Es ist ein rauer Männersommer in einer Holzfällerhütte am Fluss, voll von Harz- und Heuduft, von Reiten und Fischefangen, von Grasmähen, Bäumefällen und Holzflößen; aber auch ein Sommer der erotischen Verwirrung (für Trond) und der Liebeserfüllung (für seinen Vater). Erst als alter Mann erkennt Trond, dass dieser Sommer das Abschiedsgeschenk seines Vaters an ihn gewesen ist. Und er begreift, weshalb er selbst sich gegen Ende seines Lebens als Einsiedler in eine Waldhütte am See zurückgezogen hat – unbewusst wollte er jenen Sehnsuchtssommer von 1948 noch einmal für sich nachstellen.

In diesem Roman sind die Hamsun-Anklänge vielleicht am deutlichsten – und zugleich am leichtesten zu widerlegen. «Man kann nicht ein Buch wie ‹Pferde stehlen› schreiben und sich nicht der Existenz eines Romans namens ‹Pan› bewusst sein», sagt Petterson. «Aber der Unterschied zwischen Hamsun und mir ist klar. Hamsun hat die Menschen nicht sehr gemocht. Ich mag Menschen. Sehr sogar.»
Diese Zuneigung verbindet sich allerdings mit einer merkwürdigen Sehnsucht nach Rückzug aus der Gesellschaft. Petterson lässt seinen Arvid davon träumen: «Ich würde in einer Hütte wohnen mit allem, was ich brauche: ein paar Büchern, einer altmodischen Schreibmaschine, Kleidern für jede Jahreszeit und ausreichend trockenem Brennholz, ich könnte ein tibetischer Mönch sein.»

Wie es scheint, wird dieser Traum in Norwegen von vielen geträumt. Per Petterson kennt einschlägige Umfragen: «Die Norweger sind ihrem Temperament nach Puritaner und Einsiedler. Sie sehnen sich nach einer kleinen Waldhütte mit einem guten Feuer im Ofen, einer Handvoll Bücher und ein paar Tieren zur Gesellschaft. Das ist die norwegische Version des Zen-Buddhismus.»

 

Bücher von Per Petterson

Im Kielwasser. Roman
Hanser, München 2007. 189 S., 19,90 €

Sehnsucht nach Sibirien. Roman
Hanser, München 1999. 237 S., 9 € (als Fischer TB 8,95 €)

Pferde stehlen. Roman
Hanser, München 1006. 247 S., 19,90 €

Alle Romane aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.

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