
- Deutschland, peinlich Vaterland?
Mit Heimat assoziieren viele immer noch Gartenzwerge, Lodenmäntel und Vertreibung. Dabei steht der Begriff doch auch für Werte, die unser demokratisches Selbstverständnis ausmachen. Die Begegnung mit Flüchtlingen gibt uns Gelegenheit, ihn von seinem historischen Muff zu befreien
Die politische Diskussion in Deutschland leidet unter einer eklatanten intellektuellen wie sprachlichen Schwäche. Vor allem bei jenem Thema, das seit bald drei Jahren das Land aufwühlt, herrscht eine geradezu abenteuerliche Gedankenarmut, die sich in phrasengesättigten öffentlichen Hohlräumen ausbreitet.
„Bunt“ wird gegen „braun“ in Stellung gebracht, grenzenlose „Weltoffenheit“ gegen bornierten „Nationalismus“. Dem äußerst bescheidenen Niveau dieser Auseinandersetzung entspricht der Drei- bis Fünfwort-Satz. Die berühmtesten lauten „Wir schaffen das“ und „Der Islam gehört zu Deutschland“.
Vor allem die legendäre Äußerung eines ehemaligen Bundespräsidenten von mittelmäßiger Begabung ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine vermeintlich mutige Feststellung so gedankenlos und politisch dumm sein kann, dass selbst das Gegenteil, ihre Verneinung, noch falsch und unzutreffend ist. Die Auseinandersetzung um derartige Glaubensbekenntnisse der schlichten Denkungsart dreht sich notwendig im Kreis, und man erinnert sich dankbar an Sepp Herberger, dessen Satz „Der Ball ist rund“ eine geradezu aufregende philosophische Tiefe aufweist.
Geprägt vom Heimatfilm
Zu den Wörtern, die wie Backförmchen kreuz und quer durch den politischen Sandkasten fliegen und die üblichen Reiz-Reaktionsschemata auslösen, gehört „Heimat“. Auch wenn Edgar Reitz‘ gleichnamige Filmtrilogie vor Jahrzehnten eine kleine Bresche schlug und wir nun sogar einen „Heimatminister“ namens Horst Seehofer haben, über den sich die „Heute-Show“ gratiskomisch lustig machen kann: Seit 1945 war das Wort Teil eines toxischen Vokabulars, ein zumindest anachronistischer, in den Augen großer Teile der Öffentlichkeit reaktionärer, ja gefährlicher Begriff. Schon deshalb galten Heimatvertriebene – ganz im Gegensatz zu den Flüchtlingen von heute – als Fußtruppen revanchistischer, neonazistischer Machenschaften.
Der berüchtigte deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre hat eine ganze Generation schon rein ästhetisch auf die Barrikaden und ins innere Exil getrieben– doch auch die Verdrängungsfunktion des Heile-Welt-Kinos war offensichtlich. „Heimat“ wurde so zum Antipoden jeder ernsthaften Bemühung um Vergangenheitsbewältigung, Aufklärung, Fortschritt und Zukunft.
Gartenzwerge und Lodenmäntel
Die Rede von der Heimat atmete den Nazi-Geist von „Blut und Boden“, dunkelbrauner Ackerscholle und Jägerzaun, hinter dem sich eine ganze Armada von Gartenzwergen verschanzte. Das Zigeunerschnitzel im „Goldenen Hirschen“, dem ein oder zwei „Jägermeister“ zu folgen hatten, komplettierte das Bild der Heimat, zu der der Lodenmantel genauso gehörte wie der sonntägliche Kirchgang und das örtliche Schützenfest, für das der Metzgermeister stets 500 Grillwürste beisteuerte.
Das alles war ein Graus, eine protofaschistische Spießer-Vorhölle, die in den siebziger Jahren die damals 18-25-Jährigen massenhaft in die Flucht trieb – in Richtung Berlin, München, Frankfurt, Köln und Hamburg. Parole: Deutschland peinlich Vaterland.
Mit politisch aufgeladener Inbrunst reiste man nach Frankreich und Italien, beschäftigte sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg, half portugiesischen Olivenbauern bei der Ernte, aß Pasta statt Birkel-Eiernudeln, Baguette statt Schwarzbrot und trank Grappa statt Korn. Traf man im Ausland auf deutsche Touristen, dann schämte man sich. Um nicht als „Landsmann“ erkannt zu werden, bemühte man sich um das Erlernen möglichst mehrerer Fremdsprachen. Die Zahl der Italienisch-Kurse explodierte, vorzugsweise im Verbund mit einem mehrwöchigen Strandaufenthalt bei Cinque Terre.
Die Innenausstattung der Wohngemeinschaften war das genaue Gegenteil des patriarchalischen Familienheims: Orangenkisten statt Gelsenkirchener Barock, Matratzen statt Eichenholzbett mit Wandleselampe in Tulpenform. Bloß keine falsche Gemütlichkeit. Auch der bürgerliche Sauberkeitsfimmel wurde nachhaltig bekämpft – vor allem durch kreatives Nichtstun. Der ominöse Putzplan stand meist nur auf dem Papier. Wirklich zuhause war man in der Welt draußen.
Die linke Szene als Ersatzheimat
Von nun an ging es um Gesellschaft statt Dorfgemeinschaft, um Emanzipation und Autonomie, Vietnam, Orgasmusschwierigkeiten und Weltrevolution. Sauerbraten, Lederhosen und Christmette gehörten zu einer anderen Galaxie. Man suchte eine neue Heimat in fremden Kulturen. Dabei reiste man bis nach Afghanistan und Indien.
Die oberschlesischen Heimatvertriebenen und die Sudetendeutschen trafen sich derweil immer noch jedes Jahr an Pfingsten, und der deutsche Schlager war einfach nicht totzukriegen. Dafür dröhnten die Boxen in den Wohngemeinschaften umso lauter. „Light my Fire“. Derweil zog der Jasmintee auf dem Stövchen, der Ölofen bollerte vor sich hin, und gleich tagte die Stadtteilgruppe.
Während die WG zur Ersatzfamilie wurde, entwickelte sich die linke Szene, ohne dass es irgendjemand bewusst war, zu einer Ersatzheimat, die schnell tiefe Wurzeln in die aufgewühlten Seelen schlug. Ein Netz aus Alternativläden, politischen Gruppen und linken Kneipen bildete das neue Dorf, Zentrum der gemeinsamen Sehnsüchte und Utopien – die emotionale Matrix der zweiten Heimat. Männer, pardon: Genossen, begrüßten sich mit fahrigen Umarmungen ersatzweise kleinen Boxschlägen an die Schulter, bei Frauen dauerte es ein wenig länger, und es war meist zärtlicher, weniger verklemmt.
Doch so sehr man ständig mit der Revolution beschäftigt war, die gerade keine Heimat kennt, so stark war die Identifikation mit den lokalen Gegebenheiten des revolutionären Kampfes. Nicht nur bei Hausbesetzungen offenbarte sich ein ganz eigener Lokalpatriotismus von links, die Verteidigung von Revieren und Reservaten, die Bindung an die alternative Scholle diesseits des Horizonts, und sei es die Landkommune im Vogelsberg oder die „Republik Freies Wendland“. „Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus!“ sang Rio Reiser mit „Ton, Steine, Scherben“ durchaus besitzerstolz im berühmten „Rauchhaus-Song“.
Bochum, ich häng an Dir!
Das intensiv durchlebte Drama der Selbst- und Weltveränderung brauchte nicht nur symbolische Orte, sondern auch Rückzugsgebiete, in denen man sich wohl und verstanden, „zu Hause“ fühlte, wo es Sicherheit und Geborgenheit. Eh voilà.
Selbstverständlich wäre niemand etwa in der Frankfurter Sponti-Szene auf die Idee gekommen, das linksradikale Milieu als „Heimat“ zu bezeichnen, in der laut Ernst Bloch ja sowieso noch niemand wirklich war. Doch heute, mehr als 40 Jahre später, empfindet jeder, der Teil dieser Szene war, zuweilen ungeahnte Heimatgefühle samt sporadischer Wehmutsanfälle quer durch Raum und Zeit, die es mühelos mit Herbert Grönemeyers transzendenter Bochum-Liebe aufnehmen können.
Es gehört zu den Absurditäten der politischen Debatte unserer Tage, dass Asylbewerber, Migranten, Schutzsuchende, Flüchtlinge oder Geflüchtete ihre Heimat verlassen, um sich bei uns in Sicherheit zu bringen, hierzulande aber angeblich nur auf hochgestimmtes Weltethos und das Asylbewerberleistungsgesetz treffen sollen, doch bei Gott nicht auf Menschen, die Deutschland, Bayern, das Allgäu, Amrum oder Kyritz an der Knatter ihre Heimat nennen und sie so lieben wie Syrer, Iraker und Afghanen die ihre.
Dabei läuft gerade diese bigotte Selbstverleugnung dem wohlverstandenen Interesse an gelungener Integration diametral zuwider: Wo hinein sollen denn Menschen aus Afrika integriert werden, wenn die aufnehmende Gesellschaft selbst nicht weiß, was sie ist, woher sie kommt und was sie will? Was sie prägt, besonders macht, erfolgreich, liebenswert und attraktiv.
Heimatbindung wird nur Fremden zugesprochen
Die ganze Welt weiß, was „typisch deutsch“ ist. Die ehemalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung weiß es bis heute nicht. Routiniert wird auf das Grundgesetz von 1949 verwiesen, von dem allerdings kaum ein Migrant je gehört haben, geschweige denn, es gelesen und verstanden haben wird. Dennoch: Mehr als ein geschichtsloser, abstrakter „Verfassungspatriotismus“ à la Habermas ist nicht im Angebot des malstift-„Bunten Deutschland“. Denn das ausdrücklich Eigene – die in Jahrhunderten gewachsene Kultur, Traditionen, Alltagsgewohnheiten – grenze die anderen aus, sei diskriminierend, ethnozentristisch, schlimmstenfalls rassistisch. Identität, kulturelle Prägung und Heimatbindung wird nur den Fremden zugesprochen, so die Reflexe eines immer noch großen Teils der politisch-kulturellen Öffentlichkeit.
Inzwischen jedoch dringt die Wirklichkeit „draußen im Lande“ mehr und mehr in die realitätsblinden Diskurskorridore, und plötzlich richtet sich die harmlose Frage „Na, geht’s wieder mal in die Heimat?“ nicht mehr nur an die kofferpackenden türkischen Nachbarn in Gelsenkirchen, sondern auch an traditionsbewusste Schwaben im Prenzlauer Berg, die zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten für ein paar Tage ins Reich von Daimler, Maultasche und Trollinger heimkehren.
Der Kern der Zivilgesellschaft
Längst ist vielen klar, dass die je verschiedenen Heimatbindungen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft alles andere als einen Widerspruch zu den Prinzipien der europäischen Aufklärung bilden. Im Gegenteil: Sie sind der Ort, an dem die in Sonntagsreden rituell apostrophierten Werte und Regeln ganz praktisch gelernt und gelebt werden – selbst da, wo über sie erbittert gestritten wird. Sie machen den realen Kern jener selbstbewussten „Zivilgesellschaft“ aus, die stets als rhetorische Allzweckwaffe ins Feld geführt wird, wenn es um die „Rettung“ der Demokratie geht.
Weinliebhaber kennen den aus Frankreich stammenden Begriff des „Terroir“. Damit ist nicht nur die bloße Erde gemeint, auf dem die Reben wachsen, es geht auch um die Landschaft, die Lage, das Klima, die Weinbautradition, kurz, um eine je besondere Mischung aus Geist und Materie. Vielleicht ist Heimat, so verstanden, stets eine Mischung aus Leitkultur und „Terroir“ – auch wenn es dafür noch keine deutsche Übersetzung gibt.