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Gesinnungsdebatte um Gergiev und Heidegger - Unser deutsches Moraltheater

Dem designierten Chef der Münchner Philharmonie, Valery Gergiev, wird allzu große Nähe zu Putin vorgeworfen. Sein Fall erinnert an den Umgang mit dem Philosophen Martin Heidegger: Wenn sich die Öffentlichkeit empört, setzt sie gerne die Gegenwart absolut

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Michael Stallknecht ist Musikkritiker und Autor und spielt zur Erholung gerne Bach am Klavier

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Im kommenden Jahr soll der russische Dirigent Valery Gergiev neuer Chef der Münchner Philharmoniker werden. Doch aufgrund seiner persönlichen Nähe zum Staatspräsidenten Vladimir Putin ist Gergiev umstritten. Kritiker werfen ihm vor allem einen offenen Brief vor, in dem er gemeinsam mit anderen russischen Kulturschaffenden die russische Ukraine-Politik offensiv unterstützte.

Inzwischen hat sich der Dirigent mit einem weiteren offenen Brief an die Abonnenten der Münchner Philharmoniker gewandt. Darin erinnert er an den kulturellen Unterschied zwischen dem traditionalistischen, der orthodoxen Religion verpflichteten Russland und dem Westen, der derart liberal auch noch nicht lange sei. „Ich bin Dirigent und Musiker“, schreibt Gergiev. „Aber ich bin auch Russe und meinem Heimatland eng verbunden.“

Der Brief trifft tatsächlich den blinden Fleck so vieler gegenwärtiger Debatten. Die öffentliche Empörung fällt nämlich meistens umso rigoroser aus, als sie von den konkreten Umständen absieht, unter denen einer handelt. Sie will nichts davon wissen, dass Russlands erfolgreichster Dirigent natürlich einen politischen und längst auch hierzulande bekannten Hintergrund mitbringt; sie sieht auch von der historischen Entwicklung ab, die der Westen selbst durchlaufen hat. Als umstandsloser Maßstab des Urteils gilt das eigene Hier und Jetzt, also der verkehrsberuhigte deutsche Durchschnittsalltag.

Die frisch angefachte Debatte um Martin Heidegger ist dafür nur ein weiteres, wenn auch weit schwierigeres Beispiel. Das Verhältnis des Philosophen zum Nationalsozialismus ist in der philosophischen Wissenschaft schon lange Gegenstand umfangreicher und komplexer Debatten. In den nun erstmals veröffentlichten „Schwarzen Heften“ der Jahrgänge 1931 bis 1941, einer Art Denktagebuch Heideggers, finden sich einige dezidiert antisemitische Bemerkungen. Bei den gut zehn Stellen auf knapp 1300 Seiten handelt es sich um üble Klischees aus der kulturkonservativen Ecke, wie sie sich freilich auch bei vielen anderen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts finden. Das macht sie nicht besser, und verharmlosen sollte man sie nicht. Aber die geheimen Aufzeichnungen eines leidenschaftlichen Antisemiten stellt man sich doch anders vor. Erst recht in den Jahren 1931 bis 1941.

Kein Blick für die Verhältnismäßigkeit
 

Dennoch inszenierten viele Kommentare die „Schwarzen Hefte“ als neuen Schlüssel zum Gesamtwerk. Nicht wenige stellten infrage, ob man Heidegger überhaupt noch lesen dürfe. Dass der Philosoph in der realpolitischen Öffentlichkeit des Nationalsozialismus gerade nicht durch rassistische Äußerungen aufgefallen war, interessierte plötzlich nicht mehr. Einen leicht surrealen Höhepunkt erfuhr die Debatte durch die Literaturkritikerin Elke Heidenreich. In der Schweizer Fernsehsendung „Literaturclub“ unterstellte sie Heidegger mit einem gefälschten Zitat, in den „Schwarzen Heften“ die Beseitigung der Juden aus Deutschland herbeigewünscht zu haben.

Wer so spricht, hat nicht nur den Blick für alle Verhältnismäßigkeiten verloren, er argumentiert auch im geschichtsfreien Raum. Er denkt Menschen als weltlose Gesellen, bei denen einzig die Gesinnung zählt, das konkrete Handeln dagegen nichts. Die vollständige Freiheit bleibt immer eine hypothetische Freiheit. Das war das Problem schon des deutschen Idealismus, der die Autonomie auf den Schild hob. Das Ich war damit in der Theorie vollkommen frei, realpolitisch aber passte diese Philosophie nahtlos ins unpolitische Biedermeier.

Menschen handeln immer schon unter konkreten Bedingungen. Wer nie schlecht handeln will, kann auch nicht gut, er kann schlicht überhaupt nicht handeln. Historische und kulturelle Prägungen gehören zu diesen Bedingungen an vorderster Stelle. Weil der Einzelne nie alle diese Bedingungen überschauen kann, kann ihm auch nie eine Totalverantwortung für sie zugeschrieben werden. Russische Dirigenten sind also erstmal nicht für ihre nähere Bekanntschaft mit russischen Präsidenten zu belasten. Warum, hat der Philosoph Robert Spaemann in einem unbedingt empfehlenswerten Essay mit dem Titel „Wer hat wofür Verantwortung?“ geklärt. Die Zuschreibung einer bedingungslosen Verantwortung, schreibt er dort, könne „nur zur Resignation und zur Abstumpfung des Gewissens gegenüber den wirklichen Verantwortlichkeiten führen“. Es genüge dann, sich auf der richtigen Seite politisch zu engagieren, um das gute Gewissen wiederzugewinnen.

Es ist genau dieser Punkt, der viele Debatten derzeit so mechanisch und ermüdend, geist- und fruchtlos wirken lässt. Eine Moral, die von allen konkreten Umständen absieht, ist nämlich eine Moral für Zuschauer. Deshalb ist sie nicht nur weltfremd, sondern auch noch bigott. Sie gehört zu einer massenmedialen Gesellschaft, die die Welt vor allem aus dem Fernseher, also buchstäblich aus der Ferne erfährt. Dort macht sie denen ein gutes Gewissen, die zum Handeln gar nicht Gelegenheit haben. Sie wartet brav hinter den Kulissen, bis sie auf ihr Stichwort hervortritt, ihrer Empörung Luft macht und zur anderen Seite umstandslos wieder verschwindet. Die Empörungswellen verhindern so genau die Debatten, die sie anzustoßen behaupten. Das ist nicht nur sehr schade, sondern vielleicht sogar wirklich empörend.

Nachträgliche Anmerkung des Autors, 18. März 2015: Aufgrund der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Debatte und mit dem jüngsten Erscheinen der Schwarzen Hefte für die Jahre 1942 bis 1948 gehe auch ich davon aus, dass nationalsozialistisches Gedankengut tiefer in Heideggers Philosophie verankert ist, als in diesem Text noch angenommen. Das gilt vor allem, weil Heidegger selbst die Schwarzen Hefte zur Veröffentlichung und damit als Teil seines Werks bestimmt hat. Das allgemeinere Problem der Skandalisierungslogik bleibt jenseits dieses konkreten Falls erhalten. M. St.

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