Kölner Südstadt
Die Architektur der Gründerzeit prägt deutsche Städte bis heute, hier in der Kölner Südstadt / dpa

Gründerzeit - Vom Spekulationsrausch zum großen Krach

Die Wirtschaft des Kaiserreichs erlebt nach 1871 einen rasanten Aufschwung. Das Spekulationsfieber treibt die Aktienkurse in die Höhe. Die Euphorie der Gründerzeit hält genau zweieinhalb Jahre an, dann folgt der Crash. Sündenböcke sind schnell gefunden: Der Antisemitismus gehört zum verhängnisvollen Erbe der Gründerkrise.

Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

So erreichen Sie Ulrike Moser:

Das Geld liegt auf der Straße, man muss es nur noch aufheben! Was für Möglichkeiten eröffnen sich mit einem Mal! Die Berliner Wertpapierbörse, ein Prachtbau an der neuen Friedrichstraße, ist zur Zockerbude geworden, und wer immer kann, will mit dabei sein. „Volkstempel der Versuchung“ nennt sie ein Beobachter. Es ist eine äußerst vielgestaltige Schar, die hier wie im Casino ihr Glück sucht, unter ihnen findet sich, so ein Zeitgenosse, „der clevere Kapitalist“ ebenso wie der „unerfahrene Kleinbürger, der General ebenso wie der Kellner, die Frau von Welt, der mittellose Klavierlehrer und das Marktweib“.

Das junge Kaiserreich ist mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Bereits seit der Jahrhundertmitte hat sich die Industrialisierung beschleunigt. Die Reichsgründung von 1871 fällt in eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich weiter fortsetzt, mehr noch, alle Merkmale eines überschäumenden Booms aufweist. Wesentlichen Anteil daran haben die unglaublichen fünf Milliarden Goldfranc, deren Zahlung Frankreich im Mai 1871 im Frankfurter Friedensvertrag auferlegt worden war. Ein Teil der Reparationen wird in die Modernisierung des Heeres und den Festungsbau investiert. Mit einem anderen Teil werden Kriegsanleihen zurückgezahlt, die Reichsregierung vergibt großzügige Dotationen an Generäle und Politiker – Geld, das nach neuen Anlagemöglichkeiten sucht und den deutschen Kapitalmarkt überschwemmt. Geld, das die Wirtschaft des jungen Staates entfesselt, Goldgräberstimmung, eine nie dagewesene Gier entfacht.

Cicero Plus weiterlesen

  • Monatsabo
    0,00 €
    Das Abo kann jederzeit mit einer Frist von 7 Tagen zum Ende des Bezugzeitraums gekündigt werden. Der erste Monat ist gratis, danach 9,80€/Monat. Service und FAQs
    Alle Artikel und das E-Paper lesen
    • 4 Wochen gratis
    • danach 9,80 €
    • E-Paper, App
    • alle Plus-Inhalte
    • mtl. kündbar

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

Karl-Heinz Weiß | So., 5. Dezember 2021 - 09:58

Das Problem des Antisemitismus erscheint mir im sehr lesenswerten Beitrag zu sehr auf die Gründerzeit fixiert. Seit der ins Extreme gesteigerten Judenfeindlichkeit von Martin Luther gibt es im deutschsprachigen Bereich eine lange Linie. Auch im Lutherjahr 2017 wurde dieses Problem nur unzureichend beleuchtet. Österreich (in der Nachfolge des Habsburger Reiches) übt sich sowieso in gewohnter Weise in Schweigen.

Dorothee Sehrt-Irrek | So., 5. Dezember 2021 - 10:48

gar nicht fremd, überhöhte Reparationszahlungen?
Das nivelliert die enormen Forderungen an Deutschland nach dem 1. Weltkrieg.
Der langen Reihe antisemitischer Vorurteile (s.a. Herrn Weiss) fügt sich ein weiteres hinzu und ein weiterer Baustein zu einem Lehrstück mit dem Namen "Wie schliddere ich ungebremst in eine Katastrophe?"
Deshalb interessiert mich angesichts der Höhenflüge der Aktienmärkte die Bremsung.
Ich sehe Aktienmärkte als etwas Positives für eine Volkswirtschaft, wenn sie kontrolliert werden und gegebenenfalls abgebremst werden können.
Eine 3. Säule der Rentenversicherung spricht evtl. nicht dagegen, eine Finanzmarkttransaktionssteuer in jedem Fall dafür.
Diese Steuer müßte grundsätzlich die 3. Säule der Rentenversicherung absichern und vieles mehr.
Die Volatilität der Aktienmärkte wird wohl kaum abzuschaffen sein, aber deren Auswirkungen könnten begrenzt werden.
Privater Gewinn durch Vergesellschaftung der Schulden ist nicht die Lösung:
FINANZMARKTTRANSAKTIONSSTEUER

Werte Frau Sehrt-Irrek, so sehr mir Ihre Ideen auch gefallen, die beiden o. g. werden das nie mitmachen.

Ja, es bedarf vieler Korrekturen, nur war die Politik so naiv (u. faul?) u. hat die Player selbst die Rahmenbedingungen formulieren lassen, nach denen "gespielt" wird.
Das war u. ist seit vielen Jahren so. Nicht erst s. 2008 (Bankenkrise).

Auch jetzt wieder, als durch Wirecard ruchbar wurde, dass das Arbeits(Abhängigkeits-)verhältnis zw. Wirtschaftsprüfern u. deren Auftraggebern so nicht i. O. sein kann.
Allein, dass es nur noch 4 große WiPrüfer gibt ist schon ein Skandal.

Gegen den Spruch "Kapital ist ein flüchtiges Reh" hilft m. E. nur, jedes Unternehmen dazu zu verpflichten, ganz egal wo es seinen Sitz hat, seine Umsätze nun noch in dem Land zu versteuern in dem die Umsätze getätigt wurden. Schluss mit den Gewinnschiebereien, bis man die 0,005 % Steuer erreicht hat.
Legal ist das nur weil die Politik es zugelassen hat u. lässt.

Sie sehen die Aktienmärkte als etwas Positives für die Volkswirtschaft unter der Prämisse der Kontrolle. Vollkommen richtig. Doch wer soll die Überprüfung vornehmen? Die BaFin? Sie untersteht dem Finanzministerium, dem Staat.
Wie unzuverlässig diese Überprüfungen sind, zeigte Scholz in dem WireCard- Skandal. Er blockiert alle Beweismittel. Weitere Betrugsfälle bleiben unberück-sichtigt.

Wie verführerisch Aktien sein können, zeigte damals die Regierung Schröder
mit billigen Telekomaktien. BK Schröder, FA Eichel - beide SPD - Ron Sommer, Chef der Telekom, versprachen höchste Gewinne bis über € 100.

Aktien wurden gekauft, der Euro wuchs. Die Gier überschlug sich, das Denken setzte aus. Die plötzlichen Spekulationen über Sommers baldige Ablösung von der Telekom ließen die Aktien abstürzen. Gutgläubige Kleinaktionäre
verloren ihre Altersvorsorge, Existenzen, Familien zerbrachen.

Die Opposition beschuldigte Schröder/Eichel der gigantischen Abzocke von
Millionen Kleinaktionären.

Christa Wallau | So., 5. Dezember 2021 - 11:27

und dabei nicht einmal körperlich schwer arbeiten müssen, so wie dies die allermeisten Leute täglich tun, ziehen immer den Neid derer auf sich, welche nicht mit weltlichen Gütern gesegnet bzw. sogar richtig arm sind.
Dies ist so, und es wird ewig so bleiben.

So läßt sich in erster Linie auch der Haß der Schwarzen auf die Weißen in den USA und anderswo erklären. Heute sind es nicht mehr nur die Juden, denen man ihren finanziellen Erfolg u. den damit verbundenen Einfluß auf die Politik übel nimmt, sondern "die alten weißen Männer" ganz allgemein, die zu Sündenböcken für alle geworden sind, die sich zu kurz gekommen fühlen.
Neid gehört zu den wichtigsten Gefühlen, aus denen heraus Menschen zu aggressivem Handeln getrieben werden. Deshalb
muß jede vernünftige Politik diesen Faktor bei allen Maßnahmen berücksichtigen.
Jede vorbildliche staatliche Ordnung sorgt dafür, daß die Unterschiede zwischen Reichen u. Armen nicht zu groß werden, damit der innere Frieden im Land gewahrt bleibt.

Charlotte Basler | So., 5. Dezember 2021 - 11:39

Gewesen, sehr geehrte Frau Sehrt-Irrek. Verhindert hat diese Herr Scholz. Sie können das in mehreren Artikeln nachlesen. Dieser Auszug stammt aus dem Handelsblatt v 03.03.30: „Kurz kritisierte, die Pläne aus Berlin und Paris hätten mit den ursprünglichen Vorschlägen aus zahlreichen EU-Ländern nichts mehr zu tun. „Wir sind dagegen, hochspekulative Geschäfte und Derivate von einer Finanztransaktionssteuer auszunehmen und stattdessen die Realwirtschaft und die Kleinanleger zu bestrafen“, sagte er der Zeitung „Welt“. „Wir wollen die Spekulanten besteuern, nicht die Sparer,..“
Was soll man dazu sagen?

Rob Schuberth | So., 5. Dezember 2021 - 14:04

Um ein System zu beherrschen u. nachhaltig zu beeinflussen bedarf es ca. 30 % Anteil daran.

D. h. schon wer nur weniger als 1/3 für sich gewinnen kann, der kann - auf Sicht - ganze Systeme umstürzen.
Bestes Bsp. unser ÖRR u. die MSM (da ja auch gr. T. der Privaten so agieren).

Wir beobachten, wie sich ein System seinem kritischen Ende nähert.
Es ist, wie bei div. Autoren nachzulesen, nur noch eine Frage der Zeit wann sich die unteren Schichten das Verhalten der sogn. Eliten (u. die die sich dafür halten) gefallen lassen wird.

In unseren globalen Wirtsch.systemen wurde zu vieles auf viel zu dünne Spitzen getrieben. D. h. fast alles läuft "auf Kante". Auf Reserven wurde, bewusst u. zu Gunsten des Profits, verzichtet.

Dieses System ist zwar extrem profitabel, aber eben nur in optimalen Zeiten.
Die Unis müssen anfangen wieder Realismus (u. weniger cc u. Gendern) zu lehren.

Mangels Einsicht bei den Verantwortlichen sehe ich eher ein schw. Ende...einen Crash wie 1929.

dass der Staat als Akteur für seine Staatsbürger ein derartiges Gewicht an den Börsen einnehmen könnte, dass man dadurch zu einer größeren Stabilität der Aktienmärkte käme.
Es wäre ja nun nicht das individuelle Spekulieren, das dadurch Auftrieb erhalten soll.
Wie das halbwegs sicher, weil abgesichert geschehen könnte, sollten wir in der Tat sehr genau bedenken.
Ich war auch ein Fan der Riesterrente, die ja auch Selbständigen und Hausfrauen offen stand.
Ich habe sie nur minimalst ausprobiert.
Zwar mag es erhebliche Mängel geben, ein Vorteil ist aber, dass sie ausbezahlt wird.
Ob ich als Spekulierende an der Börse besser gefahren wäre?
Es hätte Zeit und ständiger Aufmerksamkeit bedurft.
Es interessiert mich nun mal und Schröder fand ich politisch ausgesprochen interessant, er war allerdings evtl. zu sehr ein politischer Macher, aber ein politischer Macher war er.
Das kann man nun nicht mehr erwarten, dafür wird es hoffentlich zu unser aller Wohlfahrt überlegter und abgestimmter zugehen.