Schwerpunkt: Literatur Russland - Glanzvoll täuschende Endspiele

Abgott der neuen Russen: Vladimir Nabokov und seine späten Romane. Ein Leitfaden durchs Labyrinth

Vladimir Nabokov, der neu entdeckte Übervater der russischen Gegenwartsliteratur, war einer der biografischsten Künstler des 20. Jahrhunderts und gewiss der raffinierteste von ihnen. Hingebungsvoll und akribisch hat er die Verzerrungsmechanismen des Gewerbes studiert, gefeiert und erlitten.
 
So wirkt der junge Schriftsteller Fjodor in «Die Gabe» (1938), dem letzten der neun noch auf Russisch geschriebenen Romane Nabokovs, als Biograf des Vaters von Vladimir Nabokov, der als Schmetterlingsforscher und Asienreisender leicht durchschaubar verkleidet ist. Und er schreibt zugleich an einer subtilen, zerrspiegelhaften, defätistischen Lebensbeschreibung Nikolaj Tschernyschewskijs, des Kolportage-Schriftstellers und Lieblingsdichters Lenins (diese Biografie ist dem Roman eingefügt). 
 
Im ersten auf Englisch geschriebenen Roman Nabokovs «Das wahre Leben des Sebastian Knight» (1941) gibt es den Biografen V., der an seinem Halbbruder, einem verstorbenen russischen Dichter, wieder gutmachen will, was ihm dessen Ex-Sekretär Mr. Goodman mit einer biografischen Schrift zugefügt hat. Das Meisterwerk «Fahles Feuer» (1962) schließlich demonstriert, wie sich ein größenwahnsinniger Interpret in einer Sintflut von Fußnoten über das Leben und das im Original beigefügte 999-zeilige Großgedicht des Poeten John Shade hermacht. 
 
Nabokov war 73 Jahre alt, als er 1972 das elegante und knappe Meisterwerk «Durchsichtige Dinge» beendete. Bereits 1974 folgte mit «Sieh doch die Harlekine!» das wesentlich umfangreichere, absichtlich verworrene und komische Versteckspiel, von dem man analog zur Schachsprache sagen kann: Autor schlägt Biografen durch Selbstklonierung mit anschließender Mimikry in drei Zügen.
 
Schachprobleme, die zu erfinden Nabokov sein Leben lang Vergnügen bereitete, sind in aller Regel Endspiele. Im Falle von Nabokovs brillantem und heiter gedoppelten Roman-Abgang ist der Versuch, dieses Endspiel zu verstehen, nicht ganz einfach. Genüsse und Zumutungen wechseln, und man darf Nabokovs Autobiografie der Jahre 1899–1939, «Erinnerung, sprich», glauben, wenn er schreibt: «Täuschungsmanöver bis zur Grenze des Diabolischen und eine Originalität, die ans Groteske grenzte, waren mein strategisches Ideal.» 
 
Für solche Manöver sind in literarischer Hinsicht Biografie und Autobiografie das am besten geeignete Feld. Selbst in seiner Autobiografie «Erinnerung, sprich» tritt Nabokov nicht so auf, wie es der Leser gern hätte, eben als «Mensch Nabokov», der seine künstlerische Rüstung abwirft und sich in die Karten oder unters Bett schauen lässt. Den gläsernen Schriftsteller, den Autor als «durchsichtiges Ding», findet man anderswo, nämlich in der Trug-Autobiografie «Sieh doch die Harlekine!».
 
Subtile Revanche am Biografen Diese Schein-Autobiografie hat einen biografischen Hintergrund. Während Nabokov noch an den «Durchsichtigen Dingen» arbeitete, begann sich das Dilemma mit seinem Biografen Andrew Field schon abzuzeichnen. Am 13. Januar 1973 sah er zum ersten Mal das Typoskript zu dem Buch «Nabokov: His Life in Part» und war davon formal und inhaltlich entsetzt: Das Manuskript strotzte von Fehlern. 
 
Juristische Auseinandersetzungen mit Field überschatteten die Jahre bis zu Nabokovs Tod im Sommer 1977. Den literarisch relevanten Kampf hatte er aber bereits an jenem 13. Januar aufgenommen: Noch im Schockzustand, aber auf eine solche Attacke wie nach einem jahrzehntelang absolvierten Selbstverteidigungstraining vorbereitet, begann er seine Notwehr – eben mit dem Roman «Sieh doch die Harlekine!». 
 
Der Literaturwissenschaftler Field mutet im historischen Rückblick so sehr wie eine Erfindung Nabokovs an, dass man ernstlich Zweifel an seiner realen Existenz haben könnte. Indessen gab es ihn, und so sah sich Nabokov zur literarischen Selbstklonierung genötigt, indem er den schwer genießbaren Schriftsteller Vadim Vadimovich ins Leben rief, der ihm so ähnlich sehen sollte, dass man sich nicht mehr traute, einen der beiden zu fressen beziehungsweise für authentischer als den anderen zu halten. 
 
Dieser Nabokov-Harlekin Vadim Vadimovich, dessen ausführliche Lebensbeichte den Inhalt des vorliegenden Romans bestimmt, wird im selben Jahr wie Nabokov geboren und stirbt vermutlich nicht viel früher. Natürlich ist auch er ein russisch-englischer Schriftsteller. Sein berühmtestes Buch, das ihn reich macht und es ihm ermöglicht, seinen Lebensabend im Tessiner Hotel Gandora Palace zu verbringen, handelt selbstredend vom sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen. Wie die Arbeitsfassung von «Lolita» heißt Vadimovichs Roman denn auch «Ein Königreich am Meer».
 
Verneigung vor Lewis Carroll Leider muss man sagen, dass – wie bei so manchem wirklichen Zeitgenossen auch – das Leben des Vadim Vadimovich nicht so interessant ist wie das Verfahren, das ihn hervorgebracht hat. Die titelgebenden Harlekine sind in vielfacher Hinsicht eine Hommage an Lewis Carroll, insbesondere an das zweite und vielleicht sogar bessere seiner «Alice»-Bücher, in dem die Heldin durch einen Spiegel in eine andere, einigermaßen verkehrte Welt eintritt und ein von Schachzügen vorgezeichnetes Abenteuer erlebt. 
 
Die durch den Zerrspiegel geschickte Nabokov-Imago Vadim Vadimovich kann das Leben des großen Schriftstellers nicht so erfolgreich wiederholen, und die Detailliertheit, in der es uns entgegentritt, wird wohl nur eingefleischte Nabokov-Liebhaber entzücken. Erschwerend, aber nicht immer nur erschwerend, kommt die stilistische Mimikry des Romans hinzu. Wie schon in einigen Fällen zuvor hat Nabokov mit Vadim nicht nur einen etwas anderen Autor, sondern auch dessen Sprache erfunden. 
 
Der Stil der Autobiografie ist also verzerrt nabokovianisch, er verunstaltet die Signatur des Meisters mit Derbheiten, Nachlässigkeiten, Verschleifungen, umgangssprachlichen Einsprengseln. Diese außerordentliche Finesse bringt den Nachteil mit sich, dass man am Ende tatsächlich den Roman eines Schriftstellers liest, der über weite Strecken nicht so gut schreibt wie Nabokov. Tröstlich dabei sind szenische und modische Freiheiten, die sich der Über-Vadim Vladimir Nabokov so nicht erlaubt hätte – ich denke etwa an die Entjungferung der zweiten Vadim-Gattin Annette mit dem allerdings wieder nabokovianischen Fazit: «Ich kriegte sie jedoch nie ganz zahm.»
 
Dass Vadim Vadimovich am Ende seines Lebens dennoch mit Genugtuung von sich denken kann, er sei wohl doch ein hervorragender Schriftsteller, liegt daran, dass ihm Nabokov immer wieder beisteht. Es ist auch sehr schön, dass Vadim in seinen weniger glücklichen Momenten die Existenz eines überlegenen Doppelgängers auf der anderen Spiegelseite ahnt, dass er sich und seine Bücher als schwache Kopien des Lebens und Schaffens des anderen begreifen muss, zum Schluss sogar den Verdacht hegt, nur die Erfindung des anderen Autors zu sein, eines gewissen MacNab vielleicht oder eines britischen Politikers namens Mr. Nabarro. 
 
Der notorische Herr Notorow Ob es einer von diesen ist, womöglich ein Herr namens Nabedrin oder auch der notorische Notorow, kann uns ganz gleich sein. Wichtig ist nur, dass man dem armen Vadimovich die Hand bei jenen brillanten Seiten und Szenen geführt hat, deretwegen sich die Lektüre von «Sieh doch die Harlekine!» unbedingt auch für mutige Nabokov-Laien lohnt.
 
Nach der unmittelbar aufeinander folgenden Lektüre beider Romane erscheinen die «Durchsichtigen Dinge» eines lächelnden toten Erzählers als das bedeutendere Kunstwerk. Wenn man über die Schwächen der mit dem Leben einer fiktiven Schriftstellerfigur lustvoll kontaminierten Nabokov-Biografie nachdenkt, wird man zunächst das Übermaß an Details und die nur Spezialisten verständlichen Anspielungen beklagen.
 
Nun finde ich aber eine merkwürdige Korrespondenz der Enttäuschung bei der Lektüre des «Harlekin»-Romans und der wirklichen Autobiografie «Erinnerung, sprich», die so wenig Bekenntnisse und Analyse enthält, dass man mitunter auch dort den Stellvertreter Vadim auftreten lassen könnte. Es war nicht Nabokovs Art, sich eigenhändig zu vivisezieren oder den Schritt zur raffiniertesten Mimikry zu tun, bei der man sich als das tarnt, was man ist. Und ebenso wenig hat er den Zynismus und selbstkritischen Furor aufgebracht, der nötig gewesen wäre, um das Leben des Vadimovich zur einer wirklich fesselnden Angelegenheit zu machen. 
 
So bleibt für mich die beste Nabokov-Autobiografie, als «privatestes Buch, mit Wirklichkeit durchtränkt und von Sonnenflecken gesättigt», das auf dem Planeten Demonia spielende «Ada oder Das Verlangen», auch wenn man mitunter den Eindruck haben kann, dass es sich bei diesem Roman um eine unbewusste Nachahmung der unirdischen Kunst eines anderen handele. Aber sorry, das denkt natürlich Vadim Vadimovich über sein Hauptwerk «Ardis», und dem ist nun wirklich nicht zu trauen.   Thomas Lehr lebt als Autor und Essayist in Berlin. Bekannt wurde er mit dem Roman «Nabokovs Katze». Zuletzt veröffentlichte er die Novelle «Frühling» (2001)


Vladimir Nabokov
Gesammelte Werke. Band XII. Durchsichtige Dinge. Sieh doch die Harlekine! Zwei Romane  Hg. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt, Reinbek 2002. 545 S., 28 €
 
Gesammelte Werke. Band XXII. Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie Hg. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt, Reinbek 1999. 563 S., 26 €

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