Nina Hoss
Nina Hoss als Isabell / Judith Kaufmann/Lupa Film

Film der Woche: „Zikaden“ - Und wo bleib ich?

Der Wahrheit ins Auge zu sehen, kann wehtun. Aber auch neue Wege bahnen. In dem sensiblen Drama „Zikaden“ spielt Nina Hoss eine Frau, die sich plötzlich um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern muss. Dabei geht sie eine unerwartete Bindung ein.

Ursula Kähler

Autoreninfo

Ursula Kähler ist promovierte Filmwissenschaftlerin und arbeitete unter anderem am Deutschen Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt am Main. Sie veröffentlichte „Der Filmproduzent Ludwig Waldleitner“ (2007) und „Franz Schnyder. Regisseur der Nation“ (2020).

 

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Am Ende eines langen Lebens schließt sich der Kreis. Aus Greisen werden Kinder. Die einst Starken brauchen wieder Hilfe. Wohl dem, der Angehörige oder Nachkommen hat, die einen unterstützen oder gar selbst pflegen. Gerade im Hinblick auf den personellen Notstand. Ist der Pflegefall erst einmal eingetreten, geraten Welten ins Wanken – auf beiden Seiten. Von solchen Erschütterungen erzählt das Drama „Zikaden“.

Der Trailer zu Ina Weisses drittem Spielfilm kann den Eindruck entstehen lassen, es handelte sich um eine lesbische Romanze. Doch dem ist nicht so. Im Zentrum der Geschichte steht Isabell (Nina Hoss), eine Frau Ende 40, deren Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen. Nach einem Schlaganfall sitzt der Vater halbseitig gelähmt im Rollstuhl. Die geschwächte Mutter leidet mental unter der Situation. Mit Ehemann Philippe (Vincent Macaigne) lebt Isabelle in Frankreich. Die Ehe kriselt. Nun pendelt die Immobilienmaklerin zwischen Berlin und einem Dorf in Brandenburg, wo sich das Wochenendhaus der Eltern befindet. Den Backsteinbau im Bauhausstil hat der Patriarch, ein Architekt, entworfen und bauen lassen. In seiner von Menschenhand verhunzten Umgebung wirkt das Haus wie ein Fremdkörper. Eine ästhetische Augenweide neben Verfall und Spießigkeit.

Die Natur Brandenburgs setzt Weisse als Gegenpol zu den diversen Konflikten des Personals. Mit ruhiger Hand führt die ausgezeichnete Judith Kaufmann ihre Kamera. Die entrückt wirkenden Bilder von Seen, Schilf und satten Auen führen zurück ins seelische Lot – zumindest für einen Augenblick. Wie beim Starren auf die sommerlich-glühende Landschaft, während der Rauch von Isabells Zigarette gen Himmel steigt. Eigentlich rauche sie nicht, sagt sie zu der jungen Frau, von der sie den Glimmstängel bekommt. Die fremde, geheimnisvolle Anja (Saskia Rosendahl) steht auf einmal neben ihr. Sie kenne Isabell von früher. Die aber kann sich an die Dorfbewohnerin nicht erinnern. Hier prallen Welten aufeinander. Einer gegenseitigen Anziehung steht diese Kluft jedoch nicht im Weg.

Das dezente Spiel mit Erotik filmt Kaufmanns Kamera intensiv

Das Schicksal hat Anja arg gebeutelt. Die alleinerziehende Mutter hangelt sich von Job zu Job. Das Sorgerecht hat sie bereits einmal verloren. Der Kindsvater ist angeblich tot. So ganz glaubt man das Anja nicht. Mit der Wahrheit nimmt sie es wohl nicht immer ernst. Über ihre Vergangenheit erfährt man wenig. Immer wieder bleiben Leerstellen. Als Tresenkraft in einem Bowling-Center desinfiziert sie nun Schuhe und präpariert die Bahnen. Die kleine Tochter Greta ist derweil auf sich gestellt, stochert im Wald in Tierkadavern herum oder schnorrt bei Kunden einer Tankstelle Kleingeld für Eis.

Anjas Faszination für Isabell ist unübersehbar. Mit feiner Nuanciertheit stellt Saskia Rosendahl (bekannt aus „Babylon Berlin“ als Malu Seegers) diese dar, transformiert sie in entzückte, begehrende Blicke. Das dezente Spiel mit Erotik filmt Kaufmanns Kamera intensiv. Die Frage, ob Freundschaft oder mehr entsteht, bleibt letztlich offen. Trotz einer kurzen körperlichen Annäherung. Wäre da nicht Philippe, der seine Partnerin zurückerobern will. Die bissigen Wortgefechte trägt das Ehepaar auf Französisch aus. Sie offenbaren unverheilte Wunden. Kühl und defensiv reagiert Isabell auf den Vorwurf, die gescheiterte Architektin wolle stets nur ihrem Vater gefallen. Die gemeinsame Trauer über die Kinderlosigkeit baut eine Brücke der Versöhnung.

Getragen wird „Zikaden“ von Nina Hoss

Entfremdung innerhalb der Ehe und unerfüllte Ziele führten Isabelle in Einsamkeit und Härte. In der Aufgabe, für ihre Eltern zu sorgen, scheint sie Ablenkung zu suchen. Die Kündigung des Pflegers, die Sturheit des Vaters, einen Sturz der Mutter erträgt sie stoisch. Den Kontakt zu sich selbst findet Isabell dennoch nicht wieder. Pflichtbewusst stellt sie sich den Lebenskämpfen, genau wie Anja den ihren. Die gemeinsame Zeit unterbricht die Scharmützel, schafft Balance und die dringend notwendige Nähe.  

Getragen wird „Zikaden“ von Nina Hoss, die Isabell voll stolzer Eleganz verkörpert. Mit diesem tiefgründigen, dynamischen Film beweist Ina Weisse aufs Neue ihr vielseitiges Talent. Denn neben der Regie ist die ebenso gefragte Schauspielerin auch für das Drehbuch verantwortlich. Ihre eigenen Eltern hat sie als Vater und Mutter Isabells besetzt. Besondere Authentizität verleiht der Clou, dass ihr Vater der renommierte Architekt Rolf D. Weisse ist, der in den sechziger Jahren für Mies van der Rohe tätig war. Mit ihm drehte sie 2017 bereits den Dokumentarfilm „Die Neue Nationalgalerie“. Eine Spurensuche der Entstehung des ikonischen Baus, die vieles erzählt, historisch bedingt aber Lücken lässt. Dies ist kein Nachteil. Im Gegenteil. In „Zikaden“ zelebriert Weisse nun das Weglassen ganz bewusst und sehr poetisch. Denn oft liegt im Verborgenen die wahre Erkenntnis. 

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