Breschnew am Telefon
Breschnew wollte die finale Abmachung unbedingt / Rise and Shine Cinema/Vladimir Musaelyan

Film der Woche: „Der Helsinki-Effekt“ - Der Fehler seines Lebens

Ein Dokumentarfilm rekonstruiert amüsant die Ereignisse rund um die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte vor 50 Jahren. „Der Helsinki-Effekt“ würdigt das Abkommen als Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs. Ein Plädoyer für die verlorene Kunst der Diplomatie.

Ursula Kähler

Autoreninfo

Ursula Kähler ist promovierte Filmwissenschaftlerin und arbeitete unter anderem am Deutschen Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt am Main. Sie veröffentlichte „Der Filmproduzent Ludwig Waldleitner“ (2007) und „Franz Schnyder. Regisseur der Nation“ (2020).

 

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Am 1. August 1975 blickt die Welt nach Helsinki. Die höchsten Vertreter von acht sozialistischen und 27 kapitalistischen Staaten versammeln sich in der finnischen Hauptstadt, um die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz KSZE, zu unterzeichnen. Noch herrscht Kalter Krieg. Doch bei sommerlichen Temperaturen schmelzen in der Finlandia-Halle die eisigen Fronten zwischen Ost und West. Als Vehikel dient die hohe Kunst der Diplomatie. Eine Tugend, die in der heutigen politischen Debatte beinahe in Verruf geraten ist. Dialog, Höflichkeit und Takt scheinen aus der Mode gekommen. Die Dokumentation „Der Helsinki-Effekt“ lässt die Konferenz vor 50 Jahren Revue passieren – und würdigt sie als historischen Meilenstein, der die Welt veränderte.

Trotz der staubtrockenen Materie gelingt dem finnischen Regisseur Arthur Franck eine mediale Zeitreise von besonderem, mitunter satirischem Unterhaltungswert. Sein Film ist keine lückenlose Rekonstruktion. Er besteht allein aus Archivmaterial und einem subjektiven Kommentar, der zentrale Aspekte ins Visier nimmt. Für Franck zählt dazu in erster Linie die Bereitschaft verschiedenster politischer Akteure, in einem zähen Prozess von insgesamt 672 Tagen – so lange dauerten die Vorbereitungen der Schlussakte – miteinander zu verhandeln. Egal ob Staatschefs westlicher Demokratien, Diktatoren oder Massenmörder – für den höheren Zweck setzen sich alle an einen Tisch. Probleme vor der eigenen Haustür (etwa die Zypern-Krise oder die Spannungen zwischen Russland und Finnland) verdrängt man, so gut es geht. Geschmeidig schüttelt man Hände, scherzt für die Kameras und raucht dicke Zigarren beim Plausch über Nuklearwaffen, Nahost, Körpergewicht oder die Ehefrauen.

Grenzen können nur mit Hilfe demokratischer Beschlüsse verschoben werden

Neben Fernsehaufnahmen belegen dies bislang geheime Gesprächsprotokolle der Supermächte, deren Sperrfrist nun endete. Mit Hilfe von KI-Stimmensimulationen ließ Franck sie vertonen. Ein raffinierter Kunstgriff, der Stimmung, Humor und Zwischentöne offenbart. So erfahren wir, dass die KSZE für US-Außenminister Henry Kissinger reine Zeitverschwendung war. Mit seiner markant tiefen, monotonen Stimme spottet er (auf Englisch): „Die Konferenz kann niemals mit einem sinnvollen Dokument enden. Von mir aus können sie es in Suaheli schreiben.“ Er sollte sich irren. 1994 gesteht er in seinen Memoiren, dass die Konferenz eine wichtige Doppelrolle spielte. In ihrer Planungsphase habe sie das sowjetische Verhalten in Europa gemäßigt und danach den Zusammenbruch des Sowjetimperiums beschleunigt. Die Voice-AI erweckt auch den sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew zu neuem Leben. Sein Englisch mit russischem Akzent klingt ziemlich authentisch. Obwohl unwahrscheinlich ist, dass er der Sprache überhaupt mächtig war. Die US-Abschriften existieren allerdings nur auf Englisch.  

Initiator der diplomatischen Schlacht ist die Sowjetunion. Breschnew will die finale Abmachung unbedingt. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, der gerade mal 30 Jahre zurück liegt, existiert kein formeller Friedensvertrag. Die UdSSR verlangt daher die Anerkennung der europäischen Grenzen in ihrem Herrschaftsgebiet. Im Hinblick auf das geteilte Deutschland ein problematisches Anliegen. Schließlich einigt man sich auf einen Kompromiss: Grenzen können nur mit Hilfe demokratischer Beschlüsse verschoben werden, nicht aber mit Gewalt. Während der feierlichen Schlusszeremonie unterzeichnen zunächst Helmut Schmidt, Erich Honecker und Gerald Ford. Dann stoppt der Film. Ein Standbild zeigt Breschnew, der als Nächster an der Reihe ist. Seine Signatur, so glauben alle, krönt ihn zum Sieger. Dass der Russe damit, so der Kommentar, einen großen Fehler mache, weiß weder er noch irgendjemand sonst im Saal. Der Generalsekretär der KPdSU stirbt 1982. Die Folgen seiner Unterschrift wird er nicht mehr erleben.

Nach seiner Unterzeichnung löste das Abkommen den sogenannten „Helsinki-Effekt“ aus

Die Schlussakte besaß den Charakter eines internationalen Tauschgeschäfts aufgeteilt in drei thematische Bereiche, die „Körbe“. Während der Osten neben der Grenzfrage auch auf stärkeren wirtschaftlichen Austausch pochte, verlangte der Westen Zugeständnisse in humanitären Fragen. „Korb 3“ enthielt einen Passus zu Grund- und Menschenrechten. Breschnew war er ein Dorn im Auge, nahm ihn aber in Kauf. Nach seiner Unterzeichnung löste das Abkommen den sogenannten „Helsinki-Effekt“ aus. Er führte zur Gründung zahlreicher Helsinki-Gruppen im Ostblock und Initiativen wie der tschechoslowakischen Charta 77 oder des polnischen Gewerkschaftsbunds Solidarność, die sich auf den KSZE-Passus beriefen. Der Eiserne Vorhang begann zu fallen.

„Humor ist wichtig. Denn Diplomatie ist harte Arbeit. Wenn man zusammen lacht, sieht man das Menschliche im Gegenüber“, meint Regisseur Franck. Es sind vor allem die illustrierenden, teils animierten Szenen und die Nebenschauplätze der Konferenz, die den Film in ein amüsantes, poppiges, doch stets geistreiches Geschichtsmosaik verwandeln. So sieht man Staatsvertreter beim Nickerchen, etwa wenn Nicolae Ceaușescu die erlaubte Redezeit von 20 auf 35 Minuten überzieht, und wie sich TV-Journalisten aus allen Herren Länder in ihren Studios langweilen. Ja, Diplomatie erfordert Geduld. Doch lohnt sich das Warten. Denn was wäre die Alternative?

„Der Helsinki-Effekt“ ist ein optimistisches Plädoyer für mehr Diplomatie. Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges, dessen geopolitisches Klima an das des Kalten Krieges erinnert, sowie in Zeiten von Gesprächsverweigerung und Kontaktschuld zeigt dieser filmische Rückblick, dass Veränderung möglich ist. Erschwert wird die Lage allerdings durch das zunehmende Fehlen neutraler Staaten. Mit den Nato-Beitritten Finnlands und Schwedens fallen diese als Vermittler weg. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass Russland aus den Ereignissen seine Lehre gezogen hat und deshalb nun auf Härte statt Diplomatie setzt.

Den Weg zu einer für alle Seiten zufriedenstellenden Lösung muss dies aber nicht verbauen. Denn Dialog geht immer.

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