Szenenbild aus „Bugonia“
Emma Stone als entführte Biotech-CEO Michelle / © Focus Features

Film der Woche: „Bugonia“ - Und wenn die Spinner doch recht haben?

Stars stehen Schlange, um mit ihm zu drehen: Yorgos Lanthimos. In seinem neuen Psychothriller entführen zwei Verschwörungstheoretiker eine Managerin, die sie für ein Alien halten. „Bugonia“ ist eine Parabel auf die Komplexität unserer Welt.

Ursula Kähler

Autoreninfo

Ursula Kähler ist promovierte Filmwissenschaftlerin und arbeitete unter anderem am Deutschen Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt am Main. Sie veröffentlichte „Der Filmproduzent Ludwig Waldleitner“ (2007) und „Franz Schnyder. Regisseur der Nation“ (2020).

 

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Sie stehen für Leben, Fleiß, den Kreislauf der Natur: Bienen. Yorgos Lanthimos, der aktuell wohl angesagteste Autorenfilmer („Poor Things“), schenkt den Insekten die Anfangssequenz seines neuesten Werks. Großaufnahmen zeigen sie beim Summen, Fliegen und Bestäuben. Ruhe und Schönheit dieser Bilder entfalten sich sogleich. Eine männliche Stimme unterbricht das Idyll. Es ist die von Teddy (Jesse Plemons). In Imkermontur stehen er und Cousin Don in einem verwilderten Garten vor einem Bienenstock. Teddy erläutert die Relevanz der bedrohten Tiere – für unser Ökosystem, unsere Nahrung. Er klingt wie ein motivierter Biolehrer. Doch als es um den Bestäubungsprozess geht, verliert er jede Sachlichkeit: „Es ist wie Sex. Nur sauberer, weil niemand verletzt wird.“

Die Merkwürdigkeit dieser Aussage verstört. Zugleich offenbart sie die Zerrissenheit des Protagonisten. Teddys Angst vor emotionaler Nähe und Schmerz ist zentral. Aus ihr entspringt sein kaputtes Seelenleben. Halt sucht der junge Mann, diese provinziell-amerikanische Lost Soul, in allen möglichen politischen Strömungen. Von links nach rechts hat er schon alles ausprobiert. So recht gepasst hat es aber nirgends. Gelandet ist er schließlich bei einer dystopischen Verschwörungstheorie um die zerstörerischen Aliens der Andromeda-Galaxie. Ihre Anhänger glauben, dass die kurz bevorstehende Mondfinsternis die große Enthüllung bringe, die alles verändert.

In Teddys Narrativ sind die Bienen ein Symbol für die von Eliten ausgebeuteten Arbeiter. Ihr Sterben ist kein Zufall, sondern Folge eines zerstörerischen Systems. Das Biotech-Unternehmen Auxolith zählt für ihn zu den schlimmsten Übeltätern. Mit seinen experimentellen Entzugsmedikamenten hat es bereits einigen Menschen geschadet. Darunter Teddys Mutter Sandy (Alicia Silverstone). Seit der Teilnahme an einer Pharmastudie liegt sie im Koma. In der runtergekommenen Kleinstadt ist Auxolith der schillernd-futuristische Arbeitgeber. Hier schuftet Teddy als Paketpacker. Nach der Schicht fährt er mit einem klapprigen Fahrrad nach Hause und lässt sich dabei mit Podcasts in seine paranoide Weltsicht beamen.

Nach brutaler Folter gibt die Antagonistin ihren Entführern recht

Die Fenster seines verwahrlosten Elternhauses sind mit Alufolie verklebt. Hier heckt er einen kriminellen Plan aus. Auch Cousin Don (Aidan Delbis), ein eher schlichtes Gemüt, lebt in der keimigen White-Trash-Blase. Hin und wieder äußert dieser Zweifel an der Mission. Doch mit markigen Sätzen wie: „Du willst doch frei sein, oder?“ kann Teddy seinen Mitläufer überzeugen. So lässt der übergewichtige Don schließlich nicht nur die Yoga-Asanas am Morgen, sondern auch die chemische Kastration am nächtlichen Lagerfeuer über sich ergehen. Triebe stören bloß.

Eines Tages ist es soweit: Teddy und Don entführen Auxolith-CEO Michelle Fuller (Emma Stone). Die beiden halten sie für eine Außerirdische aus Andromeda. Die 45-Jährige ist das Abziehbild einer narzisstischen Karrieristin. Allein bewohnt sie eine gläserne Luxusvilla, übt sich im Kampfsport mit einem Personal Trainer, fährt G-Klasse und trägt zu ihrem schwarzen Kostüm die berühmten Louboutin-Stilettos. Ihre Mitarbeiter grüßt sie freundlich beim Vornamen, ein gerahmtes Foto in ihrem Büro zeigt sie mit Michelle Obama, ihr Konterfei zieren Business-Hochglanzmagazine. Auf der Heimfahrt singt sie girliehaft zu einer Liebesschnulze. Vor ihrem Anwesen überfallen sie Teddy und Don. Nach einem wilden Handgemenge landet eine Sedierungsspritze in ihrem Bein.

Als Michelle aufwacht, befindet sie sich angekettet im Keller von Teddys Haus. Ihre Haut ist mit weißer Antihistamin-Salbe bedeckt, ihre wallende Mähne wurde abrasiert. Eine Vorsichtsmaßnahme, um Kontakt zum Mutterschiff zu verhindern. Michelle wehrt sich zunächst gegen den Vorwurf ihrer Peiniger. Nach brutaler Folter gibt die raffinierte Antagonistin ihnen aber recht. Sie erklärt sich bereit, die Männer während der Mondfinsternis mit auf ihr Raumschiff zu nehmen, um so die Alien-Anführer zum Einlenken zu bewegen. Michelle nimmt Teddy ernst, was ihr Freiheiten verschafft und schlussendlich zu einer Machtverschiebung führt.  

Überhebliches Vorführen von Verschwörungstheoretikern liegt dem Regisseur fern

Emma Stone und Jesse Plemons liefern ein meisterhaftes Schauspiel. Durch die feine Balance aus Spannung, psychologischer Intensität und Präzision wird jede Szene zu einem fesselnden Duell. Das Spiel um Wahrheit und Kontrolle führt selbst den Zuschauer aufs Glatteis. Die Enge des Kellers und später des Esszimmers beim feierlichen Diner verschärfen die Gemengelage, deren Ausgang unvorhersehbar scheint. Lanthimos’ surreale, teils komische Inszenierung fasziniert, etwa wenn in Rückblenden Teddys Mutter im Krankenbett mit in ihrem Körper steckenden meterlangen Nadeln zu sehen ist.

Lanthimos’ früheren Werken wird häufig Absurdität zugeschrieben. Teddys Haltung aber entspringt klar nachvollziehbaren, dramatischen Lebenswendungen. Dass er verzweifelt in eine mentale Abwärtsspirale geriet, ist durchaus konsequent. Natürlich überspitzt der Regisseur. Doch überhebliches Vorführen von Verschwörungstheoretikern liegt ihm fern. „Ich wollte die Gewissheiten der Zuschauer herausfordern, die Ermessensentscheidungen, die wir bezüglich bestimmter Arten von Menschen treffen“, so der Grieche.

„Bugonia“, übrigens ein Begriff aus der antiken Mythologie, der den Glauben daran bezeichnet, dass Bienen aus Ochsen-Kadavern entstehen, ist also eher appellativ zu verstehen. Mit seiner Parabel auf die Komplexität der Welt ermutigt der Filmemacher dazu, es sich beim Zuordnen in die passende Schublade nicht zu einfach zu machen. Wer Spinner ist und wer vernünftig, zeigt sich manchmal erst auf den zweiten Blick.

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