Fall Claas Relotius - Wenn „Haltung“ mehr zählt als Wahrhaftigkeit

Der „Spiegel“ stößt seinen als Betrüger entlarvten Reporter Claas Relotius empört ab. Doch die Hexenjagd ist verlogen. Denn vielen der relevantesten Medien scheint die richtige Haltung wichtiger zu sein als die Wahrheit, schreibt Rechtsanwalt Gerhard Strate

Georg Restle, Chef des ARD-Politmagazins Monitor: Hauptsache, die Haltung stimmt / picture alliance
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Autoreninfo

Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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Im Juli 2018 veröffentlichte Georg Restle, Chef des ARD-Politmagazins Monitor, sein „Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus“. Den Essay zu lesen, lohnt sich: Kaum jemals wurde der mediale Schritt vom Wege der Neutralität ungenierter eingestanden. Dass Herr Restle wenig von den intellektuellen Fähigkeiten seines Publikums zu halten scheint, macht er überdeutlich: „Und meinen wir wirklich, neutral und ausgewogen zu sein, wenn wir nur alle zu Wort kommen lassen, weil die Wahrheit schließlich immer in der Mitte liegt? Und wenn die Mitte immer weiter nach rechts wandert, liegt die Wahrheit eben bei den Rechten? Und wenn die Mitte verblödet, bei den Blöden?“

„Falsche“ und „richtige“ Haltungen

Im Gegensatz zu den von ihm konstatierten journalistischen „Neutralitätswahn“ sei die offengelegte Parteinahme für die Benachteiligten nicht nur wahrhaftiger, sondern auch ehrlicher, lässt uns Restle wissen. Wer sich so leichthändig und ganz bewusst mit scheinlogischen Begründungen vom journalistischen Handwerk verabschiedet und stattdessen der bevormundenden Haltungsschreiberei das Wort redet, legt damit, zugunsten des eigenen Sendungsbewusstseins, die Axt an die Wurzel der Pressefreiheit. Er maßt sich und der journalistischen Zunft an, zu bestimmen, welche Haltung die einzig „richtige“ wäre und in der Folge Kollegen mit der „falschen“ Haltung aufs Abstellgleis zu befördern.

Dass eine derartige fatale Verschiebung der Koordinaten des Anstands bei vielen großen Medien längst erfolgt ist, zeigt die weiterhin rasant anwachsende Zahl von Journalistenpreisen, die im deutschsprachigen Raum inzwischen bei mindestens 570 liegt. Benötigt werden all die Statuen, Blechmedaillen und Urkunden nur zu einem einzigen Zweck: Journalistenpreise verleihen ihren Trägern eine Scheinautorität, die sie fürderhin dazu berechtigt, ihren Mitmenschen die von Haltungsfetischisten wie Restle gewünschte Brille aufzunötigen. Dass sie selbstverständlich auch die menschliche Eitelkeit bedienen, macht sie umso begehrenswerter, wodurch der Konformitätsdruck noch weiter ansteigt.  „[…] Warum wir endlich damit aufhören sollten, nur abbilden zu wollen, ‚was ist‘“, twitterte Restle fröhlich, um weitere Leser für seinen Essay zu gewinnen.

Claas Relotius wusste, was gefragt ist

Ob zu den Lesern dieser geistigen Diarrhoe auch Claas Relotius zählte, wissen wir nicht. Auch werden wir wohl nicht erfahren, ob der junge Überflieger das Buch „Haltung zeigen!“ von Kollegin Anja Reschke kennt, welches in dasselbe Horn stößt. Es ist auch einerlei: Wie alle erfolgreichen Hochstapler verfügt Relotius über einen feinen Scanner für das, was seine Peergroup umtreibt. Dass Haltung mehr zählt als Wahrhaftigkeit: Relotius wusste diesen Trend der Zeit meisterhaft für seine Zwecke zu nutzen. Sein hohes Gespür für Sprachbilder und ihre unterschwellige Wirkung sorgte dafür, dass niemand sein Treiben kritisch beobachtete. Lieferte er nicht genau den Stoff, der haltungsbesoffene Redakteure zum Schwärmen brachte? Und war es nicht dieser Haltungsjournalismus, der auch Giovanni di Lorenzo bestimmte, als er zwar „instinktiv Skepsis“ gegen die Geschichten von Relotius hegte, diese aber nie offen artikulierte, sondern sich darauf beschränkte, Relotius beim Nannen-Preis nie „zum Zuge“ kommen zu lassen?

Und so fragte niemand nach, als Relotius mit seinem Beitrag „In einer kleinen Stadt“ ein düsteres Stimmungsbild von Fergus Falls und seinen Bewohnern zeichnete: Wohnten in der US-amerikanischen Kleinstadt nicht schließlich mehrheitlich dumpfdumme Trump-Wähler, deren lächerliche Kleingeistigkeit es herauszuarbeiten galt, und sei es mit reinen Lügen? Wären die redaktionellen Kontrollen strenger ausgefallen, wenn Clinton-Wähler auf diese Weise vorgeführt worden wären? Mit Sicherheit! – Klar ist: Der im März 2017 erschienene Artikel passte wie die Faust aufs Auge zu den infantilen Trump-Karikaturen, mit denen der Spiegel immer wieder seine einwandfreie „Haltung“ gegen den immerhin demokratisch gewählten Präsidenten der USA demonstriert. Dass Relotius als Überschrift seines Artikels ausgerechnet den sehr bekannten deutschsprachigen Titel des Stephen-King-Schockers „Needful Things“ wählte, dürfte in seiner sendungsbewussten Redaktion eine diebische Freude ausgelöst haben. Eine Freude, die sich jedes kritische Nachfragen von selbst verbat.

Fehlende Trennung zwischen Kommentar und Bericht

Dass der Überrumpelungseffekt der erfüllten Erwartungen auch im Inland wirksam ist, zeigen die plumpen Fälschungen im Interview mit der letzten Überlebenden der Weißen Rose, Traute Lafrenz. Welch eine gute Gelegenheit für Claas Relotius, den missliebigen Sachsen so richtig einen mitzugeben und mangelnde Wahrhaftigkeit durch gute Haltungsnoten auszugleichen: Was der vielfach preisgekrönte Reporter der alten Dame zum Thema Chemnitz in den Mund legte, war ausschließlich der Dichtkunst des Schreibers und den feuchten Träumen der Spiegel-Redaktion geschuldet. Da störte wohl noch nicht einmal die Einleitung des Artikels, von der man sich fast wünscht, sie möge ebenfalls eine Fälschung sein: Darin beschreibt Relotius, auf welch unwürdige Weise er sich aufgedrängt und die 99-Jährige zu einem Interview genötigt hatte.

Nicht nur Claas Relotius entschied sich dafür, die gute alte Trennung zwischen Kommentar und Bericht zugunsten von mehr oder weniger sprachgewaltiger Stimmungsmalerei aufzuheben. So berichtete auch die Zeit über den angeblichen Fall Wedel nur deshalb, weil sie die Möglichkeiten der juristischen Verifizierung der Vorwürfe aufgrund angenommener Verjährung für ausgeschöpft hielt. Warum also nicht gratis die tolle Gelegenheit nutzen, der #MeToo-Bewegung auch in Deutschland medialen Schwung zu verleihen?

Verlogene Hexenjagd

Ganz klar: In der Person von Claas Relotius findet der Haltungsjournalismus als Konzept einen seiner würdigsten Vertreter. Die Hexenjagd gegen ihn ist deshalb verlogen und unnötig. Wir lernen daraus: Ist die zwingende Stoßrichtung eines Artikels schon vor Beginn der Recherchen klar, so kommt es nur dann auf dessen Wahrheitsgehalt an, wenn der betreffende Reporter sich beim Schwindeln erwischen lässt. Viele der von ihrer Reichweite her relevantesten Teile der Medienbranche haben sich mit dem Haltungsjournalismus für eine falsche Abzweigung entschieden. Sie passten zusammen wie Schlüssel und Schloss: die Eitelkeit eines mit Preisen überhäuften Jungreporters und das Sendungsbewusstsein einer Redaktion, die sich gerne als „Sturmgeschütz der Demokratie“ geriert, jedoch offenbar still und heimlich die Seiten gewechselt hat. Es bleibt also abzuwarten, wie der sprachgewaltige Claas Relotius sein absehbares künftiges Dasein als Bauernopfer gestalten wird.

Der Verfasser ist ein Spiegel-treuer Leser seit mittlerweile einigen Jahrzehnten. Mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen nach jener Zeit, als eine kleine Fangemeinde des Nachrichtenmagazins sich schon sonntagabends am Hamburger Hauptbahnhof traf. Das war für die Leser der früheste Auslieferungsort des Spiegel. Geschehen im September/Oktober 1987, als der Spiegel unter der Ägide des unvergessenen Erich Böhme nach und nach die Details der Barschel-Affäre mutig entblätterte. Die Artikel wurden damals noch überwiegend anonym publiziert. Das hatte etwas Gutes: Für die Wahrheit war viel, für Eitelkeiten keinerlei Platz.

Auch für „Cicero“ hat Claas Relotius zwischen 2012 und 2016 gelegentlich als freier Autor geschrieben. Wir haben die Texte vom Netz genommen und überprüfen sie derzeit

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