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ESC - Wurst-Claqueure sonnen sich im Toleranzgejohle

Kisslers Konter: Unzählige Medien sehen im Wursterfolg ein knallhartes Politikum. Hier habe die Toleranz gewonnen. Tatsächlich bedeutet der Sieg für das mittelmäßige Lied außerhalb der ESC-Welt rein gar nichts

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Nun wird alles gut. Der ewige Friede wird anbrechen, Ost und West reichen sich die Hände, Nord und Süd teilen ihre Gaben, auf Gänseblümchen werden wir schreiten. Da wird kein Krieg mehr sein zwischen den Völkern, keine Konkurrenz zwischen den Nationen, kein Kampf zwischen den Geschlechtern, das reine, pure, wunderbare Menschsein wird sich überall verbreiten, zumindest in Europa. Und das alles, weil ein vollbärtiger Mann in Frauenkleidern einen Schlagerwettbewerb für sich entschied.

Die Euphorie um den Sieg des Favoriten Thomas Neuwirth, der unter seinem Künstlernamen Conchita Wurst den „Eurovision Song Contest“ (ESC) in Kopenhagen gewann, ist bemerkenswert. Er trällerte ein melodramatisches Liedlein von der Stange, wie es den ESC dutzendfach bevölkert, gab dazu sein stimmlich Bestes, was nicht eben viel war. Man konnte das goutieren an diesem einen Abend, der eine einzige Feier des Ephemeren ist, quietschbunt und hochvergnügt, wie es sich für den ehemaligen „Grand Prix de la Chanson“ gehört. Hoch die Tassen, Stößchen, Europa kann so spaßig sein: Der ESC ist eine wunderbare Sache, weil er das Überflüssigste der Welt, simple Melodien mit simpleren Texten, ausstaffiert und inszeniert, als hänge das Leben daran. Am Morgen danach ist das Meiste vergessen. So ist’s bei einem Rausch nun einmal Brauch. Oder summt heute jemand die Siegertitel „Only Teardrops“ (2013) oder „Running Scared“ (2011)? Und was ist aus Loreen geworden, die sich 2012 in den Pop-Olymp zu schreien schien?

Pop ist Augenblickskunst par excellence. Ihre wichtigste Zutat ist die Verkleidung. Auch Patrick Lindner, Florian Silbereisen und Helene Fischer, Miley Cyrus und Rihanna und Peter Maffay sind verkleidet, wenn sie die Bühne betreten. Pop ist die Kunst, eine Rolle zu spielen, die lauter, schriller, abgründiger ist als das Ich dahinter. Thomas Neuwirth müssen wir nicht kennen, um Conchita Wurst applaudieren zu können. Der Scheinwerfer macht den Pop, die Bühne den Star. Authentizität gibt es nicht vor Publikum.

Wurst und die Schicksalsfrage des Abendlandes
 

Nun soll alles anders sein. „Zeit“ und „Bild“ und „Süddeutsche“ und nahezu alle anderen Medien sehen im Sieg von Neuwirth/Wurst nicht, was er war – eine Augenblicksaufnahme, eine fernsehkompatible Schnittmenge verschiedener Vorlieben und Sehnsüchte und Absichten –, sondern ein knallhartes Politikum. Hier habe die Toleranz gewonnen. Der Respekt habe gesiegt. Wenn’s denn mal so wäre. Tatsächlich bedeuten die vielen Punkte für das mittelmäßige Liedchen außerhalb der ESC-Welt rein gar nichts. Nicht Europa hat über eine Schicksalsfrage abgestimmt, die ESC-Community hat ihren diesjährigen Favoriten gekürt. Das ist alles. Außerdem: Schon Divine und Boy George beherrschten die Kunst der Verkleidung, ohne dass jeder halbwegs getroffene Ton zum politischen Statement verklärt worden wäre. Und was das Durchkreuzen der Geschlechtsidentität anging: Ist Dana Internationale, ESC-Gewinnerin von 1998, komplett vergessen?

Die Wurst-Claqueure sonnen sich im eigenen Toleranzgejohle. Sie wollen sich selbst als tolerant und respektvoll und was sonst auch immer präsentieren. Sie wollen zu den Guten gehören. Sie klopfen sich auf die eigene Schulter, wenn sie dem Sieger Girlanden winden. Dass diese Toleranz ihre Grenzen hat, wenn, wie in Kopenhagen geschehen, die Teilnehmerinnen Russlands tüchtig ausgebuht werden dürfen und so ein überwunden geglaubter Alltagsrassismus zurückkehrt, steht leider auf demselben Blatt.

In der maßlosen Überschätzung dieses alles in allem herrlich irrelevanten Sangesspaßes treffen sich die enthemmten Bejubler mit den Untergangspropheten der gegenüberliegenden Seite. Nein, die vielen Punkte für das von den ORF-Oberen nach Kopenhagen geschickte Bühnenkunstwerk Wurst markieren nicht das Ende der Familie, den Ruin aller Sitten, den Untergang des Abendlandes. Davon abgesehen, dass dieses längst perdu ist, implodiert an innerer geistiger Schwäche: Bleibt locker, ihr Säbelrassler und Übelnehmer, führt keine Stellvertreterdebatten im Konfettiregen. Wenn die Welt aus den Fugen ist, hat kein Neuwirth und keine Wurst sie entsichert.

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