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Erziehung - Helikoptereltern sind besser als ihr Ruf

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Kinder werden durch fürsorgliche Eltern zu egoistischen, lethargischen Narzissten, ohne jegliches Gefühl für Grenzen? Falsch, sagen Experten. Ganz falsch

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Wieder einmal habe ich einen Haufen selbstgestalteter Bilder im Altpapier entsorgt. In der Tonne stapelt sich mühsam produziertes Wachsmalkrikelkrakel und wasserfarbgetupfte Prinzessinnenmalerei. Ich schmeiße nicht alles weg, aber der Schaffensdrang der Kinder ist unermüdlich und nur die wenigsten Werke schaffen es in die Aufbewahrungsschublade. Trotzdem bewundere ich, verteile Komplimente - und frage mich, wann es zu viel ist mit der Lobhudelei meines schätzungsweise nur durchschnittlich begabten Nachwuchses.

Ich bin damit nicht alleine. Karl Heinz Brisch, Kinderpsychiater und leitender Oberarzt an der Kinder- und Poliklinik der Ludwig-Maximilian-Universität München, organisiert Präventivkurse für Eltern und erörtert zu Beginn regelmäßig mit den Anwesenden ihre Ängste. Immer wieder überrasche ihn die Antwort der Väter und Mütter, wie er vor einiger Zeit in einem Interview mit der Zeit verriet: Eine Mehrheit gebe nicht Krankheit, Behinderung oder Tod an. Nein, sie treibe die Sorge um, ihre Zöglinge zu sehr zu verwöhnen. Und so wollten sie denn auch vor allem lernen, wie sie ihr Baby an Frustrationen gewöhnen, es frühestmöglich abhärten könnten.

Brisch sorgt sich. Er beobachtet, dass sich viele Kinder „nicht mehr ausreichend in andere einfühlen können“ und sieht „eine Lawine“ auf die Gesellschaft zukommen. Gerade Einzelkindern fehle ein entscheidender Baustein, um empathische Fähigkeiten herauszubilden. Nun hat Brisch eine zweijährige Studie abgeschlossen, die jene Empathiefähigkeit von 3 bis 11-Jährigen verbessern soll. Dafür haben die Kinder einmal in der Woche Babys und ihren Müttern beim Heranwachsen und Interagieren zugeschaut. Das Babywatching habe die Kinder gelehrt, sich in die Emotionen und Motivationen von Mutter und Kind einzufühlen, gleichzeitig sei die Feinfühligkeit der Mütter gewachsen, sagte Brisch der dpa.

Wie unsere Kinder reflektierte Rebellen werden
 

Zeitgleich erscheint ein Buch auf dem Markt, das den „Mythos des verwöhnten Kindes“ und die damit einhergehenden „Erziehungslügen unter die Lupe“ nimmt. Der Amerikaner Alfie Kohn beschreibt darin, wie von Experten und Medien die Angst vor dem helikoptergeschützten und konsumverhätschelten Tyrannenkind geschürt wird. Umfragen, so Kohn, stellten „ein frappierendes Maß an Feindschaft nicht nur gegenüber Halbwüchsigen, sondern auch gegen kleinere Kinder fest. Eine große Zahl unserer Mitbürger lehnt Kinder jeder Altersstufe ab und bezeichnet sie als unhöflich, faul, verantwortungslos und bar jeglicher Grundwerte.“ Schuld sei die Erziehung, so die einhellige Meinung, die mit Lob, überschwänglichem Trost und Aufmerksamkeit nicht geize und so einen Haufen kleiner Narzissten heranzöge.

Der Blick in die Ratgeberlisten der vergangenen Jahre gibt Aufschluss: Da steht die berühmte Fibel „Jedes Kind kann schlafen lernen“, wo den Eltern erklärt wird, das Baby über lange Zeit immer wieder schreien zu lassen, bis es von selbst in den Schlaf fände, neben „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ von Michael Winterhoff. Zu guter Letzt kam 2011 Amy Chua und landete mit „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ einen Topseller. In den Ratgebern, die Alfie Kohn zitiert, empfehlen Experten etwa, Entscheidungen selbst zu treffen und Einwände des Kindes stillschweigend zu übergehen (Wendy Mogel).

Brisch und Kohn aber blasen ins selbe Horn. Sie plädieren für eine einfühlsame Erziehung der „Zusammenarbeit“, wie Kohn schreibt. Man solle Kinder Entscheidungen möglichst selber treffen lassen, ihre Bedürfnisse achten, anstatt ständigen Gehorsam einzufordern und im Fehlverhalten eine Chance der Problemlösung zu sehen, anstatt zu bestrafen.

So entstehen sichere Bindungen und die sind das Fundament für kreative, flexible, ausdauernde, soziale und empathische Kinder. Oder, wie Kohn so schön sagt: Ein Erziehungsstil, „der geeignet ist, ein reflektiertes Rebellentum zu fördern.“

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