Ernst Jünger - Mitfühlender oder Chronist?

Ernst Jüngers „Zur Geiselfrage" hat die Debatte über die Empathie des Autors neu entfacht

„Am Vormittag des 21. August 1941", berichtet Hauptmann Ernst Jünger, seit Juni 1941 im Stab des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel in Paris, „begab sich der Marinehilfsassistent Moser von seinem Quartier, dem am Montmartre gelegenen Hotel Carlton, zur Untergrundstation Barbès-Rochechouart." Dort wurde er auf dem Bahnsteig von Unbekannten hinterrücks erschossen. Zur Sühne und Abschreckung ordnete die deutsche Besatzungsmacht daraufhin die Hinrichtung mehrerer inhaftierter Kommunisten an, die man bereits prophylaktisch zu Geiseln erklärt hatte.

Jünger verfasste seine Denkschrift „Zur Geiselfrage" nicht als Schriftsteller, sondern als Soldat. Er begann vermutlich Ende Oktober 1941, als die Sicherheitslage im besetzten Frankreich eskalierte. Die Attentate durch die Resistance häuften sich, und während im Fall Moser noch drei Geiseln erschossen wurden, sollten es bald schon hundert sein. Stülpnagel fürchtete, dass die Stimmung in der Bevölkerung umschlüge, und versuchte, auf die Behörden im fernen Berlin einzuwirken, die Erschießungen einzustellen oder zumindest in Grenzen zu halten. Dies war weniger eine Frage der Moral als der politischen Vernunft, Jüngers Denkschrift sollte hierfür Überzeugungsarbeit leisten. Sie dokumentierte, wie schwierig es war, in den Gefängnissen und Lagern überhaupt genügend geeignete Geiseln zu finden – Kommunisten, Anarchisten und Juden. Und sie belegte, dass die Erschießungen zu nur noch mehr Attentaten führten und einen Teufelskreis der Gewalt in Gang setzten.

Jüngers Darstellung ist sachlich, präzis, klar. Die Ereignisse sollen für sich sprechen und die nötigen Schlussfolgerungen zwingend nahelegen. Scheinbar nüchtern arbeitet er Attentat für Attentat ab und schildert die jeweiligen Vergeltungsmaßnahmen; Kritik wird in einen gleichfalls objektiven Tonfall verpackt. So fehlte den Behörden offenbar gelegentlich der Überblick, wen sie da eigentlich erschießen ließen – Jünger formuliert: „Überhaupt scheint sich bei der Auswahl die Eile geltend gemacht zu haben, mit der über eine so bedeutende Zahl von Menschen zu verfügen war." Zur Eskalation der Gewalt heißt es: „Da man (…) sogleich zur äußersten Härte geschritten war, erschien es nun einer nicht minder schweren Tat, die sich unmittelbar darauf ereignet hatte, gegenüber fast ebenso bedenklich, den nunmehr gegebenen Maßstab beizubehalten, als von ihm abzuweichen." Trotz der zur Schau getragenen Objektivität zeigt sich Jünger hier in doppelter Hinsicht parteiisch. Er hat einerseits das klare Ziel, weitere Geiselerschießungen möglichst zu vermeiden; andererseits aber ist er selbst Teil des Machtapparates ist und spricht dessen Sprache – um sich selbst zu tarnen und um überzeugend zu wirken. Diese doppelte Disposition macht seinen Text zu einem gespenstischen Dokument. Befehle werden als „Vorschläge" bezeichnet, der kommunistische Widerstand erscheint als „kleine Terrorgruppe", Erschießungen sind schlichte „Sühnemaßnahmen".
Ganz bestimmt ist „Zur Geiselfrage" kein Dokument des politischen Widerstands, doch immerhin ein Versuch, der Vernunft innerhalb eines wahnhaften Systems Geltung zu verschaffen. Unklar ist allerdings, wer die Schrift überhaupt zur Kenntnis nahm – nach den Ausführungen des Herausgebers Sven Olaf Berggötz über den kleinen Kreis der Hitler-kritischen Militärs um Generaloberst Hans Speidel hinaus wohl niemand. Der Umstand, dass Jünger seinem Bericht hinterlassene Briefe von Todeskandidaten beifügte, hat jetzt eine Feuilleton-Debatte darüber ausgelöst, ob und wie weit er zu Mitgefühl fähig gewesen sei.

Dies ist einigermaßen unsinnig und wird zudem am falschen Gegenstand diskutiert. Denn selbstverständlich setzt Jünger die Briefe bewusst und kalkuliert ein: Sie sollen ergreifen, ans Mitgefühl appellieren. Er zeigt den Gegner in seiner Würde und in seinem Stolz angesichts des Todes; diese Haltung hatte Jünger bereits im ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Doch ist Empathie für diesen Schachzug keine zwingende Voraussetzung. In seinen Pariser Tagebüchern hat Jünger dagegen immer wieder an seine eigene Mitleidsfähigkeit appelliert und sie zum Maßstab der Humanität erhoben. Dass er sich daran hielt, belegen heimliche Hilfsaktionen: Er warnte Juden vor demnächst anstehenden Deportationen und konnte dadurch manches Leben retten.

Der Herausgeber Sven Olaf Berggötz zeichnet in seiner klugen Einleitung Entstehung und Geschichte der Dokumente nach und weist auch darauf hin, dass Jünger in den achtziger Jahren selbst einmal über deren Publikation nachdachte. Volker Schlöndorff, der aus diesem Material einen zu Herzen gehenden Film gemacht hat, steuert ein Vorwort bei. Er spricht aus der Perspektive der Opfer: Jünger ist für ihn nicht mehr als ein Beobachter und Chronist. Dass er aber versuchte, politisch Einfluss zu nehmen, belegt dieses Buch.

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