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Erbarmen mit den Politikern

Zu der Aufzählung der Widrigkeiten, unter denen Politiker zu leiden haben, gehört das, was den tiefsten Grund ihres Elends ausmacht: nämlich ihre vollständige gesellschaftliche Isolation. Dieser Zustand ist paradox, da es sich um Menschen handelt, denen es nicht erlaubt ist, allein zu sein. Schon der Entzug dieses elementaren Rechts muss, für sich genommen, zu schweren psychischen Schäden führen. Wenn man aber einen Menschen zwingt, sich dauernd inmitten einer Meute aufzuhalten und ihn zugleich von jeder normalen Kommunikation ausschließt, gerät er in ein hoffnungsloses Dilemma.

Es gibt eine wissenschaftliche Form der Tortur, die man als sensorische Deprivation bezeichnet. Dabei wird der Versuchsperson, etwa in einem Wassertank, jede sinnliche Wahrnehmung entzogen; die Kammer, in der sie eingeschlossen wird, ist schalldicht, geruchlos, dunkel; die Tastempfindung wird durch das flüssige Medium ausgeschaltet. Die soziale Analogie zu diesem Experiment wäre die eigentümliche Abkapselung, der ein Berufspolitiker unterliegt. Je weiter er aufsteigt, desto radikaler werden seine sozialen Kontakte unterbunden. Was "draußen im Lande" vorgeht, bleibt ihm so gut wie völlig verborgen. Er hat keine Vorstellung davon, was ein Pfund Zucker oder ein Glas Bier kostet, wie man einen Pass verlängert oder einen U-Bahn-Fahrschein löst.

Als Modell der Zwangsentwöhnung kann der Staatsbesuch gelten. Nach einer langen Reise in seiner privaten Maschine, begleitet von der immer gleichen Kohorte seiner Berater, jagt der Chef über menschenleere Straßen durch eine Stadt, von der er nur das Polizeiaufgebot zu sehen bekommt, zum Präsidentenpalast, der eine Kopie aller anderen Präsidentenpaläste darstellt. Fortan muss er Reden hören, essen, Reden hören, reden. Das ist alles. Am anderen Tag wird er zum Flughafen gebracht, ohne dass er von der Gegend, die er besucht hat, die geringste Vorstellung gewonnen hätte.

Das relativ harmlose Beispiel vermag von der Isolation des Politikers nur einen schwachen Begriff zu geben. Sie ist es, die seinen typischen Realitätsverlust begründet und die erklärt, warum er, unabhängig von seinen intellektuellen Fähigkeiten, in der Regel der Letzte ist, der kapiert, was in der Gesellschaft los ist.

Auch die Privilegien, die man ihm vorzuwerfen nicht müde wird, ja gerade sie tragen zur Verschärfung seines Elends bei. Bezeichnend dafür ist das ominöse Statussymbol des Leibwächters. Es ist leicht zu sehen, dass diese Figur nicht nur den Politiker vor der Welt, sondern vielmehr die Welt vor dem Politiker schützt und diesen außer Stand setzt, die Membran, die ihn von der Umgebung trennt, zu durchstoßen. Der Sicherheitsbeamte ist zugleich sein Gefangenenwärter.

Sicher glauben die meisten von uns, dass es ein übertriebener Luxus wäre, unser Mitgefühl Leuten zuzuwenden, die sich, ohne zu erröten, als Spitzenpolitiker bezeichnen lassen. Aber wie alle Randgruppen, wie Alkoholiker, Spieler und Skinheads, verdienen auch sie jenes analytische Erbarmen, das nötig ist, um ihr Elend zu begreifen.

Mehr über die bemitleidenswerte Spezies des Politikers erfahren Sie in Hans Magnus Enzensbergers Essayband "Zickzack" (Suhrkamp Verlag)

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