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Elser, Snowden, Tugce - Wir brauchen mehr Gewissenstäter

Sie folgten ihrem Gewissen und handelten: Der Hitlerattentäter Georg Elser, der Ex-Geheimdienstler Edward Snowden oder auch die Studentin Tugce Albayrak. Doch unsere Gesellschaft macht aus Mutigen schnell Mitschuldige. Courage hat es schwer

Autoreninfo

Wolf Reiser (64) lebt und arbeitet in München als Buchautor, Reporter und Essayist. Mehr hier

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Im April dieses Jahres kam der Spielfilm „Elser – Er hätte die Welt verändert“ in unsere Kinos, kein Meisterwerk, gewiss, aber immerhin erfuhr Deutschland, dass es außerhalb der Kreise der Stauffenberg-Spätzünder echte Menschen gab, die zu Opfern bereit waren – und wenn es nur das eigene Leben betraf. Dieser Georg Elser, ein einfacher schwäbischer Handwerker, ein zutiefst nachdenklicher Mensch, ein Eigenbrötler und Tüftler, recht typisch für das protestantisch geprägte Württemberg, sah – inmitten von Nazi-Propaganda und allgemeiner Hysterie – das wahre Grauen dieser Diktatur und entschloss sich, etwas zu tun.

Da er sich offenbar mit keinem einzigen Menschen darüber unterhalten konnte, was nun genau zu tun war gegen den gerade einsetzenden Krieg und das Wüten der allumfassenden Vernichtungsmaschine, blieb es ihm und seinen paar beschränkten Mitteln überlassen, so etwas wie nachhaltige Verantwortung zu übernehmen. Nach monatelangen Vorbereitungen unter ständiger Lebensgefahr gelang es ihm am Abend des 9. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe zu platzieren. Sein technisches Meisterwerk war daraufhin angelegt, Hitler und einen Großteil der NSDAP-Führung zu deaktivieren. Als dann dicker Nebel für den fernen Berliner Flughafen gemeldet wurde, verließ die kriminelle Vereinigung ihre bayerische Bierbastion 13 Minuten früher als ursprünglich geplant. Elsers Bombe explodierte indessen pünktlich, tötete acht Menschen und verletzte noch viele andere. In derselben Nacht noch wurde er an der Schweizer Grenze verhaftet und erst kurz vor Kriegsende in Dachau hingerichtet.

Als „Hitlers Lieblingsattentäter“ wurde er unzähligen Verhören ausgesetzt und alle Protokolle belegen, dass er seine Tat auf eigenen Entschluss hin und ohne politische Gesinnungsfreunde plante und durchführte. Es ging ihm ausschließlich darum, die unerträglichen Verhältnisse zu beenden, einer neuen Regierung den Weg zu bereiten und die Welt von der Achse des Bösen zu befreien. Lange vor den bei uns so hoch gehandelten, adligen Widerständlern des 20. Juli 1944 hatte der Schwaben-Desperado jene Fragen beantwortet, mit denen später die 68er-Söhne ihre maulfaulen Väter malträtierten und die heute bei keiner der handelsüblichen sonntäglichen Betroffenheitsansprachen fehlen dürfen: Warum habt ihr weggeschaut? Warum ist keiner eingeschritten? Warum habt ihr alle geschwiegen? Warum, warum und nochmals: warum?

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Elser war tabu


Da meine Familie mit den Elsers verwandt war, kann ich mich noch gut erinnern an jene Familienfeste der Adenauerzeit mit Käsecracker und Eckes Edelkirsch, wo zu später Stunde stets der Schatten des Führers aus der Tapete zurückkehrte. Und immer derselbe Sermon: Ekstase, Vollbeschäftigung, diese zauberhaften Autobahnen und dann der Wehrmachtblitzbesuch in Paris, o là là, je ne regrette rien. Elser war an solchen Abenden Tabu, mausetot, eine Familienschande sozusagen. Und wenn sein Name fiel, dann als Kommunist, britischer Agent oder armer Irrer. Es dauerte gut 50 Jahre, bis hierzulande die ersten würdevollen Zeitungsartikel erschienen und der gute Mann zögerlich auf die Bühne kam und zwischen Königsbronn, München und Berlin ein paar Denkmäler errichtet wurden.

13 lächerliche Nebelminuten entschieden über Millionen Tote, Mord, Leid, Folter und einen bis heute traumatisierten Kontinent. Elser hätte die Welt mit Sicherheit im besseren Sinne verändert, auch wenn er sich bei seinem explosiven Akt schuldig machte. Das aber wird er wohl beizeiten mit seinem Gewissen vereinbart haben. Das Gewissen – das ist der Punkt, denn an dieser Instanz kommen wir alle nicht vorbei, wenn wir über die Frage der persönlichen Verantwortung reden.

Gewissenstäter Edward Snowden


Wenden wir uns der unruhigen Gegenwart zu, zwischen Hawaii und irgendwo nahe Moskau. Edward Snowden hätte ja durchaus in einem dieser gläsernen NSA-Paläste lustig so weitermachen können wie gehabt, so eben wie alle anderen 100.000 oder mehr seiner Spitzelkollegen: Augen zu, Ohren zu, Surfen, Golfen, Reisen, Aktiendepots und sich mit der Überzeugung abfinden, dass ihr Big-Data-Monstrum guten patriotischen Zwecken dient. Und falls nicht, tröstet der Gedanke, dass man als Einzelner ja ohnehin nichts ausrichten kann.

Ein paar Jahre schon hatte Snowden in die Abgründe des weltweiten Spionagenetzes der staatlichen Elite-Hacker geschaut. In eine Welt schamloser Komplettüberwachung von Privatmails, Arztunterlagen oder Babyphotos. Dann zog er die Reißleine, kopierte die geheimen Datensätze, veröffentlichte diese und entkam gerade noch so ins Moskauer Exil. „Ich tat es“, so seine Begründung, „weil ich es nicht länger mit meinem Gewissen vereinbaren kann, dass die US-Regierung die Privatsphäre, die Freiheit des Internets und grundlegende Freiheiten weltweit mit ihrem Überwachungsapparat zerstört. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird“.

Nachdem sich die allgemeine Empörung („geht ja gar nicht Angie“) und die anfängliche Bewunderung für den flaumbärtigen Prism-Whisteblower gelegt hatten, schlägt der Dank nach und nach zu Distanz und Abgrenzung um. Heute will es jeder x-beliebige Handybesitzer immer schon gewusst haben, wie fatal es um unsere Orwell-De-Luxe-Gegenwart steht. Doch Sicherheit ist eben ein hohes Gut. Zudem hat man selbst nichts zu verbergen und überhaupt, was hat der Überläufer ausgerechnet in Putins Russland verloren. Und so verwundert es nicht, dass ihn seine transatlantischen Todfeinde inzwischen gar der aktiven Mitverantwortung am Unheil der Welt beschuldigen dürfen: „Wir konnten förmlich dabei zusehen, wie uns bekannte Terroristen nach jeder neuen Snowden-Enthüllung weitere Kommunikationskanäle abschalteten,” so eine neueste Tirade.

Je suis Charlie: Moral von der Stange


Diese bezog sich auf das Pariser Anti-Humor-Massaker, dessen genaue Struktur und Hintergründe noch auf eine juristische Klärung warten. Damit bleiben wir dem Thema treu: „Je suis Charlie“ wirkte von der ersten Minute an wie ein raffiniert erfundenes Fashionlabel für eine Art Moral von der Stange. Plötzlich solidarisierte sich die „gute Welt der westlichen Werte“ mit einer Gruppe irgendwie mutiger Zeichner und völlig unbekannter Satiriker, die sich von einer Pariser Nebenstrasse aus mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren als moralische Instanz gegen Politik und vor allem Religion inszenierten. Vom „Charlie-Hype“ erfasst, wurden sie von Hinz und Kunz und auch wenig zimperlichen Landesfürsten beim gefakten Marsch an der Seine zu Rittern der Menschenrechte, Hütern der heiligen Pressefreiheit und zur Speerspitze der Demokratie ausgerufen. Fakt aber ist, dass dort seit Jahren fragwürdig-mittelmäßige Karikaturen gedruckt wurden, die mit programmatischer Art und Weise religiöse Symbolik verletzten und viele Öle in viele Feuer schütteten, in einer Zeit, da nicht nur der Nahe Osten in Flammen steht und die Nerven, gerade auch in Paris, blank liegen. Es wäre also ein Zeichen moralischer Größe und Verantwortung gewesen, auf weitere Beleidigungen zu verzichten.

Mir imponierte das gelassene Statement von Dean Baquet, dem Chef der New York Times, wo man sich einem reflexartigen Nachdruck der Cartoons verweigerte: „Dieser Humor erfüllt nicht die Standards der Times, wo ein großer Teil der Leser aus Menschen besteht, die sich durch Satire über den Propheten Mohammad beleidigt fühlen würden.“ Und auf den Vorwurf der Feigheit entgegnete er: „Wirklichen Mut beweisen Journalisten dort, wo es um das Berichten geht, wenn sie über den IS recherchieren, nach Bagdad reisen oder über den Afghanistankrieg berichten.“ Ich möchte mir dabei den Hinweis nicht versagen, dass sich bei uns genau dieselben Mediengrößen den „Je suis Charlie“-Button ans Revers hefteten, die gerade eben noch den Copy&Paste-Büttenclowns der „heute-show“ die Drehgenehmigung im Bundestag verwehrt hatten.

Elser, Snowden, das aktuelle Gedöns um verratene Steuer-CDs, die freie Presse, Sie und ich und unsere persönliche Verantwortung – man betritt ein mächtiges Feld, wenn es um Mut geht, Humanität, Gut, Böse, Richtig, Falsch, Solidarität, Vorbildfunktion, Klartext und Haltung – notfalls auch alleine gegen den Rest der Welt. Sind Moral und Haltung in Gefahr nur noch zur Verhandlungsmasse im babylonischen Marktgeschrei zu verkommen? An der Spitze aller Tugenden stand für John F. Kennedy die Zivilcourage, also der Mut, Entscheidungen zu treffen, im Interesse einer Sache, ohne Rücksicht auf Konsequenzen für die eigene Beliebtheit oder Karriere. Wie so viele andere vor und nach ihm bezahlte er für Haltung und Würde einen hohen, sprich den höchsten Preis. Was uns andere, die wir als Mainstreamer im Schutz der Herde trotten, zu denken geben sollte, ist die Tatsache, dass wir anstelle von Dankbarkeit für gelebten Mut jenen Protagonisten auch noch seltsam schamhaft eine makellose weiße Weste abverlangen, jungfräuliche Unschuld und ikonenhafte Reinheit, also Ansprüche, an denen jeder letztlich scheitern muss. Mir scheint, dass wir mit diesem Selbstbetrug doch nur versuchen, das kollektive schlechte Gewissen zu beruhigen.

Der Fall Tugce


Für die 23-jährige Lehramtsstudentin Tugce A., die am Abend des 15. Novembers 2014 vor einem Offenbacher Mc Donald's zwei Mädchen zu Hilfe kam und dafür von einem volltrunkenen „Intensivtäter“ ins Koma geprügelt wurde, blieb indessen nicht viel Zeit zum Abwägen in Sachen Empathie, Mut oder Übermut. Ob sie nun selbst einen im Tee hatte oder den Mund zu voll nahm, egal. Sie handelte im Affekt, im unterbewussten Zeitraffer von Zehntelsekunden und tat dies vermutlich dennoch auf der Basis einer weitgehend verantwortlichen Persönlichkeit. Aus Bellevue, wo man kurz mal die posthume Verleihung eines Verdienstordens für die tapfere Frau prüfte, hörte man die feurigen Töne gut geölter Hilflosigkeit. Und so sprach der Pastor G: „Wo andere Menschen wegschauten, hat Tugce in beispielhafter Weise Mut und Zivilcourage bewiesen und stand den Opfern einer Gewalttat bei. Sie hat unser aller Dankbarkeit und Respekt verdient. Sie wird immer ein Vorbild bleiben. Unser ganzes Land trauert mit Ihnen.“

Das klingt nicht gerade nach dem ansteckenden und richtungsweisenden Spirit praktizierter Nächstenliebe und so verwundert es auch nicht, dass sich die beiden Mädchen, denen Tugce zur Hilfe kam, tagelang aus Angst nicht einmal als Zeugen meldeten. Im Fall von Dominik Brunner, der sich vor sechs Jahren an einem Münchener S-Bahnhof in eine ähnliche Gemengelage einmischte und im Verlauf einer Prügelei zu Tode kam, verhält es sich inzwischen so, dass es die windigen Verteidiger der jugendlichen Schläger im Verlauf der Verhandlungen geschafft haben, Brunner als den eigentlichen Provokateur der Szene darzustellen und ihm so – siehe Snowden und Paris – eine relative Mitschuld zuzuschustern; vielleicht funktionieren solche Prozesse so einfach, weil sie im Sinne einer allgemeinen Schuldreduktion angelegt sind.

Zwar beklagt die deutsche Polizei die wachsende Ignoranz auf unseren videoüberwachten öffentlichen Plätzen und eine Gesellschaft ohne echtes Unrechtsbewusstsein, doch wer soll denn bitte noch wem gegenüber welche hohen Werte vermitteln, wenn es schon bei einem Georg Elser ein halbes Jahrhundert bis zur Würdigung dauerte? Ist es ein Wunder, dass jene Menschen, die einer Gesellschaft Halt und Richtung geben, mittlerweile zum Auslaufmodell werden?

Nicht jeder muss ein Elser sein

 

Kann man einem anderen Menschen die geringe Qualität seines Gewissens vorhalten? Darf man strafen oder gar verurteilen? Darf man viel mehr tun, als sich unerbittlich bohrend nach den Gründen seines moralischen Versagens erkundigen? Luthers Reifeprüfung geschah 1521 in Worms im Angesicht der ganzen vatikanischen Mischpoke. Im Gegensatz zu Galilei hielt der Augustinermönch indessen diesem immensen Druck stand. Sein Schlusswort lautete: „Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“ Mit diesem Geburtsakt des Protestantismus erfuhr die Instanz unseres Gewissens in wenigen Minuten eine seelische Renovierung – heiliggeistige Vorstufe der Aufklärung sozusagen und nicht immer von Vorteil für eine einfache Lebensführung.

Nun muss nicht jeder von uns ein Elser sein, ein Nelson Mandela, ein Luther oder Wallraff, was nicht so ernst gemeint ist. Es würde aber schon genügen – gerade in so gefährlichen und komplizierten Tagen wie den aktuellen – dieses Gewissen in sich zu spüren, zu teilen und je nach individueller Statur zu nutzen und zu leben; offensiv, subversiv, raffiniert, gütig, bestimmt, im Privaten oder laut vor dem Elmauer Wellness-Neuschwanstein. Nur wie?

Auf der Suche nach einem halbwegs intakten Kodex wird man bei Gandhi fündig, der für solche Konfliktsituationen ein paar Ratschläge hinterließ: handle sofort, handle hier, handle offen, handle aus Überzeugung, handle gewaltlos, verweigere dem Bösen die Zusammenarbeit, gehe positiv an einen Streit heran und betrachte ihn als eine Gelegenheit, die Gesellschaft sinnvoll umzuformen. Dieser Gandhi war von der Bergpredigt, also der zentralen Schrift des Neuen Testaments begeistert, wie der gerade verstorbene Richard von Weizsäcker, der dazu meinte: „Die großen Konflikte der Zeit wären lösbar, wenn wir Menschen die Kraft fänden, persönlich und politisch gemäß der Bergpredigt zu handeln.“

Nun möchte man sich Maria und Josef und den gewindelten Messias derzeit nicht vorstellen zwischen mediterranen Flüchtlingstrecks, losgelösten Streubomben und scheinheiligen Asyldebatten über Frontex und andere Sterbehilfen. All die Talkrunden mit ihren immergleichen Experten, die sich anmaßen, mitten im Elend, gute von schlechten Zuwanderern zu unterscheiden, produktive und überflüssige, die uns – nachdem Scholl-Latour zum Schweigen verdonnert wurde, ihre Sprechblasenwahrheit über Koran, Islam und Islamismus verkünden, versorgen Angst und Leere nur mit neuem Gift. Sie versorgen uns letzten Endes mit der gleichen Verunsicherung und Hilflosigkeit wie das die dampfwütenden „Wir sind das Volk II“-Märsche tun wie auch die seltsam leblos-pseudobunten Anti-Pegida-Multi-Kulti-Remake-Lichterkettenevents mit Grönemeyer und Wecker.

Wir alle brauchen im Sommer 2015 Orientierung, Haltung, Wissen, eine feste Burg und es müsste eigentlich die Stunde der Medien schlagen, der klugen Köpfe, der moralischen Größe. Wollen Sie hören, was Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der nun alle Hände voll zu tun hat, vor ein paar Monaten zum Zustand unserer Presse meinte? „Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.“

Ohne alle Fahnen, Parolen und Posaunen kommen zur Zeit ganz normale Bürger aus, die bei den Behörden vorstellig werden und bereit sind, wildfremde Menschen aus Irak, Syrien oder Afghanistan solange bei sich zu Hause aufzunehmen, bis die Winde sich wieder drehen. „In der Flüchtlingsfrage“, so meinte dazu eben Alt-OB Hans-Jochen Vogel, „haben die Menschen zum Beispiel hier in München in einer Weise geholfen, die noch vor nicht allzu langer Zeit so nicht zu erwarten gewesen wäre“.

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