Wer ist Thomas Pynchon? - Ein U-Boot im Wüstensand?

Zwischen Paranoia und Klamauk, Idealismus und Anarchie, Groucho Marx und dem Una-Bomber – in seinem neuen Roman bewährt sich Thomas Pynchon als grandioser letzter Vertreter der Postmoderne

Die Spur des Unbekannten führt ganz klassisch nach Ithaca, zu jenem idyllischen Heimathafen, in den dieser Odysseus nach seiner Ausfahrt allerdings nie mehr zurückgekehrt ist. Dort, hoch oben im amerikanischen Bundesstaat New York, an der Cornell University, studierte Thomas Pynchon in den Fünfzigern, unterbrochen von zwei Jahren Militärdienst bei der Marine, Literaturwissenschaft und Physik und begann dabei zu schreiben.

Einer seiner Lehrer war der russische Emigrant und Revolutionsflüchtling Vladimir Nabokov, dem der weltweite Erfolg von «Lolita» bald ermöglichen sollte, die akademische Arbeit aufzugeben und sich in ein Schweizer Hotel zurückzuziehen. Mehr als seine unleserliche Handschrift soll Nabokov (oder vielmehr seiner Frau Vera, die die Seminararbeiten korrigierte) an dem Studenten nicht aufgefallen sein, aber schön wär’s doch, wenn sich nach all den Jahren in einem Archivschrank ein Schrieb fände, in Geheimtinte womöglich, zweisprachig natürlich, mit dem Vladimir Nabokov seinem Meisterstudenten Thomas Ruggles Pynchon die Fackel weiterreicht und damit als letzte Hausaufgabe stellt, die amerikanische Literatur zu retten.

Er hat die schwere Aufgabe übernommen, er obliegt weiter dieser Pflicht und ist dabei doch immer der fleißige Cornell-Student geblieben. Als Pynchon 1984 einen Band mit seinen frühen Erzählungen veröffentlichte, nannte er ihn und sich «Slow Learner» (Spätzünder), und noch heute lernt er wie ein Besessener, um dann seinen Lesern mitzuteilen, was ihn in den letzten Jahren beschäftigt hat: die Thermodynamik, das Raum-Zeit-Kontinuum, die Quantenphysik oder die Nullstellen der Riemann’schen Zeta-Funktion, wie sie der Mathematiker David Hilbert als Problem formuliert hatte.


Meister der anspruchsvollsten Bücher der Welt

Mit dem neuen Buch, das den notfalls James-Bond-kompatiblen Titel «Against the Day» trägt und kaum vor Ende 2008 in deutscher Übersetzung vorliegen wird, überfordert er seine Verehrer wie gewohnt. Physikalisch sind die Reaktionen auf den jeweils neuen Pynchon-Roman immer gleich: Die Spannung wächst, sobald ein neuer angekündigt wird, Gerüchte über Thema und Personal machen die Runde, allerlei Halbwissen wird kolportiert, erhitzt wird über möglichst esoterische Fragen diskutiert, bis die Erregung unweigerlich zusammenfällt, wenn das Buch endlich da ist und ein Kritiker dem anderen versichert, er habe aber schon größere Zwerge gesehen, und früher sei Pynchon aber besser gewesen.

Abgesehen davon, dass früher alles besser war, nicht zuletzt das kritische Urteil, verdankt die Welt (oder jener kleine Teil davon, der zu lesen versteht) Thomas Pynchon die anspruchsvollsten Bücher, die sich denken lassen. Da sie zugleich die komischsten sind und dieser Humor bei aller Liebe manchmal recht fragwürdig ist, weiß der von der handelsüblichen Ware eingedeckte Leser oft genug nicht, woran er bei diesem Autor ist.

«Against the Day» beginnt 1893 mit einer Luftschifffahrt zur Weltausstellung in Chicago. Sechs «Chums of Chance» reisen in dem Gefährt mit dem seltsamen Namen «Inconvenience» (was doch wohl Unbequemlichkeit bedeutet) und tragen so kuriose Namen wie Randolph St. Cosmo und Chick Counterfly, um noch von dem Hunde Pugnax zu schweigen, der zwar ordnungsgemäß bellt, aber damit auch mitteilt, was er gerade liest. Nur vom Besten natürlich und ganz auf der elaborierten Höhe der Zeit: Henry James.

Aus den Ballons, die in Pynchons Roman «Mason & Dixon» (1997) die Grenze zur Wildnis zugleich markierten und beobachten sollten und, wen wundert’s, wichtiger Teil einer gewaltigen jesuitischen Verschwörung gegen die Aufklärung waren, ist ein präzeppelines Luftschiff geworden, noch mehr Jean Paul und dem Mondfahrer Cyrano de Bergerac verpflichtet als dem gleichnamigen Grafen oder den Brüdern Wright – ein Transportmittel der technischen Phantasie, in gehörigem Abstand zur drunter wegfliegenden Welt, der erst die rechte Draufsicht garantiert. Luftballon, der Hund, die fünf (sechs) Freunde, Weltausstellung. Meint er das alles ernst?

Ein Schriftsteller, der nicht gesehen werden will

Wesentlicher Bestandteil des immergleichen Reiz-Reaktions-Schemas bei Thomas Pynchon ist die Legende vom Großen Unsichtbaren. Es existieren bloß drei halbwegs ordentliche Jugendbildnisse in College-Jahrbüchern oder aus seiner Militärakte. Weiteren Aufnahmen ist er, manchmal bloß um Haaresbreite, buchstäblich aus dem Weg gegangen. Lange ehe Michel Foucault den Autor im Sand am Meer vergrub, zog sich Pynchon aus der Welt zurück und wollte nicht mehr gesehen, gar befingert werden, sondern nur noch schreiben. Seit nun schon vielen Jahren lebt er in Manhattan, ist mit seiner Agentin Melanie Jackson verheiratet und scheut weiter die Öffentlichkeit wie, nun ja, der Teufel das Weihwasser. Die beiden haben einen Sohn, den er früher sogar zur Schule brachte. CNN-Reporter lauerten ihm auf, und auch da gelang es ihm, das Fernsehbekanntwerden noch einmal abzuwenden.

Dabei lebt er wie jeder andere in der Gegenwart. In einer Serie über die Sieben Todsünden, die die «New York Times» vor einigen Jahren veranstaltete, schrieb Pynchon den Beitrag über die Inertia, die Trägheit, die ihn an den Fernseher fessle. Zum Erscheinen des Buches hat er sich und sein selbstgeschaffenes Image stilgerecht parodiert: Im Fernsehen gab er seine bisher letzten Lebenszeichen. Er zeigte sich in der Serie «The Simpsons» als Cartoon-Figur Th. P., das Gesicht in einer Papiertüte verborgen, und sagte: nichts.

So wurde denn wieder gezählt (1085 Seiten), gewogen (anderthalb Kilo) und erwartungsgemäß für zu leicht  befunden («oberflächliche Charakterzeichnung», «unübersichtlich» und, bewährtes Blitzurteil, «laaaaangweilig»). Wer sich jedoch nicht damit begnügt, andächtig die schiere Zahl der Seiten zu nennen, mit denen «Against the Day» prunken kann, wem nicht schon die mediale Nicht-Existenz des Autors die Bekanntschaft mit ihm ersetzt, wird zugeben müssen, dass es in der Gegenwartsliteratur der einigermaßen überschaubaren indogermanischen Sprachen keinen schwierigeren Autor gibt.

Die Philologen kennen auch den Grund dafür: Pynchon spricht wie keiner sonst in Stimmen, und dass er seine eigene erst in dem vielstimmigen Wortschwall seiner Personage entwickelt, wird nur merken, wer sich in dieses Riesenwerk hineinwagt. Er wird dann auch erleben, dass es sich ganz klassisch um die Bruchstücke eines Total-Romans handelt. Pynchon ist der letzte Vertreter der Postmoderne, die, grob gerechnet, 1759 begann, als der erste Band von Laurence Sternes «Tristram Shandy» erschien. Wenn James Joyce sich rühmte, dass man Dublin nach den Angaben in seinen Büchern wieder aufbauen könne, langt es bei Pynchon gleich für ganze Erdteile der Welt von gestern.


Warum dieser Autor so schwierig ist

Dass es nicht die von heute ist, sorgt bei den Interpreten für einige Irritationen. Wie, kein Irak-Kommentar, keine 9/11-Tragödie, keine zerfallende Familie in der Vorstadt? Sondern ein Genre-Stück aus einer dermaßen langweiligen Vorzeit? Der historische Roman hat nicht ohne Grund abgewirtschaftet und ist ansonsten bei Napoleons großer Liebe und den letzten Seufzern doppelselbstmörderischer Erzherzöge ganz gut aufgehoben. Doch sind die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, die Zeit der industriellen Explosion und der ersten Globalisierung, in der die waffentechnischen Grundlagen für das kommende Morden erfunden und rasch auch bis zur Serienreife produziert wurden, seltsam unbehandelt geblieben.

Es war eine gnadenlos optimistische Epoche, mit weltumspannenden Plänen – oder jedenfalls den entsprechenden Konzernen – und einem unerwarteten Wirtschaftswunder, dessen Revenuen umstandslos in ein beispielloses Hochrüstungsprogramm investiert wurden. Gegen die etablierten Kolonial-Imperien England, Frankreich und Holland treten die Amerikaner, die Deutschen und die Belgier auf und verlangen ihrerseits einen Platz an der Sonne, also das größte Flottenprogramm, die dicksten «Dicken Bertas», den monopolisierten Zugang zu den Rohstoffen (schließlich war das Automobil eben erfunden worden und würde das Flugzeug bald nicht bloß kriegs-, sondern auch friedensentscheidend sein). In all der Renommisterei, sagt Pynchon, begann der Krieg, für den nicht erst die Schüsse in Sarajevo zu fallen brauchten.

Die unschuldigen Jahre vor dem Ersten Weltkrieg

In seiner frühen Erzählung «Unter dem Siegel» ist etwas großsprecherisch von einer Freimaurerloge die Rede, die wartet, bis es so weit ist: «Auf den Fall von Khartum und darauf, dass die Krise in Afghanistan sich zu einem Punkt zuspitzte, der es erlaubte, von unvermeidlicher Apokalypse zu sprechen.» Pynchon hat diese eigentlich nur ihm bekannte Nahtstelle der modernen Geschichte, an der sich Engländer und Franzosen gegenseitig belauern, Deutsche und Österreicher bereits mitmischen und die Welt unbemerkt von der Welt verloren zu gehen droht, in seinem ersten Roman «V.» (1963) erweitert und in «Against the Day» zu einem riesenhaften Panorama der scheinbar unschuldigen Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ausgefaltet.

Es ist die Zeit der Arbeiterkämpfe und der bürgerlichen Gartenlokale; die Naturwissenschaften haben sich von der klassischen Bildung emanzipiert und widmen sich der reinen Lehre, und der Erzherzog Franz Ferdinand begehrt ausgerechnet in Chicago, der Stadt, die die Welt mit Dosenfleisch versorgt, Schweine zu schießen. Allenfalls das Wiener Fin de Siècle findet sich in diesem frenetischen Aufbruch etwas eingedunkelt, und Kit Traverse, der in Göttingen einen Seelendoktor aufsucht, erlebt einen klassischen deutschen Antisemiten, der den Amerikaner vor der Überfremdung durch die Juden warnt.


Mit der Faschoda-Krise fing alles an

Pynchon bestimmt die Faschoda-Krise von 1898 zum Ausgangspunkt für das katastrophale 20. Jahrhundert – eine Analyse, die weder durch Eric Hobsbawm noch durch Hans-Ulrich Wehler gedeckt, aber wie gemacht ist für den einfallsreichsten Verschwörungstheoretiker der heutigen Literatur. Und denkt nur, er hat sogar Recht damit: Der Bogen, den er in seinem apokalyptischen Weltkriegsroman «Gravity’s Rainbow» (Die Enden der Parabel, 1973) spannt, leitet von den Zwangsarbeitern, die in Mittelbau-Dora für Albert Speer und Wernher von Braun schufteten, ohne Umwege zum amerikanischen Apollo-Mondprogramm. Den Irrsinn dieses kriegsnotwendigen Raketenprogramms, mit dem zunächst London in Schutt und Asche gelegt werden sollte, verkörpert der amerikanische Soldat Tyrone Slothrop, dessen Erektionen die nächsten Einschläge der V 1 in der Stadt anzeigen. Oder wie es bei Pynchon heißt: «Herrlicher Morgen, Weltkrieg Zwo.»

Diesen Autor treibt das studentische Bedürfnis, die Welt nicht bloß zu durchschauen, sondern auch noch zu retten. Um es so kurz zu machen, wie es der Roman partout nicht sein will: Thomas Pynchon hat den großen Welterklärungsroman fortgesetzt, den er 1959 in Cornell begonnen hat. Ganz wird es ihm nicht gelingen, aber mit diesem neuen Bruchstück eines einzigen großen alternativen Weltentwurfs nähert er sich einem Ideal, das Jorge Luis Borges einmal einem Kartografen zugedichtet hat – die Welt im Maßstab 1:1 abbilden zu können. Noch immer merkt man dem bald Siebzigjährigen den brillanten College-Studenten an, der seine Freunde und auch die Professoren mit seinen weitreichenden, oft abenteuerlichen, oft bloß verstiegenen Theorien verblüfft.

Drum sei hier ein ganz großes Warnschild aufgestellt: Pynchon interessieren die Ehebruchs- und Familiengeschichten nicht, mit denen die ältere amerikanische Gegenwartsliteratur in der Nachkriegszeit ihr recht einträgliches Auskommen gefunden hat. Psychologie, gar Charakterzeichnung ist diesem Groß-Demiurgen wesensfremd. Er ist Bastler, Ingenieur und möchte nichts Geringeres, als dem Welträtsel auf die Spur kommen. Das war früher eine Kleinigkeit, die Religion, gleich welche, half, und später ein zum Existenzialismus verwässertes Christentum. Bei Pynchon, dem Nachfahren eines finsteren Puritanergeschlechts, ist die Welt aber schon immer des Teufels, er entwirft ihr im Nachhinein eine Dystopie und stemmt sich tragisch verspätet gegen den Sturz in den Untergang.

Handlungsstränge gibt es im Dutzend

In Cornell bewunderte der Intellektuelle Pynchon den gleichaltrigen Richard Fariña, der den anderen leicht weismachte, er habe in den Semesterferien in Irland für die IRA gekämpft und sei in der Neujahrsnacht 1959 an der Seite Fidel Castros in Havanna eingezogen. Das war der Tatmensch, der Pynchon nicht sein konnte. Drum starb er auch mit seinem Motorrad, während Pynchon die Sechziger als ewiger Student und Stubenhocker verbrachte und seinen phantastischen Weltkriegsroman «Gravity’s Rainbow» schrieb. IRA und Kuba, das war ja schön, aber er dachte in größeren Dimensionen, schlug deshalb das Angebot aus, in New York als Filmkritiker anzufangen und betreute stattdessen lieber die Werkszeitung der Boeing-Werke in Seattle. Richard Fariña, bei dessen Hochzeit mit Mimi Baez, der Schwester der Folk-Sängerin Joan Baez, Pynchon den Trauzeugen machte und zu dessen Roman «Been Down So Long It Looks Like Up To Me» (1966) er eine Einleitung schrieb, kehrt in «Against the Day» vierzig Jahre nach seinem Tod als Dinamitero wieder.

Die Handlung, soweit die knapp drei Dutzend Stränge überhaupt eine ergeben: Webb Traverse, ein anarchistischer Sprengmeister, der, als Bergarbeiter getarnt, Brücken und Grubenanlagen in die Luft jagt, wird seinerseits im Auftrag des Plutokraten Scarsdale Vibe ermordet. Seine Kinder wollen ihn rächen und werden nun selber von Handlangern des Erzschurken verfolgt. So weit, so gut, so abenteuerlich und gleichzeitig vertraut, wie man das aus hunderttausendundeinem Schundroman kennt. Pynchon, das schwant dem Leser bald, hat sie alle gelesen und gibt sich größte Mühe, genau im gleichen Stil zu schreiben.

Er kann aber noch mehr: Die Stilform des Jugendbuchs geht ihm ebenso flüssig von der Hand wie «Harry Potter», wie Edgar Wallace, wie John Buchan, wie Dashiell Hammett (dessen halbvergessener Pinkerton-Roman «Rote Ernte» ein weiteres großes Vorbild ist, aber nur eins von vielen). Wird, fragt bang der Leser und weiß es doch besser, wird das Gute siegen?

Pynchon, treu den Träumen seiner Jugendlektüre, lässt kein triviales Klischee ungenutzt, was ihm manchmal die überraschendsten Pointen ermöglicht. So kann Willis Turnstone einen Raubüberfall im Wilden Westen glücklich abwenden, weil den Räuber im rechten Moment sein Rückenleiden befällt und Turnstone ihm mit einer fachgerechten Daumendruckmassage Linderung verschaffen kann.


Ein Welterklärungsroman als Alptraumreise

Wer dermaßen frivol mit seinem Material umgeht, der ist der Kritik nicht ganz geheuer. Es eignet sich das Buch auch nicht zur Lektüre übers Wochenende oder an zwei, drei freien Abenden. Dafür ist es zu umfangreich, von zu vielen Personen bevölkert, zu gebildet und zu fein gewebt. Wenn der Reverend Moss Gatlin auftritt, der nicht etwa Gott, sondern die Anarchie predigt, kommen «arbeitslose Männer von außerhalb, erschöpft, ungewaschen, aufgetrieben, verdrossen … Kirchenmitglieder, die auf eine Gelegenheit lauerten, die Sau rauszulassen … Frauen in erstaunlich großer Zahl, alle mit den Abzeichen ihres Berufs, Schürfwunden vom Schleppen in den Fleischfabriken, ein Blinzeln von der Näherei bis lang in die Nacht in zeitlos schlechtem Licht, Frauen mit Kopftüchern, gehäkelten Lockenwicklern, aufwändig beblümten Hüten, ohne Hut, Frauen, die nach allzu vielen Stunden des Hebens, Holens und Gehens in Straßen ohne Arbeit einfach nur die Beine hochlegen wollten, im Gesicht die wieder erlittene Kränkung …»

In solchen weit schwingenden parataktischen Reihungen kommt das rasende Erzähltempo vorübergehend zur Ruhe, ehe der Schauplatz, die Zeit, das Personal wechseln, neue Gefahren drohen, neue Verschwörungen, neue Explosionen – und nicht alle vom Dynamit ausgelöst.

In Sibirien, weit hinter dem Ural, fliegt 1908 die Taiga in die Luft mit der 1150-fachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima: das Tunguska-Ereignis, das vor knapp hundert Jahren tatsächlich stattfand und beispielsweise von Stanislaw Lem in seinem Roman «Die Astronauten» behandelt wurde. Waren es Außerirdische? Ein Meteorit? Oder doch eine von Menschen herbeigeführte Explosion, die erste Erprobung einer Massenvernichtungswaffe? (Vielleicht ist «Against the Day» doch kein historischer Roman.)

Sympathie für die schönen Seelen des Terrors

Das Buch führt auf eine unendliche Alptraumreise, bildet ein mehr oder weniger bewusstes Flackern von überreizten Hirnströmen ab, bei dem eine Fahrt im U-Boot unter dem Wüstensand das Normalste von der Welt sein muss. Im Verlauf des Tausendseiters werden nach Chicago der damals noch einigermaßen Wilde Westen und Mexiko abgefahren, in Europa Belgien, Deutschland, Italien, dazu Sibirien und immer wieder der Balkan.

Hier, in Sarajevo, beginnt 1914 der große Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts mit der Erschießung des bereits bekannten Erzherzogs. Pynchons Sympathien für den bombenwerfenden Anarchismus sind dabei unübersehbar. Zu Zeiten des niedergehenden Zarismus galten die Anarchisten als Freiheitskämpfer, als die «schönen Seelen des Terrors», wie sie auch Hans Magnus Enzensberger noch genannt hat. Allerdings waren sie gründlich von der Polizei unterwandert und zerfleischten sich in endlosen Fraktionskämpfen.

Kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende sprang der anarchistische Funke vom reaktionären Kontinent nach England und nach Amerika über, wo er zahllosen Einwanderern, die in den Fleischfabriken und Lagerhallen von Chicago zum höheren Ruhm der ersten Industriemagnaten arbeiteten, als einzige Hoffnung erschien. Gegen die vereinte Arbeitermacht, so fürchten die Fabrikherren, sei bald kein Kraut mehr gewachsen. Nur ein Krieg kann da noch helfen: «Ein allgemeiner europäischer Krieg, in dem jeder streikende Arbeiter ein Verräter wäre, böte allerdings die Möglichkeit, den Anarchisten ein für alle Mal den Garaus zu machen.»

Über die Jahre wurden alle möglichen prominenten Autoren verdächtigt, in Wahrheit Pynchon zu sein. Als Pynchon galt der ebenfalls zurückgezogen lebende J. D. Salinger (mit dem ihn wenig verbindet); getippt wurde auf William Gaddis oder auch Don DeLillo (mit denen ihn schon mehr verbindet); sogar den zivilisationsflüchtigen Öko-Terroristen Theodore Kaczynski, bekannt als der Una-Bomber, hatte man in Verdacht, eine Pynchon-Inkarnation zu sein. Kaczynski griff die moderne Welt an, schickte Wissenschaftlern Sprengsätze und legte es auf Flugzeuge an. Er ist ein später Nachfahre der Ludditen, denen Pynchon einst einen Aufsatz gewidmet hat, jener Maschinenstürmer, die vor zweihundert Jahren vom Tempo des Fortschritts nicht anders als wir heute überwältigt wurden. Da fast nichts über Pynchon bekannt ist, zieht er unweigerlich solche Spekulationen auf sich. Schließlich: handelt sein Werk nicht spätestens seit der «Versteigerung von No. 49» (1966) von einer einzigen großen, mindestens weltumspannenden Verschwörung?
 

Ein Hohelied auf das Dynamit

In «Against the Day» kommen die Anarchisten zu ihrem historischen Recht. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet ein Bürgerkind von der amerikanischen Ostküste, das seine Vorfahren bis ins Hochmittelalter aufzählen kann und dessen Vater strammer Republikaner war, seine Landsleute an die verschüttete Tradition der Arbeiteraufstände und anarchistischen und naturgemäß eher unamerikanischen Umtriebe erinnert, denen damals doch nicht bloß die österreichische Kaiserin Sisi, sondern auch der amerikanische Präsident William McKinley zum Opfer fiel. Vor allem die Einwanderer waren es, die den Preis für den gewaltigen ökonomischen Sprung nach vorn bezahlen mussten. Der Zwölfstundentag war die Regel in den Fabriken, und der beständige Zufluss von Menschen aus Europa hielt die Löhne auf einem erfreulich niedrigen Niveau.

Chicago, in dem die «Inconvenience» anlegt, war die Hochburg der Anarchisten. 1886 explodierte nach einer Aussperrung in einer Erntemaschinenfabrik auf Chicagos Haymarket eine Bombe und riss ein Dutzend Menschen in den Tod. Die Polizei begann auf die streikenden Arbeiter zu schießen. Kurz davor hatte der deutsche Anarchist Johann Most in seinem Buch «Revolutionäre Kriegwissenschaft» (1884), das in New York, aber in deutscher Sprache erschien, den Arbeitern das vergleichsweise billige Dynamit als Mittel der Wahl für die «Propaganda der Tat» empfohlen und zugleich so genaue Bauanleitungen geliefert, dass das Buch noch heute weitgehend sekretiert ist. «Im Dynamit», so versicherten einander die amerikanischen Anarchisten, «steckt mehr Kraft, den Unterdrückten Recht und Gerechtigkeit zu verschaffen, als in den Gesetzen Kraft steckt, den Geist der Unruhe und des Aufruhrs zu besänftigen und zu töten!»

Es bestätigt den Verdacht, dass Pynchons Buch bisher nicht allzu viele gelesen haben können, denn die Empörung über einen Autor, der nach dem Ende der kommunistischen Welt und dem unbestreitbaren Sieg der kapitalistischen nachträglich eine Folgekostenabschätzung dieses dubiosen Sieges liefert, der sich nicht scheut, Kapitalisten Plutokraten zu nennen und erkennbar Beifall klatscht, während er Kieselguhr Kid (der erwähnte Webb Traverse) die Symbole der feindlichen Macht in die Luft jagen lässt, als wären’s Spielzeughäuschen, müsste doch allmählich zu hören sein.


Unterwegs durch die schlechteste aller Welten

So spielt Thomas Pynchon das große Spiel Rudyard Kiplings nochmal, und, ja, es ist auch ein Kinderspiel: Er bedient sich der herrlich simplen Geschichten von Alexandre Dumas und Arthur Conan Doyle, liefert täuschend ähnliche Pastiches von Horatio Alger und amalgamiert doch alles zu einer Voltaire’schen Tour de Force durch die schlechteste aller Welten. Diese Welt ist arm dran, sie war’s aber immer schon. Pynchon zeigt, wo es schief ging. Nur ein jugendlicher Idealist glaubt noch, dass er die Welt durchschauen könne, und deshalb sieht er auch überall die große Verschwörung am Werk, der er seine eigene entgegensetzt.

Von so vielem müsste bei diesem romantischen Wunderwerk noch die Rede sein, von den sprechenden Comic-Namen Dahlia Rideout, Heino Vanderjuice, von Professor Renfrew, der sich mit seinem Kollegen Werfner kabbelt und die alle Pig Bodine, Vheissu, Mondaugen, Slothrop und Blikero aus den früheren Romanen nachfolgen. Pynchon hat seine Freunde und Feinde immer wieder durch seinen entschlossenen Infantilismus irritiert, die unbezwingbare Freude am Klamauk, am unreifen Studentenhumor. Frivolität, Leichtsinn, und das ausgerechnet bei den schwersten Themen, bei Krieg, Massenvernichtung, bei Arbeiterkämpfen und Explosionen, das geht einfach nicht. Aber, ut fabula docet, es geht doch.

Neben der alles beherrschenden Paranoia sind hier alle Unarten der drogenschweren sechziger Jahre versammelt – nicht einmal mehr sadomasochistische, sondern astrein ekelhafte Sexualpraktiken, ein Hund, der lesen kann, sprechende Kugelblitze, ein Held, der die Marseillaise mit belgischer Mayonnaise verwechselt, ein Wiener Hotel namens «Neue Mutzenbacher», der Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, der schon vor dem Ersten großen Krieg «Ich bin ein Berliner!» kräht und damit sowohl den in Deutschland beliebtesten US-Präsidenten wie die gesamte Frontstadt Berlin in den Kalauerdreck zieht – das kann doch alles nicht wahr sein!

Statt einem Karl Marx, der in einem mustergültigen historischen Roman aufzutreten hätte, um mit Heinrich Heine Vor- und Nachteile einer Revolution abzuwägen, zaubert Pynchon Groucho Marx aus der Luft. Allerdings ist dieser anarchistische Filmkomiker so sorgfältig in die faktengesicherte Handlung eingearbeitet, dass er mit unbewaffnetem Auge kaum erkennbar ist. Frank Traverse wacht nachts in einem Hotelzimmer auf, weil er von nebenan Schreie hört und fragt, ob alles in Ordnung sei. «Ein ungefähr fünfzehnjähriger Junge kauerte (im Original: crouched) mit weit aufgerissenen Augen an der Wand. ‹Klar – ich halte mir bloß die Wanzen vom Leib.› Er zuckte heftig mit den Augenbrauen und tat so, als würde er eine Peitsche schwingen. ‹Zurück! Ich sagte: Zurück!›»

Der Knabe heißt Julius, und das ist der Geburtsname des Vaudevillisten und Groß-Komikers mit den dicken Augenbrauen, der sich tatsächlich 1905 in Cripple Creek aufgehalten haben könnte.
Ja, und, aber: meint Pynchon das alles ernst? Das, geschätzte Frau Leserin, verehrter Herr Leser, müssen Sie schon selber herausfinden.

 

Willi Winkler ist Literaturkritiker, Übersetzer, Publizist und Biograf (z.B. von Bob Dylan) und lebt in Hamburg.

Werke von Thomas Pynchon

Against the Day. A Novel
Penguin, New York 2006. 1088 S., 26,90 €

Mason & Dixon. Roman
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt TB, Reinbek 2001. 1022 S., 12,90 €

Mason & Dixon (1997)
Henry Holt, New York 1997. 784 S., 4,99 $

V. Roman
Aus dem Amerikanischen von Dietrich Stössel und Wulf Teichmann.
Rowohlt TB, Reinbek 2000. 528 S., 10,90 €

V. (1963)
Vintage, London 1995. 496 S., 13,60 €

Die Enden der Parabel. Roman
Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz.
Rowohlt TB, Reinbek 2003. 1193 S., 14,90 €

Gravity’s Rainbow (1973)
Penguin, New York 1995. 768 S., 18 $

Die Versteigerung von No 49. Roman
Aus dem Amerikanischen von Wulf Teichmann.
Rowohlt TB, Reinbek 2004. 202 S., 7,90 €

The Crying of Lot 49 (1966)
Buccaneer Books, New York 1997. 183 S., 11,95 $

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.