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(picture alliance) Akzeptierte schon als Kind keine anderen Geschenke als Bücher: Reinhard Klimmt

Die Bibliothek des Reinhard Klimmt - Ein Tollhaus im Saarland

So viele Bücher kann man nur sammeln, wenn man schon von früher Kindheit an besessen ist. Die Bibliothek des ehemaligen SPD-Politikers Reinhard Klimmt erstreckt sich buchstäblich über sein ganzes Haus. Renaissance-Folianten gehören dazu und eine nahezu vollständige Sammlung der Taschenbücher der jungen Bundesrepublik.

Als General Stumm von Bordwehr zum ersten Mal die Hofbibliothek in Wien betritt, wird ihm sonderbar zumute. Er hat die „Empfindung, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts, wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien und überall nur Bücher über Bücher.“

Besser als Robert Musil es in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ tat, lässt sich kaum beschreiben, wie es bei Reinhard Klimmt aussieht. Das Haus des ehemaligen SPD-Ministers und Ministerpräsidenten in Saarbrücken ist zwar keine imperiale Hofburg, sondern ein kleines, grau verputztes Zweifamilienhaus im Stil der fünfziger Jahre. Aber es birgt eine wahrhaft majestätische Bibliothek. Vom Keller bis zum Dach ist es mit Büchern derartig vollgestopft, dass man Angst um die Statik bekommen könnte. Denn die etwa 30000 Bände, die dort jede Ecke und jeden Winkel füllen, haben ihr Gewicht. Hinzu kommen noch unzählige Holzskulpturen aus Afrika – Kunstschätze, die Klimmt ebenso leidenschaftlich sammelt wie die Bücher.

Natürlich steht auch Musils „Mann ohne Eigenschaften“ in der Sammlung, der Roman hat im Dachgeschoss sogar einen Ehrenplatz im vom Vater ererbten und mit einer Glastür verschließbaren Bücherschrank aus hellem Holz. Denn es ist die berühmte Erstausgabe von 1930 und 1932, 1943 erweitert um den ganz seltenen dritten Band aus dem Nachlass, von dem es nur 1000 Exemplare überhaupt gibt. Eines davon besitzt Klimmt.

In Bücher vernarrt war der 69-Jährige schon als kleiner Junge. „Für unseren lieben Reinhard, 16.8.1950“ steht im vorderen Deckblatt vom „Dschungelbuch“, das ihm die Eltern zu seinem achten Geburtstag schenkten. Oben links schrieb Klimmt mit Bleistift seinen Namen und eine kleine „4“ – es war der vierte Band seiner Sammlung. Der „Kampf der Tertia“ von Wilhelm Speyer, ebenfalls ein rororo-Taschenbuch, das er zu Weihnachten des gleichen Jahres bekam, trägt bereits die Nummer 43. So rasch war innerhalb weniger Monate sein Büchervorrat gewachsen.

Lesen konnte er schon, bevor er in die Schule kam. Er verschlang alles, was ihm in die Finger fiel. Als achtjähriger Bengel las er die Bibel – „ohne alles zu verstehen“ – von vorne bis hinten. Sein Vater war Volksschullehrer und Kantor in Engter, einem Dorf bei Osnabrück. Seine Mutter gab in derselben Schule Handarbeitsunterricht. Mit dem „Stabilo-Baukasten“ oder dem „Kleinen Chemiker“ war Reinhard nicht zu beeindrucken. Es mussten Bücher sein. Zum Beispiel der wunderschön illustrierte Band der Selma Lagerlöf von der „Wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson“ – heute eine Kostbarkeit mit hohem emotionalen Erinnerungswert. Andere Geschenke akzeptierte er nicht.

Was er als Schüler durch Musizieren (er spielte Cello) und Nachhilfestunden verdiente, investierte er zunächst in Taschenbücher. Prägend die rororo-Bände, von der Nummer eins (Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“) bis zur Nummer 1000 (Jean-Paul Sartres „Wörter“). Dazu Fischer, Ullstein, List, Herder, Goldmann und was es noch so gab. So entstand eine beeindruckende und heute nahezu vollständige Paperback-Sammlung der fünfziger und sechziger Jahre. Sie füllen ein großes Zimmer im ersten Stock seines Hauses. Mit einem Freund will Klimmt einen Katalog aller deutschsprachigen Taschenbuchtitel herausgeben, die zwischen dem 1.Januar 1950 und dem 31.Dezember 1959 erschienen sind, und damit auch an die Illustratoren erinnern, die sie gezeichnet und gemalt haben. „Das wird eine kleine Kulturgeschichte der jungen Bundesrepublik.“

Richtig systematisch sammeln konnte er aber erst, nachdem er 1980 mit seiner zweiten Frau Christa deren Elternhaus bezog. Mit Freunden baute er das Dachgeschoss aus, jede Ecke, jeden Winkel, jede Nische füllte er mit Regalen, von denen die meisten seine Frau zimmerte. Nur das Esszimmer im Erdgeschoss, die Küche und die Badezimmer blieben bücher- und skulpturenfrei. Alle anderen Zimmer, Gänge, Nischen und Treppenhäuser sind belegt. „Die Bücher sind durch mich hindurchgewuchert, sie sind ein Teil von mir“, schrieb Klimmt in seinem Buch „Auf dieser Grenze lebe ich“. Er entdeckte und sammelte die Exilliteraten, die vor den Nazis ins Ausland flüchten mussten: Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Paul Zech, Ernst Fuhrmann – und viele andere, die meisten heute längst vergessen.

Demnächst wird er ganz in die Spitze seines Dachgebälks vordringen, ein größerer Hohlraum tut sich da schon auf, noch nahezu leer – die Treppe nach oben steht ebenfalls, ist aber derzeit nicht begehbar: Auf jeder Stufe stapeln sich Bücher und Papiere. Irgendwo trieb er vor Jahren hölzerne Leitz-Aktenschränke auf, die man übereinander stapeln und hinter deren Glasscheiben man alte Bücher staubfrei lagern kann. Nicht nur die „verbrannten Dichter“ hat er dort gesammelt, sondern auch scheinbar Unscheinbares – zum Beispiel ein kleines Heft mit Flüsterwitzen aus dem Dritten Reich oder „Deine Opfer klagen an“, eine Streitschrift aus dem Jahr 1934, die von den ersten Konzentrations­lagern handelt.

Ein Stockwerk tiefer im Flur findet man alles über den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und das Saarland. Dazwischen diejenigen Werke Karl Mays, die auch von der ehemals so stark umkämpften Region handeln: „Der Spion von Ortry“ oder: „Der Weg nach Waterloo“. Dazu, hinter einer afrikanischen Holztür, ein ganzes Regal über afrikanische Kunst. Wieder einen Meter weiter eine nahezu vollständige Sammlung Baedekers Reiseführer; darüber, in Schweinsleder gebunden, „Histoire­ Générale des Voyages“, gedruckt 1752 in Paris, neben einem englischen Reisebericht, der sogar einen Postkutschenfahrplan enthält. Es gibt aber auch einen „Führer durch die Sowjetunion“ von 1925 und schließlich – zwischen Heine, Goethe, Reuter – ein Büchlein mit dem Titel „Limmburger Flöte“, die wahre Geschichte eines Kunstfurzers, der mit seinen Abwinden die luxemburgische Nationalhymne zu pfeifen verstand, aufgeschrieben von einem gewissen Norbert Jacques, dem Erfinder des Doktor Mabuse.

Erstausgaben sind sein ganzer Stolz: Feuchtwangers und Kafkas Romane, Fontanes Kriegsberichte, der „Ulysses“ von Joyce, die erste deutsche Übersetzung des „Don Quijote“ mit einem Vorwort von Heinrich Heine. Ein Gedichtband von Georg Trakl aus dem Jahr 1915. Die deutsche Klassik steckt in einem Raum, der eigentlich Küche werden sollte: von Goethe die erste Ausgabe seiner Schriften aus dem Jahr 1796, von Klopstock die Oden (1776), die erste Gesamtausgabe der Werke Schillers aus dem Jahr 1812 – Bücher im Oktav-, Kleinoktav- und Duodezformat, teilweise in Schweinsleder gebunden und nahezu geruchlos.

Besonders stolz ist er auf die 36 Bände umfassende „Histoire­ naturelle“ von Georges-Louis Leclerc de Buffon aus dem Jahr 1787 – eine Art Brehms Tierleben auf Französisch. Dieses Werk steht im Flur des ersten Stocks und führt zu der allergrößten Preziose des Hauses Klimmt: Es handelt sich um die 1567 in Venedig gedruckte, zehnbändige lateinische Ausgabe des Werkes des römischen Architekten und Ingenieurs Marcus Vitruvius Pollio, genannt Vitruv, ein Zeitgenosse des Kaisers Augustus. Ein früher Besitzer war Claude Perrault, der Schöpfer des Ostflügels des Louvre. Seine Anmerkungen lassen vermuten, dass er mit diesem Exemplar seine Übersetzung ins Französische angefertigt hat. 1736 erwarb es jener Graf Buffon, auf dessen zoologisches Gesamtwerk Klimmt so stolz ist. „Buffon – 1736“ steht auf dem Vorderblatt. „Klimmt – 2006“ steht jetzt daneben. Denn im Jahr 2006 hat Reinhard Klimmt den lederbespannten Folianten bei einer Auktion gekauft.

So viele Bücher, so viele Geschichten. Anfangs hat der Sammler Klimmt sie alle noch gelesen. Inzwischen aber geht es ihm fast schon wie Musils Bibliothekar, den besagter K.u.K-General Stumm von Bordwehr bei seinem Bibliotheksbesuch fragt, wie er es schaffe, sich in diesem „Tollhaus“ von Büchern zurechtzufinden. „Herr General“, sagt der, „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese.“

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