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Du, Du, immer nur noch Du / dpa

Der Flaneur - Von der Inflation des Duzens

Das Du wird immer mehr zur neuen Konvention, es herrscht regelrechter Duz-Zwang. Derweil war es früher eine Auszeichnung, jemandem das Du anzubieten. Heute macht es alle gleich. Vom Menschenrecht, gesiezt zu werden.

Stefan aus dem Siepen

Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

So erreichen Sie Stefan aus dem Siepen:

Das Duzen wächst sich in unserem Land zu einer ernstlichen Belästigung aus. Junge Leute, und auch nicht mehr so junge, betrachten es als Ausdruck ihres lockeren Lebensgefühls, Unbekannte mit Du anzureden. Immer mehr Firmen nehmen sich ein Beispiel an Ikea, wo nicht nur die Möbel, sondern auch die Mitarbeiter Björn heißen. Das Arbeiten soll Spaß machen, und Hierarchien sind nun einmal lustfeindlich. Wo sich größere Gruppen zusammenfinden, sei es bei einer Geburtstagsparty oder einem Fortbildungsseminar, ist „Weg mit dem Sie“ die oberste Konversationsregel. Wer nicht mitmacht, muss wissen, worauf er sich einlässt. Letztens sprach mich ein Flugblattverteiler auf der Straße an: „Du siehst so aus, als wärst du für die Menschenrechte!“ Gibt es ein Menschenrecht, gesiezt zu werden?

Im 18. Jahrhundert waren in Deutschland vier Anredeformen gebräuchlich: „Wer bist Du?“ „Wer sind Sie?“ „Wer ist Er?“ „Wer seid Ihr?“ Die beiden Letzteren haben sich verloren, übrig blieb die Zweiteilung in Du und Sie. Ob wir uns an ihr noch lange werden erfreuen dürfen? Binäre Systeme gelten als simpel, doch für manchen sind sie noch nicht simpel genug. Die Menschen in eine Du- und eine Sie-Gruppe einzuteilen, heißt, sich immer wieder neu entscheiden zu müssen – welch unnötige Last! Die Moderne hat es sich auf die Fahne geschrieben, alle Unbequemlichkeiten der menschlichen Existenz zu beseitigen; so wird sie uns wohl auch vom Siezen noch erlösen. 

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Fritz Elvers | So., 6. September 2020 - 19:24

ganz gut wehren, indem man den Dutzenden mit "Er" anspricht. Bei Ikea z.B.: "Kann ich Dir helfen?" "Zeige er mir das Billy-Regal und trage er es mir zu Kasse!".

IKEA ist, wie allgemein bekannt sein dürfte,ein schwedisches Unternehmen.
Dort gibt es nicht nur schwedische Köttbullar sondern auch die schwedische Tradition des Duzens.
Das man bei IKEA duzt ist daher nur ein landestypisches Detail.

Wolfgang Jäger | So., 6. September 2020 - 21:47

Die Inflation erklärt sich m.E. aus der breit gestreuten neuen Gleichmacher-Ideologie. Wir sind eine Welt ohne Nationen, wir sind einfach Menschen und leben in einer Suppe des Multikulti, überall das Wohlfühlklima der hierarchielosen Solidarität. Kommunismus 2.0? Das Ganze scheint noch gefährlicher zu sein. Schleichend erobert man die Köpfe der Menschen. Kaum jemand wehrt sich. Und wieder geschieht die Manipulation über die Sprache! Ein wichtiger Artikel zur Problematisierung des Phänomens.

Da wird schon wieder sehr viel Falsches in eine harmlose, gleichwohl manchen Zeitgenossen unangenehme Entwicklung hinein halluziniert.

Das "Duzen" als mulitkulti-freundliche, gleichmacherische Subversion auf dem Weg zum Kommunismus zu werten, zeugt schon von einem ordentlich gewachsenen Mißtrauen.

In der angelsächsichen Welt gibt es keine Unterschiede zwischen dem "Sie" und dem "Du". Seltsamerweise warten augenscheinlich weder US-Amerikaner noch Briten sehnsüchtig auf die Vollendung des Kommunismus.

Auch in skandinavischen Ländern oder den Niederlanden ist man viel lässiger mit dem "Duzen".

In Deutschland ist das gleichsam komplizierter. Schliesslich liebt man hier ordentliche, klare Hierarchien. Und da haben manche mit einem "Du" natürlich Schwierigkeiten.

Wie sie mit jeder gesellschaftlichen Entwicklung oder Änderung Schwierigkeit haben.

gabriele bondzio | So., 6. September 2020 - 21:58

Vom Sie zum Du, wir wollen sehen -
doch kann dies nicht so schnelle gehen,
gemach, gemach so kommt man weiter,
auch darüber denk ich stets heiter...(U.Rischanek)

„Hierarchien sind nun einmal lustfeindlich.“ ...immer für den, der am unteren Ende steht. Er wäre aber auch gern oben.
Andererseits garantieren Hierarchien die Organisation.Das klassische Pyramidenmodell in Unternehmen dürfte davon profitieren.
Ich sehe es wie Sie , Herr Siepen, wenn jeder jeden dutz. Ist duzen keine Auszeichnung mehr.
Manchen Zeitgenossen möchte ich überhaupt nicht duzen (wegen Restdistanz) und schon gar nicht von Ihm geduzt werden.

Christa Wallau | Mo., 7. September 2020 - 02:30

als Lehrerin habe ich mich lange geweigert, die um sich greifende, allgemeine Duzerei im Kollegium mitzumachen.
Das hat meine Beliebtheit nicht gesteigert, mir aber Raum gelassen für die Durchsetzung meiner eigenen Vorstellungen von vernünftigem Unterricht. Unseren Rektor duzten die meisten, ich nicht, obwohl wir bis zu seinem Tod ein gutes Verhältnis zueinander hatten u. ich mich im Alter um ihn kümmerte. Er hat mir einmql gestanden, daß es ein Fehler von ihm gewesen sei, so vielen Kollegen das Duzen erlaubt zu haben; denn es habe ihm seine Arbeit erschwert.

Ganz unmöglich fand ich es, wenn Kollegen Schülern erlaubten sie zu duzen.
Für mich war dies ein Zeichen dafür, daß sie kein
Gespür mehr dafür hatten, welche Rolle ein Lehrer im Leben der Schüler einnehmen muß, wenn sein Bemühen erfolgreich sein soll.
Konventionen entstehen ja nicht aus dem Nichts heraus. Sie erfüllen eine wichtige Funktion, und ihre Abschaffung führt nicht selten zu Verunsicherung u. unnötigen Problemen.

helmut armbruster | Mo., 7. September 2020 - 08:00

sondern der Gleichheitswahn.
Die missionarische Überzeugung alle Menschen seien gleich ist epidemisch geworden und ist inzwischen so tief verwurzelt, dass sie nicht mehr in Frage gestellt wird.
Dabei würde ein nicht nur oberflächlicher Blick auf die Zeitgenossen genügen um das Gegenteil feststellen zu können. Unter Millionen gibt es nicht Zwei, die gleich sind. Die Unterschiedlichkeit der Menschen ist riesengroß, sie wird aber einfach ignoriert. Der Zeitgeist will es so.
Das heute übliche Duzen ist Ausdruck dafür.
Aber auch das Duzen macht nicht alle gleich, es erweckt nur den Anschein als ob. Ist also eine Art Täuschung.
Wichtiger für wirkliche Gleichheit wäre, dass alle Menschen die selben Rechte haben, dass es keine Sonderrechte für wenige gibt, dass alle denselben Anspruch auf Respekt haben.
Und das ist eben etwas anderes als zu verlangen alle seien gleich in jeder Beziehung.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 7. September 2020 - 10:17

sagt uns gerade die schwedische Werbung. Ich konnte nachlesen, die hatten auch einmal ein "Sie" in der Anrede. Jetzt duzt man sich dort nur noch.
Ich bin so erzogen worden, dass man als Kind alle Erwachsenen siezt, wenn man selbst "groß" ist, alle siezt, die nicht zur Familie gehören oder Spiel- und Schulfreunde sind. Ich habe auch noch gelernt, das die Älteren das "Du" anbieten und einen Vorgesetzten duzen zu dürfen, eine persönliche Anerkennung war und man damit in den Kreis der Vertrauten aufgenommen wurde.
"Sie" drückte für mich einen besonderen Respekt, eine gewollte und gelebte Distanz, ohne unfreundlich zu sein. Wer duzt hat viel schneller einen flapsigen Ton drauf, wird gerne übergriffig und verliert völlig die Distanz. Das beste Beispiel sind inzwischen die asozialen Medien, wo jeder jeden völlig distanzlos beleidigt, unterstellt, bedroht, diffamiert. Ich bin ein Freund davon, Menschen nach dem alten Muster zu siezen und werde es nicht ändern. Nur, wir halten das nicht auf.

ursula keuck | Mo., 7. September 2020 - 12:40

Durch die allgemeine, stille Kultur- Moral- bzw. Bewusstsein Revolution haben „Die 68er“ eine GRÜNE-Republik mit neuen Wertewandel eingeleitet. Das Hauptübel liegt im Verfall dieser links/grünen Führungsschicht. Aber auch die Institutionen -u. a. d Kirchen -, die Gesetze und Sitten, der Umgang untereinander, die guten Manieren die gesamte Kulturen und Moral-Vorstellungen sind verfallen. Sie haben uns die guten deutschen Tugenden – Autorität, Pflichtgefühl, Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit, Kampfbereitschaft, Sauberkeit, Höflichkeit, Tradition, Wertebindung, Ordnung, Qualität - geraubt und nur noch schlechte Untugenden zurückgelassen. Wäre doch heute nur ein wenig von diesen Sekundärtugenden da. Heute sehen wir die Folgen. In allen Bereichen Bildung, Wissenschaft, Energie, Justiz, Finanzen, Verkehr, Landwirtschaft usw. überall die Handschrift der Grünen sogenannten Gutmenschen – All überall Chaos ohne Ende -.

Maha DIN | Mo., 7. September 2020 - 15:08

Nun, es soll zwar Ausdruck eines lockeren Lebensgefühls sein, Unbekannte mit Du anzureden, aber in erster Linie ist es wohl schlicht und ergreifend ein US-Import. Alles aus den USA ist cool, zumindest schleicht es sich seit Jahrzehnten erfolgreich immer weiter in unseren Sprachgebrauch. Die Steigerung dieses penetranten Duzens, selbstredend US-geboren, taucht übrigens hier und da auch schon auf. Man redet Unbekannte im Laufe eines Gesprächs plötzlich unvermittelt mit "Schätzchen" an. Zum Beispiel in einem Interview...

Gunther Freiherr von Künsberg | Mo., 7. September 2020 - 15:56

Endlich mal wieder ein Thema von sozialexistenter Bedeutung.
In Coronazeiten wird empfohlen körperliche Distanz zu bewahren. Im TV fehlt es leider an Sachverständigen, die die Gefährlichkeit verbaler Distanzlosigkeit, bisweilen auch verbale Nähe genannt, insbesondere in den TV-Medien zum Ausdruck bringen. Eine solche Sachverständigenaussage könnte inhaltlich nur dahingehend abgegeben werden, dass beim Duz-Vorgang eine Verbalinfektion stattfinden kann, die zur Reduzierung der intellektuellen Fähigkeiten führt. Diese Reduzierung erweitert dann aber die Möglichkeiten der Wiederherstellung der verbalen Distanz, z.B. durch die allgemein gebräuchliche Wortwahl “ du……..loch, was in der Regel dann wieder zur unerwünschten unmittelbarer körperlicher Nähe mit Hämatomen führt.
Selbst mein Hund wahrt die körperliche und verbale Distanz zu Fremden und erklärt diesen unmissverständlich sein Missfallen bezüglich deren Anwesenheit. Ein kluger Hund!