07.03.2019, Niedersachsen, Gehrden: Schüler einer 7. Klasse lernen mit iPads im Matheunterricht an der Oberschule Gehrden in der Region Hannover. Die Oberschule Gehrden gehört bei digitalen Lernen zu den führenden Schulen in Deutschland. Seit sieben Jahren - und damit schon lange vor dem Digitalpakt der Bundesregierung - findet der Unterricht hier auf eigene Initiative fast komplett in digitaler Form statt. Von den Erfahrungen profitieren nun viele andere Schulen bei der Digitalisierung.
Mathe auf dem Tablet? Noch hinken die Schulen der Digitalisierung meilenweit hinterher / picture alliance

Digitalisierung in Schulen - Das lügende Klassenzimmer

Noch ist der Digitalpakt nicht in trockenen Tüchern, doch schon wünschen sich angeblich 91 Prozent der Lehrer digitale Technologien als Unterrichtsmaterial. Ist in den Klassenzimmern plötzlich die digitale Euphorie ausgebrochen? Der Bildungsforscher Heiner Barz hat eine ganz andere Erklärung

Professor Dr. Heiner Barz

Autoreninfo

Prof. Dr. Heiner Barz war Bildungsforscher an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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Die närrischen Tage sind zwar eigentlich vorbei. Das hindert die ehemalige Duden-Redaktion, die jetzt unter dem neudeutschen Firmennamen LearnAttack firmiert, aber nicht daran, zu behaupten, dass vier von fünf Befragten einer aktuellen Umfrage das digitale Lernen begrüßen würden. Eine deutliche Mehrheit der Schüler, Lehrer und Eltern von Schulkindern in Deutschland würde in der Digitalisierung große Chancen für ein nachhaltiges und erfolgreiches Lernen sehen, so die Studie. Sogar 87 Prozent der Lehrer in Deutschland würden sich davon Chancen erhoffen. Und 91 Prozent der Lehrer wünschten sich eine Aufbereitung der Lehrmaterialien mit aktuellen, digitalen Technologien mit interaktiven Übungen und audiovisuellen Inhalten.

Wer die deutschen Schulen auch nur oberflächlich kennt, dem müssen angesichts derartig schwindelerregender Zustimmungswerte zur Digitalisierung Zweifel kommen. Kann das sein? Sind die kulturpessimistischen deutschen Lehrerinnen und Lehrer, die bisher in Sachen Internetnutzung und Smartphonegebrauch eine bestenfalls uninteressierte, oft aber dezidiert ablehnende Haltung an den Tag legten, auf einmal einer Gehirnwäsche unterzogen worden? Ist in deutschen Lehrerzimmern von heute auf morgen die Digital-Euphorie ausgebrochen?

Stimmungsmache 

Nein, die Antwort ist einfacher: Das beauftragte Institut mit dem schönen Namen YouGov bezieht sich ausschließlich auf Online-Befragungen einer Online-Community, für die eine gewisse Digitalisierungsaffinität sozusagen die Eintrittskarte darstellt. Man könnte das vielleicht vergleichen mit einer Umfrage unter Metzgerei-Kunden zum Thema Veganismus – um dann zu verkünden, dass eine große Mehrheit vegane Ernährung strikt ablehnt.

Das Perfide an derartigen Umfrage-Daten, die für bestimmte politische oder geschäftliche Zwecke instrumentalisiert werden, ist, dass der durchschnittliche Leser dieser Schlagzeilen solche Daten für repräsentativ hält. Und LearnAttack erhofft sich natürlich durch eine digitalisierungsfreundliche öffentliche Stimmung, dass seine Produkte sich an Endverbraucher – oder noch besser – an Schulministerien gut verkaufen lassen.

Digitalisierungsmüde Bildungsbeamte

Dass gerade YouGov mit seinen Umfrage-Prognosen schon öfter nachweislich ziemlich danebenlag, weiß kaum einer. Dabei hatte das ursprünglich aus Großbritannien stammende Institut YouGov bei der Abstimmung der Schotten zeitweise über einen Verbleib im Vereinigten Königreich eine deutliche Mehrheit PRO Abspaltung vorausgesagt. Gekommen ist es bekanntlich anders. Und bei der Brexit-Abstimmung hatte YouGov sogar noch nach Schließung der Wahllokale eine Mehrheit FÜR den Verbleib von Großbritannien in der EU ermittelt.

Während es allerdings bei diesen britischen Schicksalswahlen tatsächlich knapp zuging und wenige Prozentpunkte den Ausschlag gaben, darf man bei der aktuell behaupteten Digitalisierungs-Vorfreude in deutschen Lehrerzimmern und Elternhäusern von einer geradezu grob fahrlässigen Verkennung der Realitäten ausgehen. Denn außer ein paar Junglehrern oder ein paar technik-affinen älteren Kollegen, die sich im YouGov-Panel finden, dürfte die übergroße Mehrheit der deutschen Bildungsbeamten in Moodle (eine bekannte Lernplattform) und MOOCs (Massive Open Online Courses), in OER (Open Educational Resources) und Open Access-Tools vor allem eine Bedrohung und kein Zukunftsversprechen sehen.

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Ernst-Günther Konrad | Di., 12. März 2019 - 12:59

Müssen Grundschüler, müssen Schüller bis zur 9.ten Klasse wirklich im Internet während des Unterrichts serfen? Wäre es nicht wichtig, alle erstmal mit den Gefahren und den rechtlichen Gegegenheiten vertraut zu machen. Technisch sind uns die Kinder ohnehin in der Regel schon überlegen. G5 für die Wirtschaft flächendeckend, auch für den Kleinbetrieb auf dem Land, ja das wäre sicher sinnvoll. An den Uni's und Fachhochschulen, in der Kriminalitätsbekämpfung usw., ja da muss gehandelt werden. Aber jede Schule?
Danke Herr Barz, dass sie die Machenschaften von Yougove aufdecken. Ein typisches Institut, das wie bestellt auch liefert. Ich kenne einige Lehrer und habe eine in der Familie. Die meiden soziale Netzwerke und arbeiten gerade wegen des Wissens im Umgang mit Internet sehr sparsam und ausgesucht damit, soweit gerade die älteren überhaupt bereit sind, sich verstärkt damit auseinanderzusetzen. Wer würde, wann die Lehrer beschulen? Welche Inhalte sollen vermittelt werden? Welche Regeln???

Sehr geehrter Herr Barz,

ihr Artikel liest sich wirklich toll. Ich musste wiederholt schmunzeln. Das Lachen ist mir allerdings vergangen als ich mir die Studie, auf die sie sich beziehen, etwas genauer angeschaut habe.

Wie Ihnen hätte auffallen müssen, sind die genannten Ergebnisse nicht repräsentativ. Sie gehen also de facto von unbedeutenden Zahlen aus und von diesen kann keine solche Schlussfolgerung gezogen werden, da die Grundlage dafür schlicht fehlt. Es kommt mir so vor also ob sie hier der Narr sind. Nicht böse gemeint.

Zu was das trotzdem führt, sehen sie auch am Kommentar über mir, wo sich ein Herr bestätigt fühlt durch ihre Ausführungen.

Politische Wahlen als Beispiel für schlechte Umfragen heranzuziehen ist ebenso fragwürdig, wenn man sich die Prognosen und tatsächlichen Wahlergebnisse der USA aber auch der Bundestagswahl vor Augen führt.

Ihre Schlussfolgerung ist dann überdies in keiner Weise begründet. Auch das ist enttäuschend.

Heidemarie Heim | Di., 12. März 2019 - 13:02

Wenn ausschließlich digital vermittelter Lerninhalt in Zukunft den Pädagogen ersetzt braucht es natürlich in Folge gänzlich andere Studiengänge. Nur wird sich der Absolvent nach Studien- Abschluss die Frage stellen, ob er eine Schar über das tablet gebeugte Kinder beaufsichtigten möchte, oder ob er einen ruhigeren und besser dotierten Job in der Wirtschaft antreten soll. Angesichts vergangener Bildungsoffensiven und den offensichtlichen Sanierungsstaus sollte sich die gegenwärtige Betroffenheit aber in engen Grenzen halten. Bis Planung und Umsetzung dahingehend republikweit erfolgen, werden sich viele in die Pension retten können. MfG

ist es nicht die wesentliche Aufgabe eines Unterrichts - bzw der Teilnehmenden - sich in einer Gemeinschaft zu bewegen und auf diesem Wege einander mitzuteilen und so voneinander zu lernen und gegenseitig zu untertützen ?
Wie soll ein Zusammenhalt möglich werden, wenn solches - ohne Konkurrenzdruck - nicht bereits in der Klassengemeinschaft geübt wird ?
Wenn solches nicht DAS Ziel des Unterrichts ist, kann "der Unterricht" besser als Heimarbeit geleistet werden !
So isoliert erzeugte Mitarbeiter sind nicht teamfähig und nicht zum Wohle des Ganzen brauchbar.

Heidemarie Heim | Do., 14. März 2019 - 15:01

Antwort auf von Klaus Ramelow

Wenn ich Ihre Antwort richtig deute werter Herr Ramelow, sind wir nicht weit voneinander entfernt. Meine Formulierungen waren wohl einigermaßen missverständlich. Sorry! Ich kann mir eben nicht vorstellen, wie durch dieses digitale Lernen,1-2 Schüler teilen sich ein Bildschirm/tablet oder sonst was, der Lehrer übernimmt mehr oder weniger die Aufsicht, ein pädagogischer Mehrwert entstehen soll. Ich verstehe diese neue Form der Interaktion zwischen Lehrer und Schüler und Schüler untereinander einfach nicht. Man sieht doch heutzutage überall zu welcher Gesprächsarmut und Selbstisolation die allseits angewandten Techniken führen. Mit Glück findet man noch ab und an einen Gegenüber, der nicht während der gemeinsamen Kommunikation dauernd auf seine Benachrichtigungs-App schielt oder sonst wie auf dem Teil rumfuhrwerkt;-) In der Tat kann man Schule dann wahrscheinlich in naher Zukunft wirklich in Heimarbeit machen. Zu meiner Zeit waren unsere Lehrkräfte auch noch Universal-Erzieher? MfG

... aber sehr wohl die finanziellen und personellen Ressourcen, um die Hard- und Software an den Schulen langfristig zu pflegen und wenn notwendig zu erneuern.
Sonst wird ein erheblicher Teil der Geräte bald als Technikschrott herumliegen, so wie es den Activeboards ergangen ist, die vor ein paar Jahren überall angeschafft wurden. Ohne konnte sich eine Schule beim Tag der offenen Tür ja nicht mehr präsentieren...

Wenn gleichzeitig die Klos stinken und der Putz von den Wänden rieselt, kommen einem hinsichtlich der Prioritäten jedoch berechtigte Zweifel.
Überhaupt ist es eine Schande, was für Gebäude man im Nachkriegsdeutschland als Schulen gebaut hat. Diese grauen, kalten Flachdachkästen würden vielleicht gerade noch als Rechtsmedizin taugen, aber doch nicht als Ort, an dem die künftigen Generationen einen großen Teil ihres Lebens verbringen müssen.
Von einer erkennbaren Wertschätzung der Institution Schule ganz zu schweigen.

Yvonne Pfeiffer | Mi., 13. März 2019 - 08:33

Leere Worthülsen ! In ländlichen Schulen wurden vor kurzem erst die Schiefertafeln , Schieferstifte und Kreide abgeschafft. Am Elternabend wurde bei uns um ausgemusterte PC's gebettelt. Die Firma meines Mannes, hatte 10 alte, ausgemusterte Computer nochmal auf aktuellen Stand gebracht und gespendet. Das ist die Realität ! Gestern war ein Bericht auf WISO, Deutschland rangiert digital noch hinter Albanien. Das Netz ein einziger Flickenteppich, und G5 wird es auch nicht ändern.
Mal wieder Märchenstunde der Bundesregierung - schlicht gesagt hier klappt gar nichts mehr !!!

Juliana Keppelen | Mi., 13. März 2019 - 10:14

man fragt sich doch glatt wie war es möglich, dass Menschen ohne Laptop nur ausgestattet mit Tinte und Federkiel oder Papier und Bleistift und nur durch Beobachtung der Umwelt und, allerdings sehr wichtig, selbstständiges Denken so großartige Dinge erfinden, errechnen, erkennen konnten die die Grundlagen unserer heutigen Zivilisation geschaffen haben. Humbold, Kant, Benz, Einstein, Curie, Galileo usw., alle ohne Laptop nur mit Papier und Tinte.

Karsten Meyer | Do., 14. März 2019 - 16:44

Mir scheint hier ein gewisses begriffliches Durcheinander zu herrschen. Digital ist nicht gleich Internet (Hr. Konrad) und digital vermittelte Inhalte brauchen dennoch einen Pädagogen. Digitalisierung des Unterrichts bedeutet: den Unterricht unter Hinzunahme von Computern, Tablets etc. so zu gestalten, dass beispielsweise das Gewicht der Schultaschen sinkt, audiovisuelle Medien problemloser in den Unterricht integriert werden können, Zugriff auf Informationen problemloser erfolgen kann und die Vergänglichkeit des kreidegeschaffenen Tafelbildes überwunden wird. Dafür gibt es sicher eine Mehrheit bei den Eltern.
Didaktik wird immer eine Sache der Lehrer sein. Den Umgang mit den Geräten lernen Kinder völlig intuitiv. Dazu braucht es keine Lehrer. (Wer schon mal beobachtet hat, wie Lehrer am Elternabend beim Versuch scheitern, einen Beamer zu benutzen, weiß, wovon ich rede.)