Die Medien sind paranoid

Rinderwahn, Kampfhunde, Vogelgrippe. Alle paar Monate schüren die Medien eine neue Panik. Alarmismus wird zu einer Grundhaltung der Mediengesellschaft. Mit der Inszenierung der Angst zerstört der Journalismus die politische Kultur

Unsere Medien werden zusehends paranoid. Die Superlative des Negativen beherrschen die Schlagzeilen und Kommentare: Niedergang, Untergang, Desaster, Lüge, Betrug. Die Angst macht Schlagzeilen. Im eskalierenden Konkurrenzkampf setzen die Medien auf die Krise als auflagen- oder einschaltquotensteigernde Maßnahme. Seit dem 11. September 2001 mehr denn je. „Die erste Großkatastrophe des globalen Kapitalismus im neuen Jahrtausend schreibt sich direkt in die Seelen ein als das Bild unseres Unterbewusstseins, das nur real geworden ist wie eine Prophezeiung, die endlich wahr wird“, schreibt Georg Seeßlen. Die atemlose Berichterstattung im Fernsehen hat diesen Eindruck zementiert und so erhielt RTL-Moderator Peter Kloeppel im Jahr darauf den „Spezial-Grimme-Preis“ für seine „hervorragende Berichterstattung“. In der Antike wäre er als Bote der schlechten Nachricht hingerichtet oder zumindest anderweitig bestraft worden. Heutzutage erweisen sich die Massenmedien als die besten Verbündeten der Katastrophen. „The Medium is the Massage“, verkündete vor einem halben Jahrhundert der kanadische Soziologe Marshall McLuhan. Für ihn waren die elektronischen Medien vielseitig, pluralistisch, multifunktional. Aber sie pulsieren auch mit viel Leerlauf, mit Geplapper, Geräusch, kosmischem Rauschen. Es dominiert entspannte Langeweile, eben die mediale „Massage“. Nach Buchdruck, Zeitung und Fernsehen steht das Internet für die vierte Revolution der Kommunikation. Und die Flut der Bilder zeigt alles, aber sie erklärt nichts und fesselt den Konsumenten in einer Endlosschleife von Authentizität, Aktualität und Fiktionalisierung. Das hat seine Ursache im „Zwang zum Sehen“ und der „Überbelichtung des Sichtbaren“ wie der Philosoph Paul Virilio konstatierte. So rufen die Medien mit inflationärer Inbrunst den Ausnahmezustand aus und betreiben eine Art Katastrophenhappening, das die Angst zu einem gesellschaftspolitischen Instrument macht und das nicht erst seit 9/11. Ein Beispiel aus der Geschichte: 1785 ließ Kurfürst Karl Theodor von Pfalz-Bayern den Orden der Illuminaten verbieten. Hinter dessen Aktivitäten vermutete die absolutistische Regierung eine Gefahr für den Staat. Zu Recht, denn den Illuminaten gelang es rasch, viele Freimaurerlogen unter ihren Einfluss zu bringen und eine bedeutende Position in der Bewegung der republikanischen Freidenker zu erringen. Die Errichtung einer neuen Weltordnung ohne Staaten, Fürsten und Klassen, wie sie den Illuminaten vorschwebte, zog auch viele bedeutende Intellektuelle an, wie etwa Goethe oder Herder. Aber mit der Aufdeckung des Geheimbundes steigerte sich der bayerische Regent in eine maßlose Furcht vor Verschwörungen, Existenzangst und Misstrauen hinein. An die Illuminaten knüpft die erste moderne Verschwörungstheorie an, deren Chronik unmittelbar nach der Französischen Revolution entstand. Der Jesuit Augustin Barruel entwickelte seine Verschwörungstheorie in drei Stufen, die Philosophie der Aufklärung als erste Stufe, die Freimaurer und der Geheimbund der Illuminaten als zweite Stufe und sozusagen als dritte und Vollendungsstufe die Jakobiner während der französischen Revolution. Die Illuminaten waren aber keineswegs der einzige Geheimbund des 18. Jahrhunderts. Neben den Freimaurern agierten im Geheimen der Tugendbund, die Deutsche Union sowie die Gold- und Rosenkreuzer. Aufklärung und Mystik gingen in diesen Bünden zuweilen eine widersprüchliche Verbindung ein. Diese Geheimbünde hatten durchaus ihren Sinn in der Zeit des Übergangs von einer geschlossenen zu einer offenen Gesellschaft und waren ein idealer Nährboden für die Angst und dem aus diffusen Vorurteilen resultierenden paranoiden Verhalten. Als die Welt räumlich noch in ein Diesseits und ein Jenseits geteilt war, wurden der Tod und andere Katastrophen als plötzlicher Eingriff Gottes verstanden. Nach der Französischen Revolution wird das Jenseits und Diesseits langsam von der Vergangenheit und der Zukunft abgelöst und es gibt nur noch ein Leben im Jetzt. Die Zukunft wird zur Projektion des Vorstellbaren, aber auch zur Terra Incognita, die sowohl von Hoffnung als auch von Angst bevölkert ist. Kein Wunder also, dass Minderheiten wie beispielsweise Geheimbünde oder soziale Randgruppen stets die kollektive Verantwortung für die jeweiligen Krisen tragen mussten, weil sie als Ganzes das Böse in der Gesellschaft repräsentieren. Der Mensch in seiner modernen Existenz erlebt die Angst dank der allgegenwärtigen Medienvielfalt als Normalzustand. Und er hat sie im 21. Jahrhundert derart verinnerlicht, dass sie zum Treibstoff der Massenmedien wird, die in einer permanenten Konkurrenz um Aufmerksamkeit stehen und zwar sowohl in den Printmedien als auch bei den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern. Besonders im Fernsehen wird der Konkurrenzkampf durch Personalisierung, Dramatisierung und Konfliktverschärfung vorangetrieben. Keine Sondersendung im Jahr 2002, ob beim Massaker von Erfurt (April), der Flugzeugkollision über dem Bodensee (Juli) oder der Flutkatastrophe in Ostdeutschland (August), kam ohne Experten im Studio aus, deren Bedeutung proportional zum akademischen Titel suggeriert wird. Diese Autorität nimmt in Konflikt- und Entscheidungssituationen vom Zuschauer den emotionalen Druck und reduziert die Komplexität des unbegreiflichen Geschehens auf ein erträgliches Maß. Dadurch wird aber keineswegs die hysterische Befindlichkeit in der Berichterstattung entschärft, wenn drei Experten fünf Meinungen vertreten. Im Gegenteil, die Reporter vor Ort heizen die Stimmung gerne mit effektvollen Inszenierungen an. So wie in Peking im Mai 2003. Ein riesiger Platz vor einem Krankenhaus. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Nur der Reporter eines großen deutschen Privatsenders berichtet live über die Seuche Sars und trägt einen Mundschutz. Assoziationen mit Wolfgang Petersens Katastrophenfilm „Outbreak“ stellen sich ein. Kein Zweifel die Menschheit wird bald dahingerafft von jenem mysteriösen Virus, der mit dem internationalen Flugverkehr seine Opfer heimsucht. Aber bereits im Juli 2003 musste man ernüchtert feststellen, dass es unter den 376,8 Millionen Einwohnern der 15 EU-Staaten nur 38 Erkrankte gab und keinen einzigen Toten. Wer möchte in diesem Zusammenhang nicht von kollektiver Paranoia sprechen, die sich natürlich von der Boulevardpresse über die Tageszeitung bis ins Internet wie ein Virus ausgebreitet hatte. Im Gegensatz dazu wirkten in den Siebzigern und Achtzigern die Sondersendungen und Diskussionsrunden zur Ölkrise, autofreien Sonntagen, havarierten Tankern, Tschernobyl und sterbenden Wäldern geradezu idyllisch. Einziger Stachel im Fleisch war der eigenwillige Wolfgang Menge, der 1973 mit seinem fiktiven Dokumentar-Thriller „Smog“ für helle Aufregung sorgte und mit etlichen anderen Produktionen die Exzesse des heutigen Fernsehalltags wie eine pfeiferauchende Kassandra voraussah. Der 80-jährige kennt mit Sicherheit auch jene Anekdote, die sich um William Randolph Hearst rankt. Der Pionier der gedruckten Sensationspresse schickte 1899 einen Reporter nach Kuba, um über den vermeintlich bevorstehenden spanisch-amerikanischen Krieg zu berichten. Nach kurzer Recherche kabelte der Reporter in die Redaktion: „Keine Anzeichen für Krieg.“ Die Antwort von Hearst: „Liefern Sie die Geschichten. Ich liefere den Krieg.“ Den Job hat im letzten Jahr George W. Bush erledigt und ein Sperrfeuer an Nachrichtensendungen auf allen Kanälen ausgelöst. Man hatte ja schon 1991 beim ersten Irak-Krieg positive Erfahrungen in negativen Krisenzeiten gemacht. CNN erzielte damals weltweit den Durchbruch und Nikolaus Brender (jetzt Chefredakteur ZDF, damals WDR) sagte in einem Interview: „Es war totales Fernsehen mit null Informationen, und trotzdem haben wir mitgemacht. Wir waren von der Einschaltquote fasziniert.“ Das aus dem Zusammenhang gerissene Bild des Schreckens, die vermeintliche Objektivität des begleitenden Kommentars ist Verrat an der Wahrheit. So bemisst sich die Bewertung des Terrors nach dem Maß der Schockwirkung der Bilder und der Atemlosigkeit des Zuschauers. Wieder einmal bewahrheitet sich die journalistische Binsenweisheit, dass das Erste, was im Krieg stirbt, die Wahrheit sei. Deshalb ging es zu Beginn des zweiten Irak-Krieges im Fernsehen einzig um das Ritual des Schaltens, im Angelsächsischen auch „Rolling News“ genannt. Von Einschlag zu Einschlag, von Kuwait nach Bagdad, nach Washington und zurück in die Sendezentrale. Ein derart über viele Stunden sich hinziehendes Nichtwissen und Nichtweiterwissen war bis dato auf dem Bildschirm noch nie zu sehen gewesen. Mit Sätzen wie „Ich weiß nicht, ob Leute verletzt oder umgekommen sind, das wird sich noch herausstellen“ des ARD-Korrespondenten Stephan Kloss in der Tagesschau wurden die Menschen an den Bildschirmen in eine Art Trance versetzt. Die hohen Einschaltquoten dieser Sondersendungen zeugen vom Wunsch nach Selbstvergewisserung, die Robert Gernhardt in seinem Vierzeiler „Abendliche Tagesschau“ so formulierte: „Sehe ich die Leichen alle / Haben sie kein Leben / Habe ich mein Leben noch / Freu mich meines Lebens.“ Die Rechnung schien aufgegangen, denn die Marktanteile von n-tv verdoppelten sich. Konkurrent N24 legte auf niedrigem Niveau zu, während der öffentlich-rechtliche Spartenkanal Phoenix stagnierte. Kein Wunder, hier wurde die Lage in Bagdad und Basra oft in langen Talkrunden analysiert. Bei den großen Nachrichtensendungen erreichte die Tagesschau am fünften Kriegstag insgesamt mehr als zwölf Millionen Zuschauer. Bei RTL aktuell sahen 9,4 Millionen zu. Es stimmt also, was die omnipräsente Reporterin Antonia Rados sagte: „Krieg ist sehr sexy für das Fernsehen.“ Prompt wurde ihr der renommierte Hanns-Joachim-Friedrich-Preis verliehen, obwohl ihre Verbalplatitüde eine Ohrfeige für den Namensvater gewesen ist. Ihr Kollege Peter Kloeppel ließ aber auch kein Fettnäpfchen aus und moderierte live auf einem Dach irgendwo in Bagdad, obwohl wenig bis gar nichts passierte. Wer könnte aber der Versuchung widerstehen, wie weiland der CNN-Korrespondent Peter Arnett, im surrealen Grün der Nachtsichtgeräte und von Leuchtmunition illuminierten Himmel selbst zur Nachricht zu werden? Vor dem Hintergrund dieser Selbstinszenierung erschaffen die Medien und ihre Prota­gonisten selbst eine televisionäre Religion. Der Mythos des Trivialen ersetzt die Metaphysik und es entsteht etwas ganz Profanes, dessen Credo lautet: Glaube an die Macht des Bildes! Im Gottesdienst der medialen Dauerberieselung erlangt der Einzelne durch simples Zuschauen Absolution und Trost. Diese Katharsis versucht Christoph Schlingensief in seinem Manifest „Panik als Patent der Machtmaschinen“ zu torpedieren. Deutschland, so behauptet er, sei unfähig zur Reform, verloren für die Zukunft, weil von allen Seiten hemmungslos der Niedergang prophezeit wird: „Dieser lüstern-angstgeile Pessimismus droht, das erst zu erzeugen, wovor er zu warnen scheint. Er macht einen rationalen Diskurs um die Gestaltung der Angstgesellschaft zunehmend unmöglich.“ Doch selbst der rührige Schlingensief und seine Anhänger werden die Verlierer in diesem Diskurs sein. Außer es gelänge ihnen die radikale Entschleunigung des Informationsaustausches. Denn kriegerische Auseinandersetzungen finden immer mehr in Echtzeit statt und es wird nicht mehr lange dauern, bis das eintritt, was der französische Philosoph Paul Virilio prophezeite: „Wir stehen vor dem Problem der industriellen Standardisierung der öffentlichen Meinung durch die Presse und das Fernsehen. Es ist die Synchronisierung der Emotionen durch das außergewöhnliche Spektakel. Die Teletechnologie der Informationsbombe ermöglicht die Demokratie der Emotionen. So entsteht die kollektive Halluzination eines Tele-Evangeliums, politische Kontrolle verflüchtigt sich. Wenn sich die Emotionen synchronisieren, tritt eine religiöse Dimension hervor – sowohl auf Seiten der Terroristen als auch bei Bush und seiner Regierung. Die religiöse Dimension wird von den Tele-Evangelisten auf schreckliche Weise benutzt, um die Welt zu erschrecken.“ So wird der Mensch zum Weltbürger wider Willen, der gekidnappt vom Bildschirm als Augenzeuge durch Zeit und Raum streift. Aus der tatsächlichen Realität wird immer mehr die Realität des Fernsehens. Aber es ist eine andere Wirklichkeit, die den Gesetzen des Mediums gehorcht. Kriege wie der am Persischen Golf werden von den Militärs als dramaturgisch ausgefeilte Thriller inszeniert, atemlos verfolgt, aber schnell vergessen. Während die Inszenierung der Angst den Alltag bestimmt, mutiert die Politik zum Showgeschäft, die Gesellschaft endet als Spielball der Medien und früher oder später wird Paranoia Volkskrankheit Nummer 1.

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