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"Die Kirche ist ein Märchenpark"

Lange galt er als das hyperaktive Enfant terrible der Kulturszene. Seit er 2008 an Lungenkrebs erkrankte und ein Buch darüber schrieb, machte Christoph Schlingensief – sehr öffentlich – eine Verwandlung durch. Ein Gespräch über Glauben, Mut und Afrika.

Herr Schlingensief, hinter Ihnen liegt ein ereignisreiches Jahr. Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf das neue? Im Moment bin ich sehr stabil. Dennoch merke ich, dass es mir oft Schwierigkeiten bereitet, diese Welt so in den Arm zu nehmen wie ich es früher einmal wollte. Auch wenn ich glaube, dass es „so schön wie hier im Himmel gar nicht sein kann“, ist es in der Praxis schwierig, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Ich bin skeptischer und spüre, dass ich mehr und mehr auf Distanz zu vielen Dingen gehe. Die Unschuld ist weg. Dennoch: Das Gefühl, überhaupt Weihnachten zu erreichen, ist sensationell. An die Möglichkeit habe ich zu Beginn des vergangenen Jahres nicht gedacht. Das ist toll. Was hat sich verändert? Es haben sich ganz wunderbare Dinge entwickelt – die Hochzeit mit meiner Frau Aino war ein großes Glück. Aber es gab auch einen fürchterlichen Einschnitt: Nachdem im vergangenen Sommer die Metastasen in meiner Lunge nicht mehr nachweisbar waren, waren sie im Herbst auf einmal wieder da. Seit Oktober sind sie wieder verschwunden. Meine Frau und ich sind in diesem Jahr also ziemlich durchgeschüttelt worden. Es ist, als ob ich die ersten Schritte nach einer Mondlandung lernen muss. Der Versuch, wieder in der Welt Schritt zu fassen, war immer wieder irritierend. Sie waren in den vergangenen Monaten auf Lesereise mit Ihrem „Tagebuch einer Krebserkrankung“. Welche Reaktionen bekommen Sie von Ihren Lesern? Dass das Buch noch immer so häufig gekauft wird und so viele Leute in meine Lesungen kommen, freut mich sehr – vor allem deshalb, weil sich ein Austausch entwickelt. Noch immer bekomme ich jede Woche zwischen 30 und 50 Briefe. Viele Briefeschreiber erzählen von ihrem eigenen Leid, andere erzählen, dass sie im Buch Dinge gelesen haben, die sie seit dem Tod ihrer Verwandten oder Freunde als Fragen mit sich herumgetragen haben. Vieles scheint sich vergleichbar zu ereignen. Andererseits sind die Erfahrungen auch wieder sehr individuell. Jeder erlebt seine eigene „Apokalypse“. Deshalb muss ich manchen Brief einfach zur Seite legen, weil mich vieles darin so berührt, dass es wehtut. Was diese Krankheit für ein Leid zufügt und wie viel Hoffnung immer wieder zerstört wird, das ist kaum auszuhalten. Dennoch thematisieren Sie Ihre Krebserkrankung. Ja, denn trotzdem ist es auch weiterhin wichtig, darüber zu reden und den anderen zuzuhören. Wenn sie reden wollen. Meine Position hat sich mittlerweile etwas verändert: Ich habe mehr Distanz zu der ganzen Krise, und ich beginne allmählich mit der Analyse. Da freut es mich, Menschen zu treffen, die schon seit mehreren Jahren diesen Kampf führen – zehn Jahre lang und mehr. Die haben meist die beste Haltung und geben mir am meisten Mut. Die Lesereisen veranstalten Sie auch, um Gelder für ein von Ihnen geplantes Festspielhaus im afrikanischen Burkina Faso zu sammeln. Wie steht es um Ihre Pläne? Das Projekt ist viel weiter gediehen, als ich es mir Anfang des Jahres überhaupt vorstellen konnte. Mittlerweile machen sehr viele Leute mit, weil sie merken: Das Projekt ist authentisch und kein postkoloniales Kulturmonster. Vielleicht ist auch alles so gut vorangeschritten, weil ich, anders als früher, nicht so viel Druck gemacht habe. Noch im vergangenen Sommer existierte das meiste nur in meiner Fantasie. Nun ist vieles davon bereits wahr geworden. Mit Francis Kéré habe ich einen Architekten und Freund gefunden, der mich von vielen Gutmensch­absichten abgebracht hat. Warum haben Sie ihn ausgesucht? Kéré ist als Sohn eines Häuptlings aufgewachsen, etwa drei Stunden von Ouagadougou, der Hauptstadt Burkinas, entfernt. Er hat in Deutschland Architektur studiert und vor einigen Jahren in seinem Heimatdorf Gando eine Schule für 500 Kinder gebaut. Es ist ein wundervolles Gebäude, an dem andere Dörfer nach seinen Plänen mitgebaut haben. Das Ganze wurde sogar mit dem Aga-Khan-Preis ausgezeichnet und gilt mittlerweile als zukunftsweisendes Projekt. Als ich dort war, habe ich viel gelernt und mit ihm besprochen. In dieser Schule wird in einer Art und Weise unterrichtet, die man hier in Deutschland nicht hinbekommen würde. Francis nennt das „soziale Architektur“. Mir ist die soziale Architektur beziehungsweise die „soziale Plastik“ sehr wichtig. In meinen Augen ist das alles schon da, der Mensch muss es nur noch kenntlich machen. Das war immer Bestandteil meiner Arbeit! Kein brachialer Kraftakt, sondern ein unscharfer Organismus, der auf den Menschen eingeht, ohne ihn in die Schärfe zu zwingen. Es gibt Kritiker des Projekts, die Ihnen dennoch eine kolonialistische Attitüde vorwerfen. Diese Diskussion muss geführt werden, weil sie zeigen wird, dass sich hier Schreibtischtäter zu Wort melden, die gar nicht wissen, was wir machen und sowieso alles abschaffen wollen. Ohne mich! Mit Francis Kéré habe ich die beste Kontrollinstanz an meiner Seite. Er wollte auch, dass ich mit der Regierung einen Vertrag aushandele und nicht nur einseitig plane. Nun haben wir einen Vertrag mit der Regierung und haben außerdem fünf Hektar Land geschenkt bekommen. Der Vertrag wird im Januar unterschrieben. Viele Kulturschaffende haben schon gespendet: von Roland Emmerich bis Henning Mankell, die jeweils 100000 Euro dazugegeben haben. Aber es gibt auch viele Leute, die Beträge zwischen fünf und 1000 Euro auf unserer Internetseite spenden. Sie haben verstanden, dass es nicht mein Ziel ist, Bayreuth nach Afrika zu tragen, nach dem Motto: Jetzt zeigen wir denen mal, wie Kultur so aussieht. Sondern? Es wird ein Operndorf, das einen ganz anderen Charakter hat. Schule, Filmklasse, Probebühnen, Medizinische Station, Herberge und Gästehaus für Künstler und Besucher, Großküche, ein Theater für 500 Personen, kleine Kinos und Sportplatz. Alles, was die Oper mal ausgemacht hat seit Epidaurus. Das Ganze kann man im Internet ab März schon mitverfolgen. Wie die Knirpse ihre ersten Filme drehen und die ersten sechs bis sechzehnjährigen Musiker ihre Aufnahmen herstellen. Alles ohne Redakteure oder Produzenten. Die Kinder lernen an sich selber, und wir lernen von Burkina Faso. Das Motto heißt: Von Afrika lernen. Als Frank-Walter Steinmeier noch Außenminister war, hat das Außenministerium Ihr Projekt finanziell gefördert. Kurz vor der Bundestagswahl hatten Sie öffentlich entschieden Kritik an der FDP geübt. Setzt das Außenministerium unter Guido Westerwelle die Förderung fort? Sowohl Guido Westerwelle als auch das Außenministerium sagen, dass sie sich selbst beschädigen würden, wenn sie die Unterstützung kappen. Das Projekt hat eine enorme Öffentlichkeit. Bundespräsident Köhler hat mir kürzlich bestätigt, dass die Gelder zur Verfügung stehen. Ich bin ihm sehr dankbar für sein Engagement. Ich betrachte ihn als einen Freund. Und auch Herr Steinmeier hat unser Projekt unheimlich stark unterstützt. Die wirklich gute Afrikapolitik, die Köhler und auch Steinmeier gemacht haben und weitermachen, ist nicht unbedingt so bekannt, wie sie es verdient hätte. Gerade Bundespräsident Köhler engagiert sich auf ganz großartige Weise. Was macht für Sie die Faszination Afrikas aus? Seit 1993 habe ich eine besondere Verbindung zu diesem Kontinent. Die Wissenschaft sagt, dass Afrika die Wiege der Menschheit sei. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass man da herkommen könnte… Na ja… Wenn man mal in sich reinhört… sicher sehr schwierig für uns, wo wir doch Afrika nur als Treffpunkt für Krankheit und Gewalt wahrnehmen. Afrika besteht aber aus sehr unterschiedlichen Völkern, und gerade das finde ich besonders faszinierend. Afrika ist das Land, in dem ich für mich zum ersten Mal eine spirituelle, kulturelle Reinheit kennengelernt habe, wie ich sie noch nie zuvor irgendwo wahrgenommen habe. Das ist ein Reichtum, der jetzt und in der Zukunft sehr wichtig werden wird. Unsere Schablonen sind ausgeleiert oder zerbrochen. Sie sind, was die breite Öffentlichkeit nicht weiß, gläubiger Christ. Ist Ihnen der Glaube in der Krankheit ein Trost? Leider habe ich den Glauben nicht wirklich als Hilfe empfunden. Seit der Reformation ist das Christentum für mich zu einer Disney World, zu einem Märchenpark geworden. Ich selber spüre erst seit zwei, drei Monaten eine wirkliche Besserung, weil ich den Systemtheologen Johannes Hoff kennengelernt habe, der in Wales Philosophie und Systemtheologie lehrt. Wie ein Archäologe gräbt er aus, was unsere heutigen Kirchen in ihrem Märchenpark alles versteckt haben, und wie viel Freiheit und Freude sie den Gläubigen genommen haben. Glauben muss konkret sein, er benötigt Verantwortung und auch die Möglichkeit zu streiten – von all dem keine Spur. Was genau verstehen Sie unter Märchenpark? Ich habe das Gefühl, dass die katholische Kirche den Gedanken des Christentums, die Liebe, die in dieser ganzen Unternehmung steckt, überhaupt nicht nutzt. In den Gemeinden gibt es unzählige wunderbare Mitglieder und Hilfsprojekte, die gut sind, keine Frage. Im Großen und Ganzen habe ich aber das Gefühl, dass die Kirche mir keine Freude vermittelt. Sie vermittelt mir nicht das Gefühl, dass es wichtig und eine Freude sein kann, sich einer Minderheit anzuschließen, Andersdenkende und Andersliebende kennenzulernen. Mir scheint, als habe sich die katholische und auch die protestantische Kirche auf eine Art Abgesang eingelassen. Alles kommt mit einem Wimmerton daher. Die Kirchen haben die Verantwortung von der Freiheit in eine bittere Depression überführt. Sie sind in ihren Ritualen hängen geblieben, es sind Absitzrituale. Wenn man böse wäre, würde man sagen: Die Rituale sind nicht mehr als Sesselhockerei. Das ist natürlich viel zu wenig. Glauben Sie als Christ an die Unsterblichkeit der Seele? Das habe ich immer noch zu verhandeln. In meiner neuen Arbeit in Zürich habe ich begonnen, den Tristan weiter zu erforschen, mit einer langsamen Annäherung. Eine erste Frage beschäftigt sich damit: Was ist, wenn jemand weg ist und ich nicht mehr diese Liebe anwenden kann? Wenn also alles zu spät ist? Und was ist, wenn ich selber derjenige bin, der verschwunden ist? Ich habe durch die neuen Gedanken mit Johannes Hoff sehr starken Mut bekommen, dass nichts verloren geht. Ich gebe zu, dass das meinen kindlichen, naiven Glauben rettet, weil ich sage: So lange ich, wie Hugo Ball, von einem Hypergott ausgehe, kann ich auch den Märchenpark ertragen – denn auch der ist nur ein Teil des Ganzen. Wenn ich dann allerdings sterben sollte und die Schmerzen, auch die Trennungsschmerzen kommen, das Verlassenmüssen des Hier und Jetzt, werde ich vielleicht wieder einige Krippenfiguren und die Schmusedecke der Religion brauchen. Aber ich glaube, ich beginne gerade, dem Glauben klarer gegenüberzutreten, und habe auch mehr zu formulieren als ich jemals geglaubt hätte. Meine Kraft des Formulierens ist noch lange nicht zu Ende. Was sollte – was wird – sich 2010 verändern? Politisch wünsche ich mir, dass wir Deutschen allmählich kapieren, welch einen riesigen Schatz wir mit unserem Demokratiemodell haben. Dieser Schatz benötigt unser Engagement! Lieber Klappe auf als Stimme weg! Wir müssen die Bürger endlich wieder animieren, zur Wahl zu gehen. Und wir müssen Politiker fordern, die noch einen Funken von Authentizität haben. Dann hätten wir jetzt auch eine andere Regierung – oder wer weiß gerade noch die Namen unserer Politiker? Ist das nicht beängstigend? Was erwarten Sie persönlich vom neuen Jahr? Ich habe die große Hoffnung, dass die Tablette, die ich nehme, Tarceva, weiterhin wirkt und die inneren Ängste etwas weniger werden. Darauf hoffe ich stark. Und dass ich auch weiterhin so gute Freunde und Mitarbeiter habe, ohne die meine Arbeit gar nicht möglich wäre. Wenn Sie Ihr Leben noch einmal von vorn beginnen könnten, was würden Sie anders machen? Im Großen und Ganzen habe ich viel Glück gehabt. Durch die Krankheit bin ich zwar angeschlagen, aber ein paar Gedanken hätte ich in dieser Intensität ohne sie nicht erlebt. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich will diese Krankheit in keinster Weise verehren. Sie ist zum Kotzen, und niemand soll sie bekommen. Aber jetzt, nachdem ich sie erlebt habe, ist es toll zu sehen, dass danach nicht Schluss ist. Das soll man als Kranker den anderen weitergeben. Auch wenn es Jahre dauert, es tut sich auch etwas Neues. Und das ist meistens sogar gut. Das Gespräch führte Philipp Engel.

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