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Selbstbild der Deutschen - Die Stress-Lüge

Kisslers Konter: Umfragen stellen fest, die Deutschen sind gestresst. Eine Lüge, denn der deutsche Stress ist kein realer Belastungszustand. Sondern ein Statussymbol, das unsere spätkapitalistische Mittelstandsgesellschaft kittet

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Man halte ein Mikrofon unter eine Nase und frage: Finden Sie, dass Sie genug verdienen? Oder aber: Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland gerecht zugeht? Die Antworten sind vorhersehbarer und zuverlässiger als der nächste Triebwerkschaden bei der Deutschen Bahn AG. Nein, natürlich nicht. Wer wird schon einem Dritten gegenüber zugeben, dass er eigentlich, gemessen an den Fertigkeiten, fair bezahlt werde, und dass es Länder gebe mit einem echten Gerechtigkeitsproblem?

Umfragen sind Nörgelinstrumente. Sie fragen nach Selbsteinschätzungen, nicht nach Fakten. Sie geben Zeitgeist und sanktioniertes Selbstbild wieder, keine Realitäten.

Stress als Statussymbol


Gerade so verhält es sich mit den immer beliebter werdenden Erhebungen zur Stress-Republik Deutschland. Neulich war zu lesen, sieben von zehn Berufstätigen seien „manchmal“ (44 Prozent) oder „häufig“ (26 Prozent) gestresst. Sieben von zehn Berufstätigen können sich mit der Aussage „Ich bin gestresst“ anfreunden. Daraus folgt nun aber nicht zwingend, was gefolgert wurde – dass der Stress am Arbeitsplatz steige und steige und steige; obwohl 67 Prozent auch dem Satz „Ich habe heute mehr Stress als noch vor drei Jahren“ beipflichteten.

Daraus folgt lediglich: In Deutschland jammert man gerne über zu viel Stress. Stress ist ein Statussymbol, Stress ist eine gesellschaftlich erwünschte Eigenschaft, Stress muss sein. Nur wer Stress reklamiert, hat Anrecht auf den ach so beliebten Sitz in der Mitte der Gesellschaft.

Fragebögen mit normierten Antworten


Das komplizierte Verhältnis zwischen Selbstbild und sozialer Erwartung zeigt sich an vielen Stellen. Wer von unbekannter Seite nach einem persönlichen Verhalten, nach persönlichen Vorlieben gefragt wird, antwortet in der Regel passgenau nach dem gängigen Muster, exekutiert die vermutete Mehrheitsmeinung. In Fragebogen für Prominente etwa lautet die normierte Antwort auf die Frage nach der größten Schwäche: Ungeduld. Dahinter verbirgt sich keineswegs Selbstkritik, sondern Selbstlob. Der Ungeduldige gibt zu erkennen, dass er die Maßstäbe dieser spätkapitalistischen Mittelstandsgesellschaft verinnerlicht hat. Das öffentliche Bekenntnis zur Ungeduld ist ein Bekenntnis zum Leistungsprinzip, zum Wettbewerb, zur Pose des Machens und Malochens.

Kein Filmstar, kein Spitzenpolitiker, kein Topmanager kann es sich leisten, öffentlich für Geduld zu votieren. Eine solche Confessio würde sofort in Zögern und Zaudern und mangelnde Entschlusskraft, fehlendes Feuer übersetzt. Wer etwas kann und etwas will, der hat ungeduldig zu sein. Dem Geduldigen traut diese Gesellschaft nichts zu.

Stressfreiheit führt zu sozialer Ächtung


Arbeitnehmer, die ihr Arbeiten als stressfrei bezeichneten, stünden vor der sozialen Ächtung. Der Charismatiker, der Geniale, der Kreative und Spontane hat allerschlechteste Karten. Darum ist selbst im Schutzraum des Anonymen die Zahl der Stressbehaupter von vorneherein größer als die Zahl der Stressverneiner.

Stress gehört zum guten Ton in einem Land, das – wenn überhaupt – nur durch den Stolz auf seine Tüchtigkeit zusammengehalten wird. Quantität schlägt hier alleweil Qualität, die Masse den einzelnen. Das wohlige Statement zum Stress ist darum in erster Linie ein patriotisches Zeugnis. Es besagt nichts weiter als: Ja, ich will ein guter Deutscher sein. Ich lasse mich stressen.

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