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Sexismus in Deutschland - Die „alte Kacke“ dampft noch immer

Mit Brüderle hat die Sexismus-Debatte vielleicht den falschen Aufhänger. Aber sie wird geführt – und das ist gut so. Denn die „alte Kacke“ dampft noch immer: an der Bar, bei der Arbeit und im Fernsehen

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Man muss keine eingefleischte Feministin sein, um Alice Schwarzer Recht zu geben. In dem Bemühen, die Sexismus-Debatte bei Günther Jauch auf eine andere Ebene zu heben, sprach sie einen Punkt an, der nicht ganz unwesentlich ist:

Wir jungen (emanzipierten) Frauen der postfeministischen Ära wurden in eine Welt geboren, von der es hieß, sie sei modern. Wir spürten keinen Unterschied zwischen Mädchen-Sein und Junge-Sein und hatten das gute Gefühl, unter den gleichen Bedingungen heranzuwachsen, mit den gleichen Träumen, Chancen und Möglichkeiten. Im Kindergarten konnten Jungs mit Puppen spielen, ohne dass der stolze Vater weinte, und Mädchen mit dem Fußball (oder meinetwegen Jungs mit Lego und Mädchen mit Plüschhäschen).

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In der Grundschule durften Mädchen gut in Mathe sein und Jungs gut in Handarbeit (oder meinetwegen Jungs beim Schlagzeugspielen und Mädchen beim Schönschreiben). Es wohnte sogar ein Junge in der Straße, der Prima Ballerina wurde. Ein dorfeigener Billy Elliot. Und alle wünschten ihm viel Glück auf der Ballettakademie. Auf dem Gymnasium kam dann sicher die Pubertät dazwischen, die primären Geschlechtsmerkmale waren irgendwann nicht mehr zu ignorieren (die sekundären schon gar nicht) und der Sportunterricht fand in getrennten Hallen statt. Aber sonst änderte sich im Grunde nichts. Die Welt war ein Abenteuer, aber ungefährlich.

Und auch zuhause in den geschützten vier Wänden durfte man davon ausgehen, dass für Jungen und Mädchen weitestgehend dieselben Regeln galten. Zimmeraufräumen, Schlafengehen, Freunde treffen: Bruder und Schwester hatten dieselben Pflichten, genossen dieselben Freiheiten. Die Welt war also nicht nur ungefährlich, sie war auch noch gerecht.

So wuchsen viele Frauen in den 1980er, 1990er Jahren (die späteren Jahrgänge sowieso) mit diesem Abziehbild einer intakten Welt heran und fühlten sich vor allem eins: sicher. Sie profitierten von einem Kampf der Geschlechter, der schon lange vor ihrer Zeit ausgetragen worden war. Das bedeutete aber auch: Diese mühsam gleichgemachte Welt war für die nachkommenden Generationen selbstverständlich. Und hier liegt der Hase im Pfeffer.

Gratis-Drinks und Bügel-Lektionen

Selbstverständlich war, dass mich Taxifahrer umsonst nachhause fuhren, dass mich Fahrkartenkontrolleure ungestraft laufen ließen und dass meine Freundinnen und ich die vielen Drinks bei den vielen Barkeepern mit nichts anderem als einem Lächeln bezahlten. Und ganz ehrlich: Es war profitabel und ich freute mich darüber. Ganz selbstverständlich.

Ich weiß aber auch, dass ich mich als junges Mädchen darüber ärgerte, dass mir meine Großmutter beibringen wollte, wie man Hemden richtig stärkt und bügelt, mein Bruder aber von dieser Lektion verschont blieb. Ich weiß, wie es ist, im Job von älteren männlichen (und auch weiblichen!) Kollegen nicht ernst genommen oder gleich ganz übergangen zu werden. Zu jung, zu hübsch, zu unwahrscheinlich. Ich weiß, dass ich bei einem Interview von einem gockeligen Experten zum Thema XY dazu angehalten wurde „mich noch ein wenig zu konzentrieren“, der nächste Aspekt sei nämlich wichtig für den Zusammenhang. Aha. Und ich weiß auch, dass mir bei einem Bewerbungsgespräch der Unterschied zwischen einem „erfahrenen Silberrücken“ (mein Gegenüber verwies auf sich selbst) und, nun ja, mir erklärt wurde. Den Job bekam ich nicht. Der Blick in meinen Ausschnitt brüskierte mich da nur noch am Rande.

Irgendwo zwischen der Bügel-Lektion und der Silberrücken-Anekdote geriet die heile Welt in eine Schieflage. Nur konnte ich die Ursachen dafür nicht benennen. Wie auch? Wie soll man ein Problem benennen, geschweige denn, es angehen und beheben, wenn man nicht weiß, wie es beschaffen ist. Frau Schwarzer redete bei Jauch von einer „alten Kacke“, die „immer noch dampft“. Für viele junge Frauen ist es nur keine alte Kacke, sie ist ganz frisch. Sie dampft im Hier und Jetzt. Und so schlimm das klingen mag: Wir haben uns mehr oder weniger mit ihr arrangiert. Diese Kacke gehört zu unserem Alltag, sie hat sich dort eingeschlichen und festgetreten, ganz unbemerkt. Manchmal roch sie, aber eben nicht so stark , dass wir zu Büstenhalter und Feuerzeug gegriffen hätten. Das Fatale dabei: Erst dann, wenn man beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen (ganz gleich ob in Turnschuhen oder auf der hohen Hacke), erst seit es im Leben tatsächlich um etwas geht – nämlich um Selbstverwirklichung dank Selbstbestimmung –, erst hier wird jungen Frauen die alte Kacke, die Kluft zwischen Silberrücken und Nicht-Silberrücken, offenbart.

Siehe da, diese schöne moderne Welt ist weder sicher, noch ungefährlich, noch gerecht. Das muss man erst mal verdauen.

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Ob der Stern mit seinem „Herrenwitz“ ein kritisches Porträt Rainer Brüderles zeichnen wollte oder ein bigotte Kampagne gegen den FDP-Spitzenkandidaten fährt, ist nun im Grunde zweitrangig. Die Debatte um die Ungleichverteilung in diesem Land (von Indien sprechen wir erst gar nicht!) ist da und das ist gut so. Vielleicht hätte sich die Debatte noch an der tatsächlich diskussionswürdigen Geschichte zum Thema von Annett Meiritz im Spiegel entzünden können, die von ihren Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei berichtete. Aber gut, anscheinend brauchen wir eindeutige Grauzonen, um über das Offensichtliche zu reden. Höchste Zeit jedenfalls, dass wir über das reden, worum es letztlich geht: Um Grenzüberschreitungen und Machtstrukturen.

Achtung, Fleischbeschauung!

Jeden Tag werden Grenzen überschritten, Macht wird demonstriert und ausgenutzt. Immer und überall. Nicht nur in der Politik, im Journalismus oder in irgendwelchen oberen Vorstandsetagen. Nicht im Versteckten, nicht in den Hinterzimmern dieser Nation, sondern direkt vor unseren Augen. Nur als Beispiel:

Letztes Jahr lief eine Frau mit nichts an durch das australische Dschungelcamp und reckte ihren silikongepolsterten Busen in jede ihr sich bietende Kamera. In der Viehzucht nennt man so was Fleischbeschauung. Bei RTL freute man sich schlicht über die Quote. In der Castingshow Deutschland sucht den Superstar wackeln regelmäßig 16-jährige Mädchen in kurzen Röcken mit ihrem Gesäß zur Musik, während sie dem Diktat von Vollzeitchauvinist Dieter Bohlen folgen. „Tanz, Baby, tanz!“

Fleischbeschauung No2. Bei Germany’s Next Topmodel werden magere Mädchen danach beurteilt, wie gut sie „mit der Kamera flirten“ und dabei geradeaus laufen können. Hier kommt es ganz klar auf die „Personality“ an.

Ein paar Sendetermine weiter buhlen 20 Frauen um die Gunst eines „smarten“ Junggesellen, biedern sich (freiwillig!) an, nur um am Ende hoffentlich eine rote Rose in ihren ringlosen Fingern zu halten. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, meint nun ein früher mal ziemlich witziger Christian Ulmen den Voyeurismus entlarvt zu haben, indem er mit seiner neuen Sendung mit dem klingenden Titel Who wants to fuck my girlfriend? ausspricht, was DSDS, Bachelor & Co nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen wagen. FLEISCHBESCHAUUNG! Na, dafür sollten wir doch endlich mal dankbar sein. Also, Christian Ulmen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht lassen wir es auch einfach.

Wo sind denn die besorgten Eltern? Wo sind die Menschen, die sich für ihre scheinbar blinden Schützlinge verantwortlich fühlen, von mir aus auch Manager und Agenten, die jenseits der Quote denken? Wo ist der Jugendschutz oder das zuständige Amt, das dem hierzulande alltäglich geduldeten, ja sogar forcierten Sexismus mit ebensolcher Konsequenz hinterherjagt, wie dem Neger-Wörtlein in den tatsächlich unschuldigen Büchern von Astrid Lindgren?

Frauen werden zu Komplizinnen im System Mann

Zwischen proklamierter Gleichberechtigung und gelebter Gleichbehandlung liegen immer noch Welten. Obwohl Autorin Hanna Rosin in ihrem klugen Buch „Das Ende der Männer“ die Dinge eigentlich ganz anders sieht. Und Unrecht hat sie nicht. Rosin ist keine Feministin, schreibt das 21. Jahrhundert aber dennoch den Frauen zu – der Mann befinde sich als Rudiment einer längst überholten Ära in Schockstarre. Frauen schaffen es heutzutage, nach Rosin, allein durch Bildung. Sie machen häufiger den Abschluss und mehrheitlich auch den besseren. Frauen seien wie geschaffen für den Dienstleistungssektor, perfekt angepasst an die neuen, modernen Arbeitsbedingungen. Trotzdem fallen sie, so Rosin, immer wieder zurück in alte Rollenbilder und werden zu „Komplizinnen“ des altbekannten, altruistischen Systems.

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Frauen werden immer noch schlechter bezahlt und finden sich seltener in Spitzenpositionen. Die deutsche Familienministerin wünscht sich statt der Frauenquote eine Herdprämie. Männer arbeiten Vollzeit, Frauen Teilzeit und nach der Familiengründung verlassen sie meistens die Karriereleiter. Für Rosin geht es deshalb letztlich nicht darum, das tatsächliche „Ende der Männer“ auszurufen: Neue Lebensmodelle müssen geschaffen (und gemeinhin akzeptiert) werden. Männer und Frauen müssen den Weg suchen, hinaus aus der Rollenverteilung und hin zu einem System, in dem man sich auf Augenhöhe begegnet. Willkommen in Utopia, will man sagen.

Ein Schritt in Richtung dieses Utopia könnte sein, der Debatte, die gerade jedes Feuilleton dieses Landes rauf- und runterkaut, das nötige Gewicht beizumessen und sie ernsthaft zu führen, anstatt darüber zu witzeln, dass „die Kuh keinen Schaden genommen hat“ (durch Brüderles Euterbemerkung). Verdient hätte sie es jedenfalls und wer weiß, was dabei noch alles zutage treten könnte?

Annett Meiritz schrieb im Spiegel, ihre Geschichte hätte sie nicht in brodelnder Entrüstung zurückgelassen. Eine „irritierende Sekunde später“ ging es für sie weiter. Wie gehabt. Eigentlich schlimm. Denn es darf nicht Usus sein, dass sich Frauen in dieser modernen Welt grundsätzlich ein dickeres Fell wachsen lassen müssen, nur weil sie eben Frauen sind. Ich möchte meiner Tochter nicht mehr erklären müssen, was der Unterschied zwischen Silberrücken und Nicht-Silberrücken ist. Bleibt zu hoffen, dass es noch so viele kluge Menschen mit Integrität, Respekt, Anstand und auch Durchschlagkraft in diesem Land gibt, um der Debatte an den Kragen zu gehen. Ganz diplomatisch, natürlich.

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