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(picture alliance) Das Beethovenfest wird bis zum 9. Oktober viele Kulturinteressierte nach Bonn locken.

Beethovenfest - Der Herzschrittmacher Bonns

Um Bonn kommt jeder herum, um Beethoven nicht. Wie ein traditionsreiches Musikfestival frisches Leben in die totgesagte Kulturszene der alten Hauptstadt pumpt.

Wenn ein verwöhnter Fratz auf eigenen Beinen stehen soll, gibt es meistens Probleme. Der Fratz lernt das nicht von heute auf morgen und rasselt herein auf jeden, der ihm verspricht, das leichte Leben weiter zu finanzieren. So geschah es der ehemaligen Bundeshauptstadt, als ein koreanischer Investor verhieß, mit dem Bau des Weltkongresscenters Bonn (WCCB) werde alles wieder so bequem wie ehedem. Tatsächlich sorgte die SMI Hyundai Corporation für einen Gewinn.

Gewonnen hat ein sechsköpfiges Reporterteam des Bonner Generalanzeigers: Es wurde 2010 mit dem Wächterpreis für eine Serie ausgezeichnet, die detailliert die skandalösen Missstände um das 20-Millionen-Projekt des WCCB aufdeckte. Generalstabsmäßig hatte das Netzwerk aus Korea einen Plan ausgeheckt, mit dem es die Stadt abzocken wollte und auch abgezockt hat. Der städtische Gesamthaushalt in Bonn hat ein Ausgabenvolumen von 1,112 Milliarden Euro, 74256 Millionen Euro werden davon für Kultur ausgegeben, also 6,67 Prozent. Diesen Etat will die Bonner Stadtspitze von August 2013 an jährlich um 3,5 Millionen Euro kürzen. Dran glauben müssen Oper und Theater. Auch der Bau einer neuen Beethovenhalle wurde auf Eis gelegt.

„Beethoven würde bitter lachen“, vermeldete die Süddeutsche Zeitung im Juni und legte ein paar Tage später nach: „Das Beethoven-Haus in Bonn kommt nicht aus der Krise.“ Manfred Harnischfeger, der kommissarische Direktor dieses Gesamtkunstwerks aus Museum, Archiv, Forschungsstelle, Bibliothek, Konzertsaal, Digitalbank, Verlag und Laden, weiß allerdings nichts von einer Krise. Sein Etat beträgt über zwei Millionen Euro. Davon stammen 255000 Euro von der Stadt, 525000 vom Land und 510000 vom Bund. „Die verbleibende Summe, also fast die Hälfte des Etats, wird finanziert durch Spenden der 1000 Mitglieder und Großtaten einzelner Mäzene und Stiftungen“, freut sich der keineswegs niedergeschlagene Interimsdirektor. Weniger freut ihn, dass die Stadtspitze bisher übersehen hat, was Bonn wirklich fehlt: „eine Vision und der Wille, sie umzusetzen“.

Die Vision müsste in Bonn nicht gesucht werden, denn die Geschichte liefert sie frei Haus. Sie heißt Ludwig van Beethoven. Dass er hier 1770 geboren wurde und 22 Jahre durchhielt, obwohl er Bonn als seinem Schicksal „nicht günstig“ befand, ist für Harnischfeger, der auch als Professor für Kultur- und Medienmanagement an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater tätig ist, „marketingtechnisch gesprochen ein ungeheures Potenzial“. Auch Ilona Schmiel, seit 2004 Intendantin des Beethovenfests in Bonn, sieht das so. Der Komponist, so Schmiel, verleihe der Stadt „eine Aura, die ihr keiner nehmen kann“.

Die Gelegenheit, sich im engen Geburtshaus Beethovens von dieser Aura zu überzeugen, nehmen seine Landsleute weniger wahr als Fremde. „Die Asiaten wissen Beethoven oft mehr zu schätzen als die Bonner“, sagt Harnischfeger. „Der Großteil der 100000 Besucher des Beethovenhauses ist asiatisch.“ Die über 70000 Besucher des Beethovenfests, das jedes Jahr im September stattfindet, kommen allerdings zu 70 Prozent aus Stadt und Region. Zwei Drittel seines Etats von 4,8 Millionen erwirtschaftet es selbst, das andere Drittel übernimmt Bonn. Die 43-jährige Intendantin Schmiel sieht das Wehklagen um Bonns erloschenen Glanz deswegen als ein Problem der ewiggestrigen Zauderer, mit denen sie so wenig anfangen kann wie Beethoven seinerzeit selbst. Der vertrat die Ansicht, man müsse „dem Schicksal in den Rachen greifen“.

Schließlich ging es dem größten Sohn der Stadt nicht besser als Bonn selbst. Was Beethovens Großvater, Leiter der Bonner Hofkapelle, angespart hatte, versoff und verprasste sein Vater ebenso wie sein eigenes Gehalt. Auch nach dem Tod der Mutter sah er keinen Anlass, Verantwortung für die Familie zu übernehmen; das musste der 16-jährige Ludwig als der Älteste an seiner Stelle tun. Obwohl Beethoven in Fragen der Finanzen kein Genie war, hinterließ er Gebrauchsanweisungen dafür, wie Bonn durch ihn und mit ihm erstrahlen kann. „Für dich armer Beethoven, gibt es kein Glück von außen“, erkannte er, „du musst dir alles in dir selbst erschaffen, nur in der idealen Welt findest du Freunde.“

Dort findet er sie nach wie vor. Idealistischen Bonner Bürgern ist das meiste zu verdanken, was in dieser Stadt an ihn erinnert. Der Bonner Bürger Heinrich Karl Breidenstein kam im Jahr 1845 auf die Idee, mit Liszt als Galionsfigur zur Einweihung des Beethovendenkmals erstmals ein dreitägiges Beethovenfest zu veranstalten. Bonner Bürger verhinderten 1889 den Abriss des Geburtshauses, Bonner Bürger sind dessen wichtigste Förderer. Bonner Bürger gründeten den Verein, der 1869 anregte, ein „definitives Lokal“ für das Beethovenfest zu bauen. Bonner Bürger erreichten, dass das Beethovenfest, 1995 mit dem Umzug der Regierung nach Berlin für tot erklärt, vier Jahre später wieder zum Leben erweckt wurde. Bonner Bürger trugen mit ihren Spenden 2009 dazu bei, die letzte große Handschrift Beethovens, die Diabelli-Variationen, zu erwerben.

Aufsehenerregende Impulse kamen dennoch fast immer auch von außen. Franz Liszt war Hauptgeldgeber und Leiter des ersten Beethovenfests, König ­Ludwig von Bayern der prominenteste Besucher, und dessen Geliebte Lola Montez, die beim Abschlussfestmahl im Gasthof Stern auf den Tischen tanzte, das pressewirksame Ärgernis und Ereignis. Der österreichisch-ungarische Geiger Joseph Joachim aus Berlin war Leiter des ersten Kammermusikfests hier. Die mitreißenden Campus-Konzerte, zu dem das Beethovenfest und die Deutsche Welle einladen, werden seit 2004 von Jugendorchestern aus Peking, Krakau, Südafrika, Kairo, Petersburg, Hanoi und São Paolo bestritten. Dieses Jahr werden es junge Musiker aus dem Irak sein, Araber und Kurden. Dass die Gastfamilien keineswegs zurückschreckten, diese nicht eben konfliktlose Schar zu beherbergen, wäre, meint Ilona Schmiel, „vor fünf, sechs Jahren wohl noch nicht denkbar gewesen“.

Auch das ist ein Indiz dafür, dass das Kraftwerk Beethoven ständig Energie zur inneren und äußeren Erneuerung liefert. „Beethoven funktioniert überall: Er wird als sinnstiftend und zukunftsweisend erlebt“, sagt die Intendantin. Er bringt Kinder und Jugendliche aus den Favelas dazu, jeden Tag stundenlang miteinander zu üben. Im venezolanischen Simón Bolívar Youth Orchestra unter Gustavo Dudamel, der fulminantesten unter den jungen Dirigierbegabungen, spielten sie schon 2005 den Bonnern Beethoven vor, als ginge es dabei um ihr Leben. Die meisten von ihnen sind bettelarm und galten als chancenlos. Beethoven steht bei ihnen für Zukunft – und ihr Auftritt hat den Altersgenossen in Bonn gezeigt, wie die sich anhört. Wenn eines der Schülerorchester dort erlahmt, sagt dessen Leiter seither nur: „Jetzt spielen wir mal wie die Venezolaner“, und schon sitzen alle auf der vordersten Stuhlkante.

Zukunftsmusik heißt auch das Motto des diesjährigen Festivals. Düster findet die Bonner Zukunftsaussichten nur, wer jenen Medien Glauben schenkt, die „Bonn kaputtreden“, wie Ilona Schmiel sich ärgert. Angststarre kennt Bonn nicht. Stillstand verhindert die Vision Beethoven. Der Musikschriftsteller und Zeitgenosse Beethovens Johann Friedrich Rochlitz beobachtete, dass dem Komponisten, wenn er „einmal in Bewegung gesetzt“ war, „überraschende, aufregende Kombinationen und Paradoxien“ unaufhaltsam zuströmten. Die kultiviert auch das Beethovenfest. In Ilona Schmiels Ohren klingt es durchaus angenehm, wenn das Publikum aufschreit – nach dem Konzert. 2004 hatte sie, zuvor Leiterin der Glocke in Bremen, die Bremer Kammerphilharmonie eingeladen, unter dem estnischen Dirigenten Paavo Järvi, einen Zyklus mit den neun Beethoven-Symphonien zu starten. „An Järvi rieb sich alles“, erinnert sie sich. „So kann man Beethoven-Symphonien nicht spielen!“, bekam sie zu hören. 2009 wurde der Zyklus komplett aufgeführt, und dieselben, die sich damals erregt hatten, erklärten ihr nun: „Nur so kann man Beethovensymphonien spielen!“

Bonn leidet angeblich darunter, dass nun keiner mehr hier hermuss. Ilona Schmiel findet das erfreulich, weil jetzt der Beweis angetreten werden kann, was Bonn wirklich attraktiv macht. „Um Bonn kommt jeder herum, um Beethoven nicht.“ Das dringt auch zu einer Klientel durch, die nicht als Fankurve Beethovens gilt, in Bonn jedoch wie UN, Forschungsinstitute, Deutsche Post DHL oder Telekom für Arbeit und Geld sorgt: die Softwarebranche. „Ich habe gelernt, die Softwareleute zu lieben“, bekennt Schmiel. „Die haben ein starkes Bedürfnis, etwas Unmittelbares zu erleben und ergriffen zu werden.“ Wie und womit, das schaut sie sich von Beethoven ab. „Er war seiner Zeit voraus. Deshalb gehören Künstler aufs Beethovenfest, die das auch sind.“ 2006 hat der Schlagzeuger Martin Grubinger sechseinhalb Stunden Percussive Planet gespielt. „Das war Gesprächsstoff.“ Und es spricht sich offenbar herum, dass ein solches Konzerterlebnis doch mehr bringt als eine Ansammlung von Tenören im Fernsehen mit einer Klassikhitparade. Für einen Besucher aus der Softwarebranche war das eine so erregende Erfahrung, dass er sich als Sponsor bewarb.

Beethoven steht für Pathos im doppelten Wortsinn. In einer weitgehend pathosbereinigten Kulturszene ist das ein Gewinn. Triebfeder Beethovens war der Leidensdruck. „Alle meine Noten bringen mich nicht aus den Nöten“, meinte er einst, „und ich schreibe Noten überhaupt nur aus Nöten.“ Und doch ist er es, der seine Geburtsstadt aus den Nöten bringen kann, wenn sie ihn nur lassen. „Jeder Euro, den Bonn für das Beethovenfest ausgibt, fließt vervierfacht in die Kassen zurück“, sagt Ilona Schmiel. Der Taxifahrer, der die Intendantin anfangs vom Flughafen abholte, wusste das offenbar, denn er legte der Neuen eine Beethovenbiografie auf den Rücksitz.

Aus Beethoven einen Wirtschaftsfaktor zu machen, bedeutet aber nicht, das Beethovenfest den Salzburger Festspielen anzugleichen. In Bonn geht es weniger ums Gesellschaftliche als ums Erlebnis. Für eine neue Spielstätte wirbt keine illustre oder gar Illustriertenprominenz, dafür wirbt Beethoven. Außerdem sind die Standorte nicht vergleichbar. Salzburg ist eine vollendete Schönheit von Weltruhm, Bonn ein Wesen, das durch unerwartete Entwicklungssprünge überrascht und von dem keiner weiß, wie es in zehn Jahren ausschauen wird. Internationales Glitzern kennt es nicht und braucht es nicht.

Das Beethovenfest führte schon im 19.Jahrhundert vor, wie sich Mangel in Reichtum verwandeln lässt. Man machte aus der Not, in einer orchesterlosen Stadt Musikfeste zu veranstalten, eine Tugend und Bonn zu einem Eldorado der Kammermusik. Schon ab 1897 standen hier häufig zeitgenössische Komponisten auf dem Programm, von Pfitzner bis Hindemith, 1899 wurde sogar ein Kompositionswettbewerb ausgeschrieben. Heute vergeben Beethovenfest und Deutsche Welle Auftragskompositionen, die gerade diejenigen packen, die sie vorher nur als Knochenbeiwaage zu Beethoven hinnahmen. Seit 2004 fanden 40 Uraufführungen in allen Gattungen statt, von der Violinsonate bis zum experimentellen Musiktheater. Das neue dramaturgische Konzept des Beethovenfests wurde im 21.Jahrhundert geboren, und so kommt es auch daher: ungewöhnlich und Konventionen verletzend, was seinem Namensgeber entspricht.

Wie Beethoven in die Gegenwart passt, zeigen auch die beiden siegreichen Entwürfe des Architekturwettbewerbs für die neue, dringend benötigte Beethovenhalle von Hermann & Valentiny und von Zaha Hadid. Jeder von ihnen ist wie jede von Beethovens Symphonien von genialem Einfallsreichtum, kühn und unverwechselbar. Wenn ein solcher Bau zu Beethovens 250.Geburtstag 2020 doch noch eingeweiht würde, sendete Bonn ein Signal in die Welt, dass diese Stadt nicht stirbt, nur weil, wie Harnischfeger sagt, „Diplomatengattinnen ihre Tausender nicht mehr in den Einzelhandel schleusen“.

Beethoven regt den Kreislauf und der Mangel regt die Fantasie an. Auf einen Bettelbrief Beethovens antwortete dessen Bruder Johann mit Vorwürfen, dass er es zu nichts gebracht habe, und unterzeichnete mit „Johann van Beethoven, Gutsbesitzer“. Beethoven schrieb zurück: „Ich brauche dein Geld und deine Predigten nicht. Ludwig van Beethoven, Hirnbesitzer.“ Mag Bonns Wichtigkeit von gestern sein, Beethoven ist es nicht. „Mich hat nicht die Position hier hergelockt, sondern das Thema Beethoven“, strahlt Ilona Schmiel, „seine beispiellose Modernität, die in der unerfüllten Sehnsucht nach Harmonie liegt.“ Nur gut also, dass es in Bonn Dissonanzen gibt.

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