Das Journal: Buchrezension - Der fliegt viel zu niedrig, der Trottel!

Roman Frédéric Beigbeder will sich als Kolumnist des Grauens in den 11. September einfühlen, quasselt sich aber um Kopf und Kragen

«Windows on the World», beworben als erster Roman über den 11. September, lässt sich den Spannungsbogen von der Uhr vorgeben: pro Minute ein Kapitel. Um 8:44 ruft Frédéric Beigbeder dem Leser zu: «Willkommen in der Minute davor, wo noch alles möglich ist.» Welche Kunst dann, die entscheidenden Sekunden zu vergegenwärtigen: «Eine fucking Boeing der American Airlines flog in geringer Höhe durch New York und steuerte auf uns zu. ‹Mist, was macht der da? Der fliegt viel zu niedrig, der Trottel!›» Auch Beigbeder fliegt so niedrig wie möglich, fest entschlossen, die Bestsellerliste zu rammen. 
 
Nur auf den ersten Blick orientiert er sich am Genre des Katastrophenlms. Dort lernt man üblicherweise eine Gruppe Menschen in ihren alltäglichen Lebensverstrickungen kennen und sieht dann mit Furcht und Schrecken zu, wie sie vom Unfassbaren getroffen werden. Mit solcher Gefühls-Dramaturgie hat Beigbeder jedoch nicht viel im Sinn. Deshalb gibt er sich wenig Mühe, ein größeres Figuren-Ensemble zu entwickeln, mit dem sich Massenpanik und Massentod zumindest näherungsweise darstellen ließen. Bei ihm hat man den Eindruck, nur eine Hand voll Menschen habe sich in den brennenden Türmen verlaufen. 
 
Hauptgur ist der Immobilienmakler Carthew Yorston, der mit seinen beiden Söhnen im Restaurant «Windows on the World» frühstücken wollte und nun in der 107. Etage feststeckt. Er macht den Jungen vor, dass es sich um ein gigantisches Show-Event handele. Nicht nur, dass Beigbeder Kinder offenbar für ziemlich dumm hält; er verwechselt zudem in medienkritischer Laune regelmäßig die Perspektive der Zuschauer mit jener der Opfer. Auf den Fernsehschirmen der Welt sah es eine Weile ja so aus, als sei die Wirklichkeit mit der Virtualität à la Hollywood identisch geworden. Die Menschen im Inferno des World Trade Center hatten aber gewiss kein Problem damit, Sein und Schein zu unterscheiden.
 
Lauter Wall-Street-Strichmännchen Beigbeders Figuren sitzen in der Todesfalle, aber die Lust auf Scherze ist ihnen noch lange nicht vergangen: «Seit heute Morgen gibt es in Turm 1 keine ‹No Smoking Zone› mehr.» Oder: «Normalerweise wird in einem Restaurant alles Mögliche gebraten, nur nicht die Gäste.» Auch die ungeschickte Rollenprosa der Todeskandidaten ist schwer zu ertragen: «Diese Hitze! Mir ist so irre heiß. Ich kann an gar nichts anderes denken und nde, ich bin zum Sterben zu jung.» 
 
Zu den wenigen weiteren Figuren gehört ein Business-Pärchen, «eine Blondine in Ralph Lauren» und «der Dunkelhaarige in Kenneth Cole» – was einige Dutzend Male wiederholt wird, bis die Charaktere voll ausgeschöpft sind. Man kommt nicht in Versuchung, mit Beigbeders Wall-Street-Strichmännchen Mitleid zu empnden; eher hofft man, dass sie endlich Ruhe geben. 
Aber worum geht es dann in diesem Roman? Um Beigbeder. Jedes zweite Kapitel gönnt er sich selbst, als Kolumnist des Grauens. Zum Schreiben hat er sich, damit es authentisch ist, hoch oben im «Le Ciel de Paris», dem Restaurant des Tour Montparnasse, installiert. Es sei «schon ein eigenartiges Gefühl, genauso alt zu sein wie das World Trade Center», stellt er fest. Ist das überhaupt ein Gefühl? Egal. Zum Milchkaffee sinniert er über die Ästhetik der Apokalypse und das Rauchverbot in amerikanischen Restaurants, über Swinger-Clubs und Playboys, die Kinder von 1968 und Cat Stevens, der sich zum Islam bekehrte und deshalb in diesem Roman vorkommen muss. Das «Windows on the World» bezeichnet er als «Luxus-Gaskammer», was wohl kein Vergleich, sondern nur eine Pointe sein soll. 
 
Bald verliert er ganz die Lust, sich in ktive Gestalten einzufühlen. Seine Hauptgur quasselt nun ganz wie er selbst, so dass die WTC-Kapitel kaum noch von den Ego-Kapiteln zu unterscheiden sind. Als «hyperrealistischen Roman» hat Beigbeder sein Werk auf den ersten Seiten etikettiert. Darunter wäre wohl eine übermäßige Genauigkeit zu verstehen. Aber je später der Morgen, desto knapper und flüchtiger fallen die Passagen in der Flammenhölle des Nordturms aus. 
 
Hier stehe ich, ein Sex-Süchtiger Soll mit dieser Wortkargheit die Würde der verschmorenden Menschen gewahrt werden, da deren Schmerzen jenseits aller Mitteilbarkeit bleiben? Es besteht kein Grund zu dieser wohlwollenden Annahme. Wäre Beigbeder nur etwas mehr eingefallen, er hätte gewiss nicht gezögert, es so jovial in die Tasten zu drücken wie seine Terror-Glossen: «Der Big Apple ist eine verbotene Frucht, und alle Evas der Welt beißen schamlos hinein. Die Flugzeuge haben hier ein großes Bordell entstehen lassen.» Beigbeder eilt, diese These durch gründlichste Recherchen zu untermauern. Mit der Concorde reist er nach New York und nimmt die Sex-Clubs in Augenschein. Was das mit dem 11. September zu tun hat? Ganz einfach, es ist ja dieser seelenlose westliche Hedonismus, der damals abgestraft wurde – und seitdem nur noch wilder tobt. 
 
Deshalb wirft sich Beigbeder auch ordentlich Asche aufs Haupt: Hier stehe ich, ein Sex-Süchtiger, ich kann nicht anders. Und bin damit ungeheuer repräsentativ. Nach seiner Grand Tour durchs Nachtleben lautet das Ergebnis: «Terrorismus terrorisiert keinen; er stärkt die Freiheit. Der Sex tanzt mit dem Tod.» Zur Illustration dieses Bonmots haben am Ende der «Dunkelhaarige in Kenneth Cole» und die «Blondine in Ralph Lauren» noch einen Auftritt. Mittels einer prämortalen Porno-Szene hoch oben im WTC um 10 Uhr 15 hofft Beigbeder ein Tabu zu brechen. Die beiden treiben es wild «zwischen den bläulichen Leichen ihrer Kollegen und Chefs». Und der Autor fügt hechelnd hinzu: «Selbst in dieser entsetzlichen Hitze, in der der Gestank des Todes hängt, ist es aufregend, ihnen zuzusehen.» Der Tod sei «besser als Viagra», lautet der letzte Satz des «Dunkelhaarigen in Kenneth Cole»: So kommt das Eros-Thanatos-Motiv auf den Hund. 
 

Gern übt sich Beigbeder in koketter Selbstkritik: Er klagt sich des Narzissmus an. Er sei karrieregeil und käuflich, liebes-unfähig und wehleidig, oberflächlich und «rassistisch gegen Hässliche» und wolle auch mit seinen Selbstanklagen nur Eindruck schinden. Alles richtig, doch dann liest man: «Im Weltcup des Zynismus bin ich ein heißer Anwärter aufs Siegertreppchen.» Schon dank dieses Satzes sicher nicht.

Vielmehr entpuppt er sich als Trittbrettfahrer des Grauens. «Die Hölle dauert eindreiviertel Stunden», hat Beigbeder berechnet: Soviel Zeit verging vom Einschlag des Flugzeuges im Nordturm bis zu dessen Kollaps. Auch der Roman dauere so lange – macht bei 350 Seiten ein Lesetempo von immerhin 200 Seiten pro Stunde. Diese Lektüreanweisung ist entscheidend. Denn nur wer so schnell liest, wird die Mängel dieses wichtigtuerischen Buches überlesen können.



Frédéric Beigbeder 
Windows on the World  Aus dem Französischen von Brigitte Große. Ullstein, München 2004. 351 S., 22 €

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