Wie gewaltig ist der Glaube? - Der Atheismus ist das wahre Christentum

Hat Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen? Entstand die Welt aus Liebe oder zum Ruhm ihres Schöpfers? Und was sollte das jeweils bedeuten? Eine Begegnung mit dem Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy

Ob er ein christlicher Philosoph sei? Jean-Luc Nancy lehnt sich zurück in seinem schwarzen Ledersessel, nimmt einen Schluck aus der kleinen Wasserflasche und lacht. Während seiner Studienzeit, Ende der fünfziger Jahre, habe man heftig über die Frage gestritten, ob es eine christliche Philosophie gebe, sagt er. Seine Meinung habe sich seit damals nicht geändert: «Wenn christlich sein – oder jüdisch oder muslimisch oder buddhistisch – die Unterwerfung des Denkens unter eine be­stimm­te Wahrheitsordnung bezeichnet, wenn christlich sein heißt: glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat und so weiter, dann muss ich sagen: Nein, man kann nicht sowohl gläubiger Christ als auch Philosoph sein. Das ist absolut unmöglich. Das Denken beginnt damit, jede Unterwerfung unter eine derartige Gegebenheit zu verweigern.»

Nancy lacht, aber abwegig findet er die Frage nicht. Er wird schon öfter für einen verkappten Gläubigen gehal­ten worden sein. «Ich hatte schon immer die ‹Religion› im Kopf – der Bezug der Vernunft zu ihrer eigenen Überschreitung ist seit langem mein größtes Interesse.» Soeben hat er ein gutes Dutzend Essays zum Christentum veröffentlicht, unter dem Titel «La Déclosion», einem Neologis­mus, der etwa Ent-Schließung oder Öffnung bedeutet. Aber auch andere Bücher Nancys sind von christlichen Motiven durchzogen. Mal lässt er sich vom päpstlichen Segensspruch «Urbi et Orbi» in einen Text leiten (in «Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung»), mal findet sich ein Kapitel zur Fleischwerdung (in «Corpus»), mal ein Kommentar zur Auferstehung (in «Noli me tangere»), und immer wieder dreht und wendet er den Begriff der «Schöpfung».

Schon als Kind war Nancy aktives Mitglied des «Mou­vement de jeunesse d’action catholique», einer linkskatholischen Jugendbewegung. Dominikaner und Jesuiten zählten zu den Erziehern, solide ausgebildete Theologen, die mit den Jungen intensive Bibelarbeit betrieben. «Ich war durchaus imprägniert von der christlichen Kultur. Aber alles, was mich damals in der Kirche interessierte, fiel zusammen mit sozialen und politischen Fragen. Als ich etwas über zwanzig war, bin ich aus der Kirche ausge­treten. Ich fand sie unnütz.»


Philosophieren aus dem Geiste des Jazz

Gläubiger Christ und selbständig denkender Philosoph sein, beides schließt einander aus, einerseits. Andererseits, sagt er – und inzwischen ist das Lachen einem freundlichen, pädagogischen Ernst gewichen –, könne man unter «christlicher Philosophie» ja auch die Arbeit am Christentum verstehen. Dann holt er aus:

«Was heißt zum Beispiel der Satz, dass Gott die Welt erschaffen hat? Nach guter christlicher Lehre hat
Gott die Welt ex nihilo geschaffen. Was aber soll das bedeuten: ex nihilo? Wenn es bedeuten soll, dass Gott fähig ist, aus dem Nichts etwas zu machen, bliebe man in der Ordnung der gewöhnlichen Produktion, man hätte eine Materie, der man eine Form gäbe. Wenn man das Nichts aber wirklich ernst nimmt, wenn da keine Materie ist, der man eine Form geben könnte, stößt man auf den Sinn: den Sinn der Existenz der Welt. Man könnte mit Wittgen­stein sagen: Die Schöpfung bedeutet, dass die Welt existiert. Und warum existiert die Welt? Schafft Gott die Welt aus Liebe? Oder zu seinem eigenen Ruhm? Und was sollte das jeweils heißen? Das ist zunächst keine philosophische Angelegenheit, aber es wird zu einer, wenn man Folgendes versteht: Dass die Welt für nichts existiert, ist verbunden mit der Frage nach einem Ziel, nach der Teleologie. Dies Existieren-für-nichts ist Kontingenz: Jeder von uns und jede Realität der Welt ist kontingent, das heißt, es gibt keine Notwendigkeit. Aber was ist der Sinn der Kontingenz ohne Notwendigkeit? Ich glaube, das sind Fragen, die nicht anders bearbeitet werden können als im Kontakt zwischen dem Theologischen und dem Philosophischen.»

Jean-Luc Nancy sitzt in seiner geräumigen Altbau­wohnung im Norden von Straßburg. Er nimmt sich Zeit, er ignoriert das Telefon, verlässt den Sessel nicht einmal, beinahe drei Stunden lang hört er nichts als die Fragen seines Gastes. Meist gibt er zwei Antworten zugleich – christliche Philosophie ist unmöglich und möglich –, Antworten, die selbst wieder Fragen aufwerfen, Fragen, die gelegentlich ein Problem vertiefen, dann wieder von einem zum nächsten driften, ohne aber das Anliegen seines Ge­genübers aus den Augen zu verlieren. Was er sagt, ist vollgesogen mit den Lektürefrüchten eines Philosophen­lebens, und doch begnügt er sich nicht damit, einfach zu wiederholen, was er schriftlich längst ausgearbeitet hat. Seine Ausführungen atmen den Geist einer Jazz-Improvisation: Mal ist die zugrunde liegende Struktur deutlicher, mal weniger deutlich zu erkennen, und manches Solo klingt ein wenig riskant.

Gegen Ende des Gesprächs wird er sagen: «In der Methode des Denkens, im Denken als Methode, gibt es nichts Wichtigeres als den Sprung. Im Allgemeinen wird die Methode, gemäß dem griechischen Sinn des Wortes, als Weg, als Parcours vorgestellt (außer wenn die Wege ‹Holzwege› werden, die nirgendwohin führen und sich im Wald verlieren). Aber der Sprung, das ist nicht der Sprung über irgendetwas, sondern der Sprung auf der Stelle, das heißt, er ist der Bezug auf das Inkommensurable. Man springt, wenn es kein gemeinsames Maß gibt. Man springt, weil man in Bezug zu demjenigen ist, mit dem es keinen Bezug gibt.» Das Ungedachte denken: hier sind – ob auf dem Holzweg oder auf dem Sprung – die Fußstapfen Martin Heideggers.


Freie Verbindung freier Menschen

Jean-Luc Nancy zählt zu den interessantesten Philosophen Frankreichs. 1940 geboren, ist er zehn, fünfzehn Jahre jünger als jene inzwischen verstorbenen Autoren, die man seinerzeit teils aus Begeisterung, teils aus Abscheu so eilig in eine Schublade mit dem Etikett «Postmoderne» gezwängt hat: Foucault, Derrida, Deleuze, Lyotard. Wenn heute manche witzeln, Nancy sei der «Stellvertreter Derridas auf Erden», so verbirgt sich hinter der Lästerei die Wahrheit, dass kein Autor Nancy spürbarer geprägt hat als Jacques Derrida – aber ebenso die Ignoranz für die Eigenständigkeit des Jüngeren. Wäh­rend Derrida in den siebziger, achtziger Jahren noch unter den Verdacht gestellt wurde, nichts als frivole philosophisch-literarische Spiele zu treiben, ließ Nancy nie Zweifel aufkommen am politischen Profil der Dekonstruktion.

Heute hat er mehr als zwanzig Mono­grafien geschrieben und ungezählte Artikel verfasst. In Frankreich, Italien oder Amerika ist er gern gesehener Vortragsgast, an Universitäten ebenso wie in künstlerischen Zusammenhängen. Auch nach Deutschland pflegt er enge Beziehungen. Schon Anfang der Achtziger verbrachte er eine längere Zeit in Berlin, und zuletzt begleitete er mit Texten und Seminaren die Arbeit am Frankfurter Schauspiel. Erstaunlich, dass die wenigs­ten seiner Bücher in deutscher Sprache erhältlich sind. Vor allem der kleine, ambitionierte Diaphanes Verlag macht sich um Nancys jüngere Bücher verdient.

Die Studie, die ihn weit über die Grenzen des Fachpublikums hinaus bekannt machte, «Die undarstellbare Gemeinschaft» (1982), ist der filigrane Versuch, Marx’ Idee von der «freien Assoziation freier Menschen», nach den blutigen Vergemeinschaftungs-Exzessen von Faschismus und Kommunismus, neuen Sinn abzugewinnen. Lässt man Nancys zentrale Themen Revue passieren, reiht sich ein philosophisches Großkonzept ans nächste; er hantiert mit Monumentalbegriffen, welche der orthodoxe Teil der Gemeinde Derridas, die doch das Randständige zum Kanon erhoben hat, meidet wie andere (man muss es so sagen) das Weihwasser: die Gemeinschaft, der Sinn, das Sein, die Welt… Und jetzt eben das Christentum.

Der Auszug aus der Religion

Zur Frage, ob Christentum und Philosophie zusammengehen, hat Jean-Luc Nancy während des Gesprächs noch eine dritte Assoziation. «Es gibt keine Philosophie, die nicht zuvor auch eine Theologie gewesen ist», sagt er, «selbst wenn es Theologie im Zeitalter von Gottes Tod sein mag.» Mit dieser Andeutung nähert er sich dem Themenkreis seines neuen Buches.

Es trägt den Untertitel «Dekonstruktion des Christentums». Der Genitiv funktioniert (wie etwa bei «Kritik der reinen Vernunft») in zwei Richtungen. Zum einen macht Nancy das Christentum zum Gegenstand der Dekonstruktion: Er untersucht es, indem er es verschiebt, entstellt oder kompliziert. Zum anderen aber beobachtet er eine dekonstruktive Bewegung, die das Christentum selbst vornimmt. Darin liegt die Eigenart seines Blicks: Nancy geht davon aus, dass das Christentum in seinen verschiedenen Ausprägungen – von Paulus und Johannes über Thomas von Aquin oder Meister Eckhart bis zu Luther, Calvin oder Kierkegaard – immer schon Elemente des Auszugs aus der Religion aufweist. «Meine Frage ist geleitet von diesem Motiv des Wesens des Christentums als Öffnung: Öffnung seiner selbst und es selbst als Öffnung.»

Die Essays, die «La Déclosion» versammelt, betreiben also keine konfrontative Religionskritik, wie sie etwa noch in Gilles Deleuze’ nietzscheanischen Attacken gegen den Terror der Johannes-Apokalypse oder gegen die Figur des Priester-Tyrannen anklingt. Nancy begreift Nietzsche, den protestantischen Pastorensohn, der einst den Tod Gottes verkündete, selbst als legitimen Erben der christlichen Tradition. Das Christentum, nach Nancy, ist auto-dekonstruktiv.

Eine der Thesen, die diesen Grundgedanken plausibel machen, besagt, dass das Christentum gottloser sei, als den Gläubigen lieb sein kann. Mehr noch: «Monotheis­mus ist in Wahrheit Atheismus.» Der kulturelle Schritt von der Vielgötterei zum Glauben an den einen Gott, so argumentiert Nancy, besteht nicht einfach darin, die Anzahl der Gottheiten zu reduzieren. Der entscheidende Schritt besteht im Entzug der Göttlichkeit: Die Götter des Polytheismus sind tatsächlich anwesend (etwa in der Natur), ihre Macht wirkt sich in der Welt aus (etwa in gutem oder schlechtem Wetter), ihre Gunst kann gemäß bestimm­ter Regeln gewonnen oder verloren werden. Anders der Gott des Judentums: «Seine ‹All›-Macht bedeutet, dass er über sie vollkommen nach seinem Belieben verfügt, dass er sie ebenso gut entziehen oder sich ganz zurückziehen kann und dass er vor allem der Einzige ist, der einen Bund mit dem Menschen schließen kann.»

Die Geburt Christi interpretiert Nancy als weitere Steigerung dieser Bewegung. Die Menschwerdung Gottes: der schiere Verzicht auf die göttliche Macht. Und so schließt er: «Der Monotheismus als Prinzip löst den Theismus auf, das heißt die Gegenwart der Macht, die die Welt zusammenfügt und ihren Sinn sicherstellt. Er macht daher den Namen ‹Gottes› absolut problematisch – er macht ihn bedeutungslos –, und vor allem entzieht er ihm alle Macht, für Sicherheiten zu sorgen.»

Daher verlangt das Christentum von seinen Anhängern letztlich den Glauben (foi) an eine Abwesenheit. Dies wiederum setzt den Gläubigen in unmittelbare Nähe zum Atheisten. «Das aber bedeutet auch, dass der Atheismus, der nunmehr das Abendland bestimmt und der dessen Art zu wissen und zu existieren innewohnt, selbst das realisierte Christentum ist.»


Eine philosophische Novelle

Es gibt noch eine weitere, vierte Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen Christentum und Philosophie mit Nancy zu thematisieren: Der Straßburger Denker betreibt Philosophie nicht als akademische Übung, sondern als Haltung, als Praxis, in der sich Arbeit und Leben immer wieder kreuzen.

Ende der achtziger Jahre wurde Jean-Luc Nancy schwer krank und musste sich einer Herztransplantation unterziehen. Nach der Operation, das Immunsystem war geschwächt, wuchs eine Krebsgeschwulst in seinem Körper. Es war nicht wahrscheinlich, dass er überleben würde. Jahre später verfasste Nancy ein schmales Büchlein mit dem Titel «Der Eindringling. Das fremde Herz». Man müsste diesen Band eine philosophische Novelle nennen: Zwar kann man nicht behaupten, dass furchtbare Krankengeschichten unerhörte Begebenheiten wären, aber Nancy bringt auf unerhörte Weise zusammen, was gewöhnlich unverbunden bleibt: persönliches Leiden, eigenes Denken, theoretische Figuren.

In den sechziger Jahren geisterte die «Auflösung des Ich» als Formel durch die französische Philosophie
– Nancy hat sie am eigenen Leib durchgemacht. Erst in der Krankheit: «Wenn mich mein eigenes Herz im Stich ließ – wie sehr und wie weit war es dann ‹mein› Herz, ‹mein eigenes› Organ?» Dann während der Phase der Erholung: «Ich bin die Krankheit und die Medizin, ich bin die kanzeröse Zelle und das verpflanzte Organ, ich bin die das Immunsystem schwächenden Kräfte und deren Palliative, ich bin die Enden der eisernen Fäden, die meinen Brustkorb zusammenhalten, und die Einspritz­öffnung, die für den Rest meines Lebens unterhalb meines Schlüsselbeins angebracht worden ist, so wie ich früher bereits die Schrauben in meiner Hüfte und die Platte in meinem After war. Ich verwandle mich in den Androiden der Science Fiction oder in einen Scheintoten, wie mein jüngster Sohn es einmal ausgedrückt hat.» In diesem Sinn sind wir, schreibt Nancy, tatsächlich der Beginn einer Mutation. «Der Mensch beginnt (stets wieder) damit, den Menschen unendlich zu übersteigen (nichts anderes bedeutet die Rede vom ‹Tod Gottes›, wie immer man sie auch deutet). Er wird zu dem, was er ist, zu dem schrecken­erregendsten und beunruhigendsten aller Techniker (…), zu dem, der des Ursprungs und des Endes mächtig ist.»

Jean-Luc Nancy hat seine Krankheit philosophisch bearbeitet, aber an diesem Nachmittag in Straßburg spielt sie kaum eine Rolle. Nur einmal, als er wieder aus der kleinen Plastikflasche trinkt, weist er, fast entschuldigend, da­rauf hin, dass mangelnder Speichelfluss eine der Folgen der Operation sei. Vor allem stellt er klar: Auch wenn er dem Tod nur knapp entronnen ist – ein «religiöses Gefühl» habe die Krankheit in ihm nicht erweckt. «Gott ist hier, überall, nirgendwo – er ist nicht und macht keinen Sinn», sagt er. Und wendet sich der nächsten Frage zu.

 

Bücher von und über Jean-Luc Nancy

Jean-Luc Nancy
La Déclosion (Déconstruction du christianisme, 1)
Editions Galilée, Paris 2005. 234 S., 30 €
Entzug der Göttlichkeit. Zur Dekonstruktion und Selbstüberschreitung des Christentums
Aus dem Französischen von Eric Hörl.
In: Lettre 59, IV/2002, S. 76–80
Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung
Aus dem Französischen von Anette Hoffmann.
Diaphanes, Berlin 2003. 152 S., 23,90 €
Der Eindringling. Das fremde Herz
Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann.
Merve, Berlin 2000. 60 S., 7,50 €
Corpus
Aus dem Französischen von Nils Hodyas und Timo Obergöker.
Diaphanes, Berlin 2003. 131 S., 18,90 €
singulär plural sein
Aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll.
Diaphanes, Berlin 2004. 174 S., 21,90 €
Ereignis der Liebe
Aus dem Französischen von Ulrike Oudée Dünkelsbühler.
In: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Transcript, Bielefeld 2003. 333 S., 26 €

Elisabeth Schweeger, Jean-Luc Nancy
Philosophische Salons. Frankfurter Dialoge I
Belleville, München 2004. 110 S., 15 €

Jacques Derrida
Le toucher, Jean-Luc Nancy
Editions Galilée, Paris 2000. 350 S., 39,90 €

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