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DocMovie GMBH/Aichholzer Film

„Das Radikal Böse“ - Ein Etikettenschwindel

Der Film „Das Radikal Böse“ will den Holocaust erklären, doch der Titel ist ein Etikettenschwindel. Die eigentliche Botschaft der Dokumentation kann man jedoch nicht oft genug wiederholen

Nils Heisterhagen

Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Ein Kino ist nicht unbedingt der Ort, an dem man erwartet, das Böse in seiner ganzen Gewalt zu sehen. In den Blockbustern steht meist von Beginn an fest, dass am Ende das Gute obsiegt. Das Böse erscheint oft sogar menschlich, quasi als momentane Verirrung. So mutiert zum Beispiel der junge Anakin Skywalker in den Star Wars Filmen eher durch äußere Verhältnisse beeinflusst langsam zum Bösen. Und am Ende verwandelt er sich doch wieder von einer diabolischen Maschine in einen Menschen, in dem er seinen Sohn Luke vor dem Imperator rettet. Skywalker steht auch für die Schwäche und Verführbarkeit des Menschen. So wie in Star Wars gerät das Böse in vielen Filmen zur Charakterisierung der menschlichen Unvollkommenheit.

Doch nun kommt ein Film in die Kinos, der andere Erwartungen weckt. „Das Radikal Böse“, so heißt der Film von Stefan Ruzowitzky, der den Zuschauern das Unfassbare des Bösen näherbringen will.

Die Kombination lässt den Zuschauer sofort an den Amoklauf von Aurora (Colorado, USA) denken, bei dem am 20. Juli 2012 in einem Kino bei der mitternächtlichen Premiere des dritten Films Christopher Nolans Batman-Reihe ein Amokläufer wild um sich feuerte und zwölf Menschen tötete und 70 verletzte. Das Böse trat in Gestalt von James Holmes zu Tage.

In Nolans zweitem Batman-Film sagt Alfred zu Bruce Wayne, der das Verhalten des Schurken, der sich Joker nennt, nicht versteht: „Einige Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen.“ Das radikal Böse ist also nicht rational erklärbar, es entzieht sich dem gesunden Menschenverstand. Es macht einfach keinen Sinn. Insofern sollte ein Film über das „radikal Böse“ aufklären, Licht ins Dunkel bringen.

[video:Trailer zu "Das radikal Böse"]

Der Film ist ein Wechselspiel aus Experteninterviews und Originalzitaten
 

Der Dokumentarfilm von Ruzowitzky versucht die Frage nach dem „radikal“ Bösen anhand systematischer Erschießungen von Juden durch deutsche Einsatzgruppen in Osteuropa zu beantworten. Und doch betreibt der Film, der Experten interviewt und die Täter in Originalzitaten aus Briefen, Tagebüchern sowie Gerichtsprozessen zu Wort kommen lässt, vor allem Etikettenschwindel.

Gleich im ersten Experteninterview des Films kommt Benjamin Ferencz zu Wort. Der Chefankläger im Einsatzgruppen-Prozess in Nürnberg aus den Jahren 1947/48 räumt auch gleich schon mal mit dem Mythos auf, dass die angeklagten Täter wilde Bestien seien. Vielmehr seien sie Durchschnittstypen. Es folgen noch viele andere Experten wie Militärpsychologen und Sozialpsychologen, die ebenso wie die Originalzitate nahe legen, dass Gruppendynamik, Konformitätsdrang, Befehlsgehorsam und die deutsche Propaganda die Gründe dafür seien, dass aus einfachen Familienvätern Killer wurden.

So weit, so bekannt ist diese Soziologisierung des Bösen. Man denke nur an die Philosophin Hannah Arendt, die vom Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem berichtete und von der „Banalität des Bösen“ sprach. Doch wer nun erwartet, dass der Film eine neue Perspektive einnimmt, wer erwartet, dass nun endlich darüber gesprochen wird, was das „radikal Böse“ eigentlich ist, der wird enttäuscht.

„Homo homini lupus”, schon im alten Rom gab es die Vorstellung, der Mensch sei dem anderen Menschen ein Wolf. Jemanden radikal böse zu nennen, bedeutet zu behaupten: der Mensch oder zumindest bestimmte Menschen seien von Natur aus böse. Heute wird diese philosophische Diskussion erweitert. Man fragt in neurobiologischer Hinsicht, ob das Gute und das Böse nicht beide angeboren sind. Neurowissenschaftler und Biologen versuchen zu belegen, dass eine bestimmte Konstitution des Gehirns oder die Gene über gut und böse entscheiden. Die Suche nach dem biologischen Grund des Bösen ist in vollem Gange.

Nur, diese neurowissenschaftliche Suche nach dem radikal Bösen wird in der Dokumentation überhaupt nicht beleuchtet. Dabei wäre es in der Tat möglich gewesen, von der These der bösen menschlichen Natur ausgehend, diese in Frage zustellen.

Warum soll das Böse natürlich sein?
 

Denn: Warum soll es so ausgemacht sein, dass das Böse von Natur aus existiert und stets radikal ist? Muss es dann nicht auch das radikal Gute geben? Liegt das Böse nicht vielleicht doch in der Handlung, die man auch durch bessere Erziehung, mehr Demokratie und weniger Gruppenzwänge verhindern könnte?

Wenn es aber keine Automatik des Bösen gibt, dann gibt es auch das radikal Böse nicht. Womit wir wieder bei Hannah Arendt wären.

In ihren Berichten über den Eichmann-Prozess bemerkte Arendt, dass der Mann, der überall nur als ein Monster gesehen wurde, eben nicht diabolisch wirke, sondern vielmehr wie ein unscheinbarer Bürokrat. Für die späte Arendt existiert kein böser Charakter, an dem man nichts mehr ändern kann. Für sie liegt das Böse somit nicht im Sein, sondern in der Tat. Und eine Tat kann der Mensch unterlassen. Er kann darüber nachdenken, ob sie richtig ist. Gerade jenes Nicht-Nachdenken, jener blinde Gehorsam, oder zumindest das Fehlen des Mutes der deutschen Soldaten aus ihren Zweifeln Taten folgen zu lassen, macht nach Arendt das Böse aus. Der Böse verfehle es, seine moralische Urteilskraft zu gebrauchen.

Der Film „Das Radikal Böse“ hat genau diese These der „Banalität des Bösen“ vertreten. Er hat erst gar nicht in Erwägung gezogen, dass ein Mensch von Natur aus böse sein kann. Über das „radikal Böse“ wurde nichts gesagt.

Warum verknüpfen die Autoren nicht eine Szene über einen Amokläufer wie Holmes und ein Interview mit einem Neurowissenschaftler? Warum sprechen sie nicht mit einem Biologen über Adolf Eichmann? Der Film von Stefan Ruzowitzky erweckt Erwartungen, die er nicht erfüllt. Er dokumentiert die These der „Banalität des Bösen“, nur sagt er es nicht. Experten werden zitiert, die das Böse soziopsychologisch begründen, und wie schon Hannah Arendt erklären: Demokratie hilft gegen das Böse.

Hoffnung ist der Anfang der Veränderung und Hoffnung strahlt der Film aus, trotz seiner Banalität
 

Hat man sich mit dem Etikettenschwindel abgefunden, dann vermittelt der Film von Stefan Ruzowitzky aber die alte Hoffnung auf ein Verschwinden des Bösen. Auch mehr als 40 Jahre nach dem Eichmann-Prozess ist dieser Glaube noch aktuell. Er wird vor allem durch jene verstärkt, die glauben, dass es dafür nur zu einem Demokratie-, Erziehungs- und Gerechtigkeitsfortschritt kommen muss. Sie glauben, dass das Böse banal ist. Und weil es banal ist, wird es eben auch klein und behebbar. Das Böse wird dadurch dem Unfassbaren entzogen, es wird handhabbar, bekämpfbar.

Doch gerade die These des „radikal Bösen“ meinte stets, dass das Böse im Sein liegt und nicht in der Tat. Gerade diese Diskussion, worin das Böse wirklich begründet ist – die zwar kaum beantwortbar ist – hat der Film gar nicht geführt. CSI und Criminal Minds bieten da mehr Anschauungsmaterial und Fragen über das „radikal Böse“ als Ruzowitzkys Film.

Heute, sieben Jahrzehnte nach Auschwitz, stellt sich aber vor allem auch die Frage nach dem Bösen in der Demokratie. Es stellt sich die Frage, ob Täter wie James Holmes von Natur aus böse sind oder die Gesellschaft an ihnen versagt hat. Die Frage nach dem Bösen entscheidet sich weiterhin an der Frage, ob das Böse verhindert werden kann, und wenn ja, wie. Ist es ein Gesellschaftsproblem, dann muss die humanistische Erziehung und soziale Gerechtigkeit verbessert werden, ist das Böse natürlich, hilft nur noch der biologische Eingriff. Diese Diskussion ist eine Diskussion für Gegenwart und Zukunft. Doch Ruzowitzkys Dokumentarfilm verweilt in der Vergangenheit und bleibt so selbst banal.

Das radikal Böse – Dokumentarfilm von Stefan Ruzowitzky, Kamera: Benedict Neuenfels, digital, 96 Min D/Ö 2013, startet bundesweit am 16.1.2014

 

 

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