Michel Hollebecq - Das Elend der Liebe

Die Zeit sprach von „fundamentalistischem Phallokratismus“, die FAZ von „aufdringlicher Schamlosigkeit“. Der neue Roman von Michel Houellebecq, „Die Möglichkeit einer Insel“, polarisiert. Auch der Schriftsteller Rainald Goetz hat ihn gelesen – enthusiasmiert.

„und ich bin dann immer inEntzücken und süßer Panik“
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Elohim wartet. Der Bus kommt nicht. Es ist ein herrlicher Morgen. Über dem Brachgelände an der Rennbahnstraße im Nordosten Berlins geht hinter hohen Pappeln und verrotteten Sportanlagen im nationalsozialistischen Brutalostyle die Spätsommersonne auf. Autos und Laster donnern an der verlassenen Bushaltestelle vorbei. Die Luft ist kühl und dunstig, wo die Sonne hinscheint, riecht es nach Laub. Die Spielothek gegenüber, im Parterre des Comfort Hotels einquartiert, entlässt zwei Kunden, sie kommen langsam auf die Haltestelle zu, gehen ratlos daran vorbei, ins Nirgendwo ihrer Bestimmung. Dort in der Ferne, von woher der Bus nicht kommt, sind die Zukünftigen vielleicht schon erschienen, von Michel Houellebecq in die Gegenwart der Menschen transportiert mit Hilfe der Worte seines neuen Romans. Vor denen er warnt, fürchten soll der Leser seine Worte. Aber warum? Morgens geht die Sonne auf, abends geht sie unter. Elohim lehnt jetzt am schwarz geschwungenen Eisengeländer der Weidendammbrücke im Zentrum Berlins. Hier ist die Welt dicht belebt von Passanten und schlendernden Touristen, die beim Bahnhof Friedrichstraße, von der schrägen Abendsonne sattfarbig beleuchtet, ein beinahe hochgestimmtes Gefühl feierabendlich vitaler Großstadtturbulenz erzeugen. Elohim raucht. Der Körper muss noch vernichtet werden, die Gedanken banalisiert. Handelt „Die Möglichkeit einer Insel“ auch von der Wirklichkeit dieser Welt? Wie verrottet ist die Welt eigentlich wirklich?
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Es macht auf jeden Fall eine sagenhaft gute Laune, Michel Houellebecqs neues Buch zu lesen. Sein materialistischer Fundamentalpessimismus wird in einer comichaft überzeichneten Heiterkeitserzählweise präsentiert. Die Handlung verläuft vorhersehbar simpel, abstrus und grotesk zugleich, vor allem auch spannend. Die Sprache der einzelnen Sätze ist klar und durchsichtig, von einer fröhlichen Uneitelkeit, der Stil insgesamt dabei abgründig und schwer dekodierbar, Neugier entsteht. Seine Philosophie ist im Kern platt und wahr, in den Konsequenzen Unsinn, der Aufruhr erzeugt und dazu agitiert, Gegenpositionen auf ihre Konsequenzen hin zu durcheilen. Man liest einen futuristischen Roman, fast ganz ohne fiktive Zukunftswissenschaft, inhaltlich und textformtechnisch eher eine historische Meditation über die Entstehung der christlichen Religion, aus mittelalterlicher Sicht. Und man liest den Lebensbericht einer Ich-Figur, die den Roman maximal nah an das Autor-Ich Michel Houellebecq bringt, voyeuristische Einblicke bietet und sich entzieht, so die Verstehensrecherche des Literarischen provokativ anspringen lässt. Und es ist ein pornographischer Roman, der von Sexualität handelt und deshalb auch in gut dosierter Häufigkeit von Ficken und Blasen berichtet, diese expliziten Stellen aber von einer fast kalauerhaft abgewichsten – ha, ha, würde hier bei Houellebecq stehen – Kargheit und Abgeklärtheit sind, die zugleich eine Tiefe des Animalischen spüren lassen, das zur Wahrheit der menschlichen Sexualität auch dazugehört.
An keiner Stelle des Buches wird irgendeiner dieser Widersprüche aufgelöst oder eindeutig entschieden, obwohl der Text selber seiner Tendenz zu offensiv stammtischmanierhafter Simplizität immer wieder gerne, grimmig und lustvoll folgt. Grelle Zugespitztheitssätze stehen da, um das von ihnen Gesagte zu behaupten und damit auch los zu sein, in Frage zu stellen oder direkt dem Hohngelächter auszusetzen. Es ist das Schicksal der Worte, in gedruckter Form zur Wahrheit zu wollen, von der Wahrheit nicht loszukommen und in Wahrheit verkrallt die Wirklichkeit und deren immer auch antisprachliche Dimension nie zu greifen zu kriegen. Und es ist eine Aufgabe der Literatur, diese Atombindungskräfte zwischen Wahrheit und Worten zur Explosion zu bringen, um dennoch so ausgerechnet aus Worten ein Kunstwerk von wirklichkeitsanaloger Qualität und Komplexität entstehen lassen zu können. Michel Houellebecq ist ein Meister dieser Kunst, und die Freude bei der Lektüre seines vierten Romans ist auch eine an seiner handwerklichen Meisterschaft. Die Könner-Romane der Amerikaner und Engländer, Franzen, McEwan, Roth, sind reaktionärer, ranziger Angeberstumpfsinn gegen diese Gegenwartsliteratur aus dem Herzen Europas. Allein die Art, wie komplett enthemmt Michel Houellebecq an seiner Zigarette saugt, zeigt einem Elohim alles: wie er im Geist lebt und denkt.
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Auf der Hinterseite des Bahnhofs Zoo drängen sich im Museum für Fotografie die Kunst- und Nachtlebenleute bei der Präsentation des neuen Buches „truth study center“ von Wolfgang Tillmans. In der Buchhandlung König werden auf eine Leinwand seine Fotos projiziert. Er beantwortet Fragen, signiert seine Bücher, und der Taschen-Verlag spendiert Brezeln und Kölsch. Dann stehen die Leute auf dem Gehweg vor dem Haus, trinken und plaudern. Es ist einer der letzten warmen Abende dieses Sommers. Der Härte des mit Worten Gesagten die Anmut und Melancholie der Bilder entgegenstellen: mögliche Poetologie.
Der Fokus von Houellebecqs Roman ist auf ein geistig kaum erreichbares Spezifikum der Realität gerichtet, auf den Körper. Er blickt zunächst vorbei am Gesellschaftlichen, durch das Menschliche hindurch auf die Basalfaktizität des körperlichen Lebens der säugetierischen Kreatur, die auch Mensch ist. Versuchsaufbau: Wenn man die exzessive Betonung des Körperlichen, wie sie alltäglich medial und real vorgeführt und zugleich verbal negiert wird, wirklich ernst nehmen würde, könnte man dann die Gesetze, die die Lebensgeschichten der Menschen bestimmen, eventuell besser verstehen? Erkennen, woran das Zusammenleben der Menschen krankt und ob Erlösung denkbar ist? Der Roman als wissenschaftliches Institut für Grundlagenforschung, an dem eine futuristische Spekulation experimentell getestet wird: Wie würde ein vom Körper befreites ewiges Leben ausschauen, individuell, für den einzelnen, und über eine lange Generationenfolge hinweg fürs Ganze der Menschheit? Aber zugleich kapituliert der Roman von Anfang an vor der grotesk hybriden Grundsätzlichkeit seiner eigenen Fragestellung, zerstört die eigene philosophische Ambition, um sich der anderen Seriosität der literarischen Wahrheitssuche zu unterstellen. Houellebecq ist ein von philosophischen Obsessionen getriebener Autor, aber klug genug, sich nicht wirklich selber für einen Philosophen zu halten. So radikalisiert er seine Gedanken über den Körper, tippt die Extreme an: Rassismus, Schönheit, Jugend, sexuelle Lust, die Macht des Stärkeren, Gewalt, und kommt in all dem zu Wahrheiten ultrareaktionärer Konsequenz. Entzieht sich dieser Konsequenz aber immer wieder ins Erzählerische, leichthin, offen, ins Bildgeführte seiner Szenen, Episoden und Visionen. Er ist fasziniert von der Vision menschenleerer, weiter Unendlichkeitslandschaften, abstrakter Formationen der Erde, wie er sie in seinem „Lanzarote“-Buch auch fotografisch dokumentiert hat.
Aber auch die alltägliche Szenizität seiner Erlebnisbeschreibung hat eine einleuchtende visuelle Plausibilität von soghafter Kraft. Immer sieht man als Leser seine Helden ihr Leben erleben, Bild für Bild, sichtbare Situationen und Stationen reihen sich aneinander, prägen den Eindruck, den man vom Ganzen der Geschichte des Romans hat. In diesen Szenen agieren seine Helden, sie reden und handeln, man wird nicht mit ausgedachtem Gedankengelabere, mit Innentextsuada der Figuren belästigt. Nicht was die Figuren denken, wird mitgeteilt, sondern Gedanken, die in jeweiligen Situationen möglich sind, also Denkbares, Philosophie, Objektivität. Beides entspricht sich und hält sich gegenseitig: das Geschaute und die Philosphie, das sinnlich Konkrete der Bilder und das philosophisch Spekulative der Ideen. Und weil Houellebecq auf die Beiläufigkeit und Alltäglichkeit seiner Sprache genauso viel Wert legt wie auf die mittlere Durchschnittlichkeit seiner Helden, entsteht ein zugleich traditioneller und hochmoderner Realo-Stil des Erzählens: der unprivilegierte Blick.
Schauen heißt auch Angst und Distanz, bedrohliche Körper im Raum. Die zu begehren, in pornographischer Obsession, Sehsinnbesessenheit, Dunkelkammer, die den Realexzess der Leiber will, personenfreien Sex. Und das Wegsein von Liebe, die geschlossenen Auges ahnen, tasten, fühlen könnte, soll sein. Der Anmut und Würde der Bilder auch die geballte Ordinärheit und Brutalität, den perversen Alltagsirrsinn auf den Straßen, entgegensetzen. Hinschauen, weggehen. Die Welt umarmen.
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Der Held des Buches, „Daniel“, ist erfolgreicher Komiker. Er schreibt einen Lebensbericht, mit dem er für die Nachwelt Zeugnis von sich selbst gibt. Seine öffentliche Karriere hat einen Punkt erreicht, der ihn mit Überdruss erfüllt. Er kann das Lachen seines Publikums nicht mehr ertragen. Bei einem Interview lernt er „Isabelle“ kennen, die Chefredakteurin der Frauenzeitschrift „Lolita“, und sie verlieben sich ineinander. Daniel dreht Pornofilme, Isabelle altert, verlässt Lolita. Nach drei Jahren heiraten sie und ziehen sich auf sein Anwesen im Süden Spaniens zurück. Er will keine Kinder, sie schafft einen Hund an, „Fox“, die Liebe geht kaputt. Über Fox lernen sie ein benachbartes Ehepaar kennen, deren Sohn Mitglied einer Sekte, der „Elohimiten“, ist. Daniel und Isabelle trennen sich, sie geht zurück zu ihrer alternden Mutter. Daniel wird als VIP zu einem Lehrgang der Sekte eingeladen. Einer der Elohimiten, „Vincent“, ist Künstler. Daniel trifft ihn in Paris, lernt Vincents Kunst kennen und versucht selber einen beruflichen Neuanfang als Schreiber zynisch radikaler Filmdrehbücher, scheitert aber. Daniel ist 47, ausgebrannt, am Ende.
Im zweiten Teil verliebt sich Daniel in die 22-jährige Schauspielerin „Esther“, auch Studentin der Philosophie. Sie besucht ihn in seiner Villa, er sie in Madrid. In der Sexualität mit ihr erlebt Daniel ein neues, bisher nicht gekanntes Glück. Er lernt die Liebe kennen, lebt im Paradies, für Wochen. Plötzlich merkt er, wie alt er ist, dass er ein alternder Mann ist, für Esther zu alt. Er fühlt die Schande des Alters, zerbricht daran. Beim Winterseminar der Elohimiten auf Lanzarote wird der Prophet ermordet. Vincent enthüllt, dass er der Sohn des Propheten ist. Nach drei Tagen erscheint er als Reinkarnation des Ermordeten, der erstmals geglückte Klon eines Menschen. Daniel wird zum Mitwisser dieses Gründungsmythos der Elohimiten. Er lässt sich seine DNA entnehmen und tritt so offiziell der elohimitischen Kirche bei. Die Wiederbegegnung mit Esther ist eine Katastrophe. Bei ihrer Geburtstagsparty macht sie Daniel, der sich in seiner Verzweiflung aufs lächerlichste vor ihr erniedrigt, endgültig fertig. Daniel fährt nach Biarritz, wo seine frühere Frau Isabelle lebt. Er kauft sich ein Notebook, um sein Leben aufzuschreiben. Nach dem Wiedersehen mit Isabelle zieht er wieder bei ihr ein, aber es ist zu spät, sie trennen sich ein zweites Mal. Isabelle bringt sich um, Daniel erbt den Hund. Er ist in Paris beim Ausbau der elohimitischen Kirche und ihrem beginnenden weltweiten Siegeszug dabei. Mit dem Schreiben seines Lebensberichts bereitet er sich auf seinen Selbstmord vor und verschwindet schließlich im Kommentar von „Daniel25“, der seinen Lebensbericht zwei Jahrtausende nach der Niederschrift lesende und kommentierende Klonnachfolger seiner Person.
4.2
Das Leben des Menschen ist wirr, aber es verläuft doch, zumindest in seinem äußerlichen Ablauf, auch der Chronologie der Tage und Jahre, der Logik der Zeit unterworfen. Es erzeugt eine naive, dabei tiefe Empathie, das Leben des Helden in dieser geraden Form, auf diese Temporalgerade hinfiktionalisiert, erzählt zu bekommen. Die Unerbittlichkeit des zeitlichen Ablaufs ist in sich tragisch, am Ende des Lebens von Daniel ist der Leser emotional so mitgenommen, ausgelaugt, zermalmt wie Daniel selbst.
Die Grundidee der elohimitischen Kirche ist ein geistiger Auftrag: Jeder Mensch muss das Leben seines Vorgängers studieren, seinen Lebensbericht lesen und kommentieren, sich so dessen Erfahrungen und Denken zu eigen machen und schließlich selbst einen Lebensbericht verfassen. Körperlich ist der Mensch durch die Realisierung der Klontechnologie unsterblich geworden, die geistige Erbschaft der Individualität aber kann er nur durch eine bewegend altertümliche Aktivität, durch lesenden Nachvollzug früherer Lebensgeschichten, für sich gewinnen.
Die Kommentare der Klonnachfolger von Daniel will man anfangs kaum zur Kenntnis nehmen. Alle paar Seiten unterbrechen sie die Erzählung der Lebensgeschichte von Daniel, nerven mit futuristisch religiösem Vokabular, technoidem Spinnkram und uninteressanten eigenen Minimalerlebnissen. Aber sie sind vergleichsweise kurz, und so merkt man bald, dass sie hier zunächst einmal eine erzähltechnisch rhythmisierende Funktion haben. Es macht den chronologisch gerade durcherzählten Lebensbericht besser lesbar und nachvollziehbarer, wenn er immer wieder unterbrochen und so, rein äußerlich, zu kleinen, szenisch kompakten Geschehniseinheiten zusammengestaucht wird. Der Vorgängerroman „Plattform“ hat mit der ununterbrochenen Geradlinigkeit der Erzählung experimentiert, auch um die komplizierte zeitverschachtelte Struktur der „Elementarteilchen“ zu überbieten. Was sich aber allzu widerstandslos liest, kann man nicht so gut behalten. Das hat die Intensität von „Plattform“ geschwächt. In „Die Möglichkeit einer Insel“ ist es gerade das regelmäßig eingespielte Störgeräusch der futuristischen Nebenerzählung, das die eigentliche Gegenwartsgeschichte von Daniels Leben umso deutlicher zur Wirkung bringt.
Der Kunstgriff ist simpel, effektiv und einleuchtend zugleich. Denn er ruft nebenher altvertraute Assoziationen aus der Tiefe der abendländischen Tradition auf. Schon allein die Art, wie Namen und Ziffern zu visuellen Einheiten kombiniert sind, lässt an die Bibel denken. Daniel24,2, Marie23, Esther1, Daniel1,28. Das klingt wie: 1. Korinther 13,4-8 oder Genesis 1,2. Über den Haupthelden des Buches Daniel erfahren wir im sonstigen Alten Testament nichts, meldet die Bibel. Das Buch Daniel gehört zu den prophetischen Büchern, das Buch Ester zu den geschichtlichen. Das Buch Houellebecq ist Literatur, das heißt Text, der sich auf Texte über die Welt bezieht, in einer Weise, die dem Menschen entspricht. „Isomorphe à l’homme, le roman devrait normalement pouvenir tout en contenir“, heißt es bei Houellebecq: Von gleicher Gestalt wie der Mensch, sollte der Roman normalerweise alles von ihm enthalten können.
Die hier gewählte Form einer fiktiven Autobiographie schließt das Buch außerdem mit allen anderen bisherigen Autobiographien und Lebenszeugnissen kurz, von Augustinus über Pascal zu Daniel Küblböck, vor allem aber natürlich mit Proust. Dessen innerer Unendlichkeit an Details und psychischer Letzterforschung wird hier ein Radikalismus des Banalen, Bekannten, zu Tode Gedroschenen, eine innerlich verwüstete Welt entgegengehalten. Was folgt aus dieser fast spielerisch eingenommenen Position der Untröstlichkeit?
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Im Ende war die Erde wüst und leer.
Auch diesen Kalauer der futuristischen Perspektive versagt sich Houellebecq nicht. Daniel ist schließlich Komiker gewesen. Das Kaputteste an platten Scherzen war seine Welt. Doch sein Spott, den das Publikum ihm mit vielen Millionen und einem ihn erdrückenden Ruhm entgolten hat, war in Wirklichkeit nicht einmal böse genug. Viel schlimmer, als darin vorhergesehen, hat sich die Menschheit in den unserer Gegenwart folgenden Jahrhunderten zugrunde gerichtet. Isolierte Neomenschen sitzen in absoluter Einsamkeit hinter ihren Computern, selten in abstraktem Funkkontakt mit ihresgleichen, treten kurz vor ihrem Tod in das Intermediärstadium ein und versterben. Um kurz darauf von einem genetisch identischen Nachfolge-Individuum ersetzt zu werden. Die einzelnen Anwesen der Neomenschen sind von einem Elektrozaun umgeben, vor der Wüste draußen so geschützt. Dort irren versprengte Horden von Wilden, auf dem Niveau eher von Affen als von frühen Menschen, durch eine von Dürre und Verringerung zerstörte Restwelt, von den Neomenschen dabei ohne jede Emotion beobachtet. Grausamkeit, Leid, Gewalt, ständiger Schmerz und primitivste Regeln sexueller Dominanz bestimmen das Leben dieser demnächst aussterbenden Wilden. Für die Zukunft ist von der Höchsten Schwester nach einer noch bevorstehenden Dritten Verringerung die Rückkehr der Feuchtigkeit und das Erscheinen der Zukünftigen angekündigt.
Jahrhunderte vergehen. Einzelne Neomenschen stellen ihre Existenz, die nur in physischer Gegenwart eines Hundes, sonst ohne jeden körperlichen Kontakt zu einem anderen neomenschlichen Wesen verläuft, ausschließlich der reinen Erkenntnis gewidmet, in Frage, widersetzen sich geistig ihrer Isolation, verlassen ihr schützendes Anwesen und ziehen zu Fuß über die verwüstete Erde Richtung Westen, auf der Suche nach ihresgleichen. Möglicherweise in der Gegend von Lanzarote soll sich eine neue Gemeinschaft von Neomenschen zusammengefunden haben, irgendwo in der Mitte der Zeit gebe es angeblich „die Möglichkeit einer Insel“. Der zweite Kommentator von Daniels Lebensbericht, „Daniel25“, ist ein solcher neomenschlicher Rebell. Er bedauert das jähe Ende seines Vorgängers. Ein Gedicht, das der noch kurz vor seinem Selbstmord für Esther geschrieben hat, veranlasst ihn, das Abenteuer zu wagen: Gemeinsam mit dem Hund Fox verlässt er seine geschützte Residenz und macht sich auf den Weg der Suche nach der hypothetischen neomenschlichen Gemeinschaft, ein Rückkehrversuch eigentlich zur früheren Menschheit. Der von ihm nachgelassene Kommentar, ein Epilog ohne Pointe, findet zwar das Meer, aber keine Antwort auf die Aporie des Daseins, keine neue Gemeinschaft, und läuft aus wie die Wellen des Wassers am Strand, in sanftem rosa Rauschen, unerlöst.
5.2
Aus der Körperlichkeit ausge-stoßen: der Intellektuelle, der Alte, der kranke, schwächliche, unschöne Mensch. Er sieht sich einer Welt von Gesunden gegenüber, die mit einer abenteuerlichen Lust ihre Körper öffentlich zur Schau stellen, einander zur Besichtigung darbieten, zur jederzeit möglichen gegenseitigen Benutzung im Sex. Der Ausgestoßene sieht das nur, kommt nicht in Frage als Partner in diesem Spiel, das Starke, Schöne, Große und Junge verbindet. Dass eine hochverfeinerte Spätkultur in ihrem Existenzkern, den gesellschaftlich genormten Bedingungen der Fortpflanzung, derartig zu archaischer Brutalität und Direktheit zurückkehrt, ist ein verstörendes Zeichen von finaler Kaputtheit und uranfänglicher Vitalität zugleich. Die Schwachen haben dann die Liebe erfunden. Sie sehnt sich nach Dauer, Zuneigung, Hingabe und Ausschließlichkeit, nach Bindung an den einen anderen Menschen, ungeteilt. Die bisher vorliegenden Zeugnisse belegen, dass dieser Lebensentwurf nicht gelingt. Seit Kinder nicht mehr automatisch Folge sexueller Vereinigung sind, ist der Verbindung von Mann und Frau in Liebe zusätzlich die materiale Selbstverständlichkeitsbasis entzogen. Glück der Freiheit, Einsamkeit, mönchische Existenzen mit geistlichem Schwerpunkt, exzessive Promiskuität, oder fern jeder sexuellen Aktivität vertrübende Singleexistenzen, Alltagsverwahrlosung dieser Einzeller, die massenhaft in den Großstädten leben, deren Körper nur noch für sie selbst da ist, für keinen anderen Körper mehr sonst. Die Gesellschaft experimentiert mit den Folgen der sexuellen Revolution erst seit knapp vierzig Jahren. Houellebecq hat sich zum Chronisten dieser öffentlichen Bedingungen für individuelles Unglück gemacht. In früheren Romanen war der fiktive Erlösungsfluchtpunkt: endloser Sex mit unendlich vielen Sexorganen. Diesmal probiert er es mit der Liebe. Das resultierende Desaster ist schlimmer als alle anderen davor. Am Ende steht auch hier der unausweichlich hergeleitete Bilanzsuizid. Die Wahrheit des heute lebenden Menschen kann nur die Selbstabschaffung sein.
Im Namen des Volkes, Urteil.
6
Glücklich ist die Zeit mit Anfang zwanzig. Schwer alles, was später kommt.
Elohim schwebt die Rolltreppe nach unten im Berliner Kaufhaus Lafayette. Hier glitzert die Welt im elektrischen Licht, es funkeln die Waren, das Essen, die Blumen, bunt lacht das Kaufhaus den Reichen und Alten, den Fetten und Satten entgegen, und sie strahlen zurück. Sie kommen hierher, um Geld auszugeben, sie wissen, was ihnen schmeckt und gefällt, die physische Lust der Sinne ist zusätzlich geistig belebt, kompliziert und potenziert, jeder Cent und jeder Euro, der hier in die Luft geschmissen wird, explodiert in Myriaden klitzekleiner Moleküle von Glück, das auf die Menschen von oben niedergeht, sanft. Sie heben die Gesichter. Die Zukunft ist ja schon da. Sie kennen die Namen von uralten Fischen, Krebsen und Muscheln, die für sie gezüchtet und gefangen, dann zubereitet worden sind zum Essen, da liegen sie tot auf den Tellern. Und die Menschen essen, sie reden und lachen, der ältere Herr am Stehtisch beim Käse hebt sein Glas Wein, die ihn begleitende ältere Dame, selbst ein Kröte von monumentalen Maßen, nickt ihm zu, von Lust erfüllt und Freude. Eine Ekelattacke, geruchssinngetriggert, durchjagt Elohims tieferes Hirn, im Cortex reagiert ein Gegengedanke sofort: falsch. Falsch ist es zu glauben, man wüsste, wie man sich all dem hier valide entziehen könnte, nur weil man es nicht versteht und selbst nicht teilnimmt daran. Die Düsternis von Houellebecqs Diagnose stößt jeden auf sich und seine ureigene individuelle Existenz zurück. Wissen wollen, was man selber denkt. Es gibt so viele Welten wie Menschen. Das sprachlich Gezeigte muss eitern vor Elend. Aber wo Leben vom Glück gestreift ist, steht auch nicht immer nur ein leises Kitschwort wie: Leben.
Da endet die Sinnenlustgrotte im Untergeschoss des Lafayette. In der Französischen Buchhandlung direkt daneben liegt Houellebecqs Buch im Original stapelweise neben der Kasse. Jedes einzelne Exemplar dieses Buches ist ein perfektes Objekt, das gegen alles, was in ihm gesagt wird, zugleich protestiert, sich selbst widerlegt. Elohim zahlt. Die Transaktion gelingt. Das Buch wird ihm gegeben. Thank You For Shopping With Us. Sehr gerne. Bald werden die Augen die Buchstaben abtasten, lesen.
Draußen ist es inzwischen fast schon dunkel geworden. Der Herbst kommt. Eine kleine asiatische Frau wird in Handschellen, mit auf den Rücken gefesselten Händen, von zwei Polizisten über die Straße zum Streifenwagen geführt. Sie hat ihr Gesicht nach hinten gedreht, fragend. Der Freie darf sein Rad aufsperren, er setzt sich darauf und radelt los. So radelte er hin.

Rainald Goetz, geboren 1954, Autor der Bücher „Irre“, „Krieg“, „Kontrolliert“, „Festung“ und „Heute Morgen“, lebt in Berlin

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