Kurz und Bündig - Danilo Kiš: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch

Der Buchmarkt war noch nie so schnelllebig. Vielen Titeln sieht man auf den ersten Blick an, dass sie entzückende Ramsch-Kandidaten sind. Aber auch wunderbare Bücher verschwinden von der Bildfläche. Eine Rückkehr gibt es selten, aber sie kommt vor. Der Hanser Verlag legt lobenswerterweise Danilo Kiš’ «Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch» wieder auf, das seit vielen Jahren vergriffen war.

Der Buchmarkt war noch nie so schnelllebig. Vielen Titeln sieht man auf den ersten Blick an, dass sie entzückende Ramsch-Kandidaten sind. Aber auch wunderbare Bücher verschwinden von der Bildfläche. Eine Rückkehr gibt es selten, aber sie kommt vor. Der Hanser Verlag legt lobenswerterweise Danilo Kiš’ «Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch» wieder auf, das seit vielen Jahren vergriffen war. Das Buch ist eine poetische Illustration des Diktums «Die Revolution frisst ihre Kinder», ein literarisches Denkmal für die Millionen Opfer des Stalinschen Totalitarismus, der, wie Joseph Brodsky in seinem Vorwort von 1980 festhielt, «eine Zerstörung von mythologischem Ausmaß» hinterließ. Als das Buch des 1935 geborenen Kiš 1976 in Jugoslawien erschien, entfachte es einen Skandal. Dem Autor wurde vorgeworfen, er habe die Erinnerungen von GULAG-Häftlingen geplündert, Schicksale abgekupfert bei Solschenizyn, Jewgenija Ginsburg, Nadeschda Mandelstam, Roy Medwedjew. In Wahrheit war Kiš’ Versuch, Stalins Tötungsmaschinerie auf seine Weise zu durchleuchten, nicht nur jugoslawischen National-Betonköpfen unbequem, sondern auch westlichen Polit-Idealisten, die sich schwer taten mit der Entzauberung des «historischen Fortschritts». Kiš verzwirnt Fakten und Fabeln zu kunstvoll schillernden «Sieben Kapiteln ein und derselben Geschichte». Das ist keine Enthüllungs- oder Dokumentations-Literatur, sondern eine hochliterarische, Tragödie und Witz, brutales Faktum und zarte Poesie verbindende Schilderung von sieben Lebenswegen, die tragisch enden in bitterem Unrecht, in gewaltsamem Tod. Erzählt werden die dramatischen Lebensläufe meist osteuropäischer, meist jüdischer Revolutionäre. Sie werden von der Tötungsmaschine erfasst, in der sie selber winzige Schräubchen sind, ohne es zu ahnen. Ein Exkurs ins Zeitalter der Inquisition zeigt das Schicksal David Baruch Neumanns, der, von fanatischen Christen zur Taufe gezwungen, 1337 an den Folterungen starb. Die tragische Wiederkehr des Ähnlichen ist Teil eines Verfahrens, das Kiš von Borges’ brillanten Verwirrspielen übernahm. Kiš, der 1989 in Paris starb, war ein ebensolcher Meister der Mystifikationen, dem es dennoch um die historische Wahrheit ging. Er war ein inspirierter Erfinder der Wirklichkeit. Detailreich, paradox und verblüffend konkret zeigt er auf, wie das Leben blutet. Aus seinen Prosa-Kunststücken steigt das Ungeheuerliche, das Grauen der Geschichte. Hanna, die junge Heldin in «Das Messer mit dem Griff aus Rosenholz», verbringt fünf Stunden im eiskalten Wasser eines Lokomotiv-Reservoirs und rezitiert Gedichte, «um sich den Geist zu stärken». Der Verräter Miksa, dessen Spezialität es ist, einem lebendigen Iltis das Fell abzuziehen, ersticht sie und wirft sie in den Fluss. Der irische Spanienkämpfer Gould Verschoyle endet 1945 in den Lagern von Karaganda. Nach einem Fluchtversuch wird sein steif gefrorener Körper an den Füßen aufgehängt und vor dem Lagereingang zur Schau gestellt – «zur Abschreckung jener, die vom Unmöglichen träumen». Von der Veränderung des Lebens träumten sie einst alle, ob sie Idealisten oder Mitläufer waren, Opfer oder Täter wurden. Auch den Revolutionär und Polit-Kommissar Boris Dawidowitsch Nowskij führt seine kurvenreiche Laufbahn ins Straflager von Norilsk. Er will im großen Terrorjahr 1937 aus der Hölle fliehen und springt, als Wolfshunde auf ihn gehetzt werden, in einen Kes- sel mit flüssiger Schlacke. «Die Wächter sehen ihn verschwinden und wie einen Rauchfaden wieder auftauchen – taub gegen jeden Befehl, unbeugsam, befreit von Wolfshunden, von Kälte und Hitze, von Strafe und Reue.» Der Weg in die Freiheit ist manchmal nur der Sprung ins Feuer. Und der scheinbar kühl distanzierte Erzähler hält lakonisch fest: «Er hinterließ einige Zigaretten und eine Zahnbürste.» Kiš’ geheimes Thema ist das geschundene, vergeudete Leben. Dem «Rauchfaden» dieser flüchtigen Existenzen setzt er ein funkelndes Prosa-Denkmal. Die Toten sind nicht mehr zum Leben zu erwecken, aber eine Art zweite Chance bekommen sie durch die Macht der Literatur gleichwohl. Genau wie dieses erstaunliche Buch.

 

Danilo Kiš
Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte
Aus dem Serbokroatischen von Ilma Rakusa. Mit einem Vorwort von Joseph Brodsky und einem Nachwort von Ilma Rakusa.
Hanser, München 2004. 192 S., 16,90 €

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