Chemnitz - Die moralische Mehrheit

Chemnitz hat die Spaltung der Gesellschaft in links und rechts weiter vorangetrieben. Das fördert radikalere Meinungen auf beiden Seiten: Rechte seien generell Nazis, Ausländer immer kriminell. Verantwortlich für diesen Zustand sind Politiker und Journalisten

Links oder rechts - Wer ist moralisch in der Mehrheit? / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Ernst lebt als Schriftsteller bei Hamburg. Sein jüngster Roman heißt „Mareks Liste“ (Leda-Verlag). Seine Romane „Im Spiegellabyrinth“ (Hallenberger-Media-Verlag, 2015) und „Dunkle Schatten“ (Pendragon, 2012) kreisen um Antisemitismus. 

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Wer Kriminalromane schreibt, nutzt politische Wirren normalerweise nur als dramaturgischen Subtext. Mitte der zwanziger Jahre schilderte Dashiell Hammett die Lichtverhältnisse in einem Zimmer mal als so düster „wie die Zukunft eines ehrlichen Politikers“. Hammett wusste, sobald Machthaber an höhere Moral appellieren, haben sie keine Lust mehr, sich beim Lügen Mühe zu geben. Für mich hat kluge Politik eine Menge mit Ethik zu tun, aber wenig mit der Art Gesinnungsethik, die Parteifunktionäre, Fernsehmoderatoren und Kolumnisten seit drei Jahren mobilisieren, um Gutgläubigen die Gehirne zu waschen. 

Aus genau diesem Grund gäbe ich auch einen lausigen politischen Journalisten ab. Wenn ich mich hier trotzdem damit beschäftige, so nur, weil die Realität den Rahmen meiner dystopischen Phantasie zu sprengen beginnt. Mein Humor geht aus. Seit der Nicht-Schließung der Grenzen im Herbst 2015 findet eine beispiellose kulturelle Transformation statt, gekoppelt an eine ähnlich monströse mediale Anstrengung diese klein zu reden. 

Medien versagen als Korrektiv

Journalisten, deren Aufgabe es wäre über die Folgen politischer Entscheidungen zu berichten, helfen den Machthabern, sie zu verschleiern. Eine Zensur findet nicht statt. Doch wer offen kritisiert, fliegt aus dem Diskurs. Viele Zuwanderer sind eben keine Kriegsflüchtlinge, wie die Medien dem Publikum einzureden versuchen, sondern Menschen, die auf ein besseres Leben bei Sozialleistungen ohne Gegenleistung hoffen. Die Regierung schleust sie durch ein völlig überfordertes Asylsystem, obwohl klar ist, dass sich nur ein Bruchteil der Ankommenden für Asyl qualifiziert und maximal ein Drittel von ihnen Anrecht auf subsidiären Schutz genießt. 

Diese Migrationsbewegung verändert das Land grundlegend. Neben Alltagsbelastungen und Kosten produziert sie massive soziale und kulturelle Verwerfungen.Trotz der steigenden Zahl einheimischer Opfer beharrt die Koalition auf einem vermeintlich übergeordneten, im Parlament nie ausgehandelten humanitären Imperativ. Wer den in Zweifel zieht, dem unterstellt sie Fremdenfeindlichkeit und verzerrte Wahrnehmung. Eigentlich wäre das die Stunde der freien Presse. Doch die Presse bleibt stumm. Vielleicht schämt sie sich für ihre euphorischen Artikel von vorgestern. Oder sie klammert sich nach wie vor daran. Jedenfalls versagt sie als Korrektiv. 

Auf den ersten Blick vernünftig

Ende August, 2018: Bei einem Stadtfest wird ein Deutscher erstochen, zwei weitere Männer wurden verletzt. Die Polizei führt zwei mutmaßliche Täter dem Haftrichter vor: einen Syrer und einen Iraker. Motive und Tathergang liegen im Dunkeln. Die SPD-Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, die Chemnitz zur Kulturhauptstadt machen möchte, bricht die Feier erst ab, als sich am Sonntag immer mehr Bürger spontan zu Protesten versammeln. Einige der Demonstranten skandieren rechtsradikale Parolen, beleidigen Polizisten und pöbeln ausländisch aussehende Menschen an. Tags darauf sagt Ludwig, sie sei „entsetzt“, dass „ein Gewaltdelikt zum Anlass genommen“ werde, „um sich an die Regeln des Rechtsstaat nicht mehr zu halten, sondern Selbstjustiz zu versuchen.“

Regierungssprecher Steffen Seibert erklärt etwas kohärenter: „Was wir wissen, ist, dass in Chemnitz in der Nacht Samstag auf Sonntag ein Mensch getötet worden ist. Und das ist schrecklich. Und das wird von der Polizei mit allem Einsatz aufgeklärt werden, damit der oder die Tatverdächtigen der Justiz zugeführt werden kann. So und nicht anders geht man in einem Rechtsstaat mit Straftaten um. Was gestern in Chemnitz stellenweise zu sehen war und was ja auch in Videos festgehalten wurde, das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Also, es ist wichtig für die Bundesregierung wie für alle demokratischen Politiker, wie auch, denke ich, für die große Mehrheit der Bevölkerung, klar zu sagen, solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin. Das hat bei uns in unseren Städten keinen Platz, und das kann ich für die Bundesregierung sagen, dass wir das auf das Schärfste verurteilen.“

Beide Statements klingen vernünftig, aber so, als rotteten sich laufend ausländerfeindliche Mobs zusammen. Doch das passiert eher selten. Umgekehrt sind Attacken von „Schutzsuchenden“ auf Deutsche relativ häufig. Keine Woche vor Chemnitz erstach ein 26-jähriger Somalier einen Arzt in dessen Offenburger Praxis. 

Nicht alle Migranten begehen Straftaten

Laut Lagebild des Bundeskriminalamtes zur "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" wurden 2017 rund 40.000 Menschen der Bundesrepublik Opfer von Straftaten durch Asylbewerber, fast sechsmal öfter als umgekehrt, obwohl es deutlich weniger Schutzsuchende als Deutsche gibt. Die Masse der „Geflüchteten“ sind junge Männer. Junge Männer entwickeln generell mehr kriminelle Energie als Kleinkinder oder Greise. Dennoch ist die kriminelle Quote Schutzsuchender signifikant höher als die Vergleichszahl unter Einheimischen, wobei die Masse der Straftaten auf Intensivtäter zurückgeht. 

Kriminelles Verhalten wird durch soziale, individuelle und äußere Faktoren befördert. Dass Kriegserfahrungen, fehlende soziale Kontrolle und Fremdheit Hemmschwellen eher senken, liegt auf der Hand. Gesellt sich dazu ein Justizsystem, das potenziellen Delinquenten lächerlich milde erscheint, erstaunt eigentlich eher, wie viele sich trotzdem an die Regeln halten. Der Kreis derer, die laufend Straftaten begehen, ist relativ klein. Diese Menschen sind der Polizei in der Regel längst bekannt, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten. Es wäre für die Behörden leicht sie zu isolieren. Das hätte erzieherische Effekte. Es stärkte das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Die Summe der Straftaten sänke signifikant, was wiederum dem verheerenden Eindruck entgegenwirkte, Asylbewerber seien krimineller als Einheimische und könnten sich „alles herausnehmen“.

Denn natürlich neigt die Bevölkerung dazu, sämtliche Fremden für die Angriffe einiger weniger verantwortlich zu machen. Im Zweifelsfall auch all jene, die bloß wie frisch Zugewanderte aussehen. Durch sein Nicht-Handeln stiftet der Staat Ressentiments gegen „Ausländer“ im Allgemeinen. Exzessive Nachsicht befördert weder Gesetzestreue noch Akzeptanz. Die statistisch belegten 110 Straftaten pro Tag sprechen sich herum, reisen durch soziale Netzwerke und werden aufgeblasen. Sie vermitteln das Gefühl, Polizei und Justiz hätten die Sache nicht mehr im Griff. Der Staat genießt ein Gewaltmonopol, weil er den Bürgern im Gegenzug Integrität und Unversehrtheit garantiert. Versagt er ihnen diesen Schutz, untergräbt er seine Legitimität und lädt zu Selbstjustiz ein.

Zerfall staatlicher Autorität

Ignorieren die Machthabenden den Leidensdruck der Bürger, erzeugen sie nur mehr „Druck im Kessel“. Das beschwört eine Situation herauf, in der eine von Haus aus eher gutartige Bevölkerung „Geflüchtete“ generell als Bedrohung sieht. Am Ende richtet sich ihre Wut gegen alle Fremden.

Die Chemnitzer, die spontan auf die Straße gegangen sind und die erbarmungslose Feierlaune ihrer sozialdemokratischen Bürgermeisterin haben platzen lassen, fühlten sich hilflos. Zu dieser Hilflosigkeit verdammten sie selbstgefällige Politiker, denen nichts Besseres einfiel, als sie sofort unter Generalverdacht zu stellen. Statt ihr eigenes Versagen zu begreifen, einzugestehen, zu handeln und gegenzusteuern. 

Angela Merkel nimmt den rapiden Zerfall staatlicher Autorität in Kauf. Solange es ihre Macht festigt, bemüht sie lieber braune Buhmänner. Die halten die Öffentlichkeit auf Trab und lenken vom Eigentlichen ab. So kann sie jederzeit das Symptom zur Ursache erklären. Schon ist in Talkshows von den „Anständigen“ die Rede, die sich nicht mit den Oppositionellen gemein machen dürften. 

Brot und Spiele

In Chemnitz gab es derweil ein Gratis-Konzert mit diversen Punk-Bands und 65.000 Zuschauern, zu dem der Bundespräsident persönlich einlud. Die Veranstaltung trug das Motto #wirsindmehr. Unter anderen trat dort der Rapper Maxim von der Gruppe K.I.Z. auf, der der ehemaligen Nachrichtensprecherin Eva Herman in einem Songtext androhte, es ihr „von hinten wie ein Staffelläufer“ zu „geben“ und sie „grün und blau zu ficken“.

Abgesehen davon erinnerte das Konzert ans „Festival des politischen Liedes“: Brot und Spiele, die den schönen Schein einer bunten Welt suggerieren, hinter deren Fassaden längst das Grauen tobt. Letztlich bediente der Spaß wieder nur die moralische Masturbationsgier all derer, die sich gern per Mausklick auf die Seite der vermeintlich Guten schlagen. Die Lyrik des Rappers Maxim ist genauso menschenfreundlich wie das Gekreische von Nazis. Doch #wirsindmehr genießt die Unterstützung des Bundespräsidenten, der theoretisch Präsident aller Bürger ist.

Das Gefühl, zur moralischen Mehrheit zu gehören, mag erhebend sein. Doch es ist Heuchelei. Sicher, Oppositionelle werden bei uns nicht eingesperrt. Aber man darf sie öffentlich als „Nazischweine“ diffamieren, ihnen androhen, sie grün und blau zu ficken. Mit einer reflektierten „Zivilgesellschaft“, politischer Kultur und Respekt vor der Maxime Rosa Luxemburgs, nach der Freiheit immer die Freiheit Andersdenkender ist, hat das alles jedoch nichts mehr zu tun.

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