schreiben: Der Text - Airport

Im Januar legte ein Geschäftsmann den Betrieb des Münchner Flughafens lahm, nachdem sein Laptop bei der elektroni­schen Kontrolle einen Sprengstoffalarm ausgelöst hatte, er selbst aber nichtsahnend zu seinem Flugzeug gehastet war. An Flughäfen passiert beinahe nie irgendetwas, und dennoch ist der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt. Nervlich angespannt kehren Angestellte und Reisende ihr Inneres nach außen, auch ohne von einem Scanner durchleuchtet zu werden. Eine Aufgabe für Alain de Botton: Als writer in residence lebte der Schriftsteller eine Woche lang im Terminal 5 des Londoner Flughafens Heathrow. Dort beobachtete er das Geschehen und sinnierte über die Daseinsform des Transit-Menschen. „Literaturen” präsentiert erstmals einen Auszug seiner demnächst als Buch erscheinenden Reportage

Die Schlange vor der Sicherheitskontrolle war so beeindruckend wie immer. Mehrere hundert Leute hatten sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße, mit dem Gedanken abgefunden, in den nächsten zwanzig Minuten ihres Lebens nichts anderes zu tun zu haben als zu warten. Der Durchgang ganz links war mit Jim am Scanner besetzt, Nina an der Handtaschenkontrolle und Balanchandra am Metalldetektor. Sie alle hatten einen anstrengenden, einjährigen Kurs mitgemacht, der ihnen in erster Linie beibringen sollte, wie man jeden Menschen so ansieht, als wollte er oder sie ein Flugzeug in die Luft sprengen – eine tiefgreifende Verkehrung des uns vertrauteren Impulses, bei neuen Bekannten erst einmal nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Das Team war angewiesen worden, sämtliche vorgefassten Ansichten über das mögliche Aussehen des Feindes zu vergessen, da er ebenso gut die Sechsjährige sein konnte, in der einen Hand ein Trinktütchen Apfelsaft, an der anderen ihre Mutter, wie auch das zerbrechliche Großmütterchen, das zu einer Beerdigung nach Zürich flog. Verdächtige, die bis zum Beweis ihrer Unschuld für schuldig gehalten wurden, forderten sie folglich in unmissverständlichem Ton auf, von ihrem Handgepäck beiseite zu treten und sich aufrecht an die Wand zu stellen.

Wie die Verfasser von Kriminalromanen wurde das Sicher­heitspersonal dafür bezahlt, sich den Alltag ein wenig ereignisreicher vorzustellen, als er es gemeinhin ist. Die Notwendigkeit, in jedem Augenblick ihrer Arbeit wachsam auf eine höchst unwahrscheinliche Möglichkeit vorbereitet zu sein, auf einen Vorfall, wie er in ihrem Metier weltweit vielleicht nur ein einziges Mal in einem Jahrzehnt vorkommt – und dann vermutlich in Larnaka oder Baku –, setzte sie auf eine Weise unter Druck, die ihnen mein Mitgefühl sicherte. Sie waren wie Mitglieder einer evangelikalen Sekte, die in einem Land lebten, in dem es keine entsprechenden biblischen Präzedenzfälle gab, sagen wir in Belgien oder in Neuseeland, deren Glauben jedoch tagtäglich die Erwartung in ihnen weckte, dass der Messias irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe wiederkehren würde, eine Annahme, die selbst um drei Uhr nachmittags an einem Mittwoch in einem Vorort von Liège nicht in Frage gestellt werden durfte. Wie neidisch mussten sie auf die vielen gewöhnlichen Polizisten sein, die trotz unfreundlicher Arbeitszeiten und ermüdender Streifen­­gänge wenigstens erwarten durften, in gewisser Regelmäßigkeit eben jenen Leuten zu begegnen, auf die man sie entsprechend vorbereitet hatte.

Mein Mitgefühl für die Sicherheitsbeamten wuchs noch, wenn ich daran dachte, wie sehr sie ihre Neugier hinsichtlich der zu durchsuchenden Zielpersonen zu zügeln hatten. Obwohl sie ungehindert in jedes Make-up-Köfferchen einer Reisenden, in ihre Tagebücher oder Fotoalben sehen durften, war es ihnen doch nur erlaubt, einzig Hinweisen auf möglicherweise vorhandenen Sprengstoff oder auf Mordwaffen nachzugehen. Folglich war es ihnen also auch nicht gestattet, einen Passagier zu fragen, für wen das hübsch eingepackte Päckchen mit Unterwäsche war, noch durften sie sich anmerken lassen, wie verführerisch der Gedanke manchmal sein konnte, auf der Suche nach einer halbautomatischen Pistole über die hinteren Hosen­taschen einer tief hängenden Jeans zu streichen. Der Zwang zu ständiger Wachsamkeit setzte das Team dermaßen unter Druck, dass sie häufiger als andere Angestellte eine Pause einlegen durften. Jede Stunde zogen sie sich in einen Raum zurück, in dem Getränkeautomaten standen, zerschlissene Sessel, und an dessen Wänden Bilder der gesuchtesten Terroristen der Welt hingen, eine Reihe griesgrämig aussehender Prophetengestalten mit langen Bärten und unergründlichem Blick, die sich angeblich in irgendwelchen Berghöhlen versteckten und wohl nur höchst ungern bereit gewesen wären, zum Terminal 5 zu kommen.

In diesem Raum lernte ich zwei Frauen kennen, die auf mich den Eindruck von Studentinnen im Praktikum machten. Als ich sie in der Hoffnung anlächelte, sie würden sich dann vielleicht nicht ganz so fremd fühlen, erwiderten sie meinen Gruß und stellten sich vor. Sie waren die zwei höchstrangigen Sicher­heitsbeamtinnen im gesamten Gebäudekomplex und für die Ausbildung des Sicherheitspersonals im Terminal 5 verantwortlich. Regelmäßig brachten Rachel und Simone den einzelnen Teams bei, wie man Terroristen entwaffnete und welche Position man einnehmen musste, wenn eine Handgranate geworfen wurde. Ausgewählten Angestellten erteilten sie zudem grundlegenden Unterricht im Gebrauch halbautomatischer Waffen. Rachels und Simones leidenschaftliches Interesse für die Terrorismusbekämpfung schien alle Aspekte ihres Lebens zu prägen: In der knappen Freizeit lasen sie, was immer sie an Literatur zu dem Thema auftreiben konnten. Rachel war eine Spezialistin der Operation Entebbe im Jahre 1976, Simone eine Autorität für den Fall des Jordaniers Nezar Hindawi, der seiner schwangeren Freundin eine mit Semtex gefüllte Tasche gegeben und sie überredet hatte, eine Maschine der El-Al nach Tel Aviv zu besteigen. Obwohl der Anschlag vereitelt werden konnte, hatte er, wie Simone mir erklärte (womit sie unwissentlich meine naive Annahme zunichte machte, dass sich bei gewissen Passagieren eine Kontrolle nun wirklich nicht lohne), auf der ganzen Welt für immer den Blick der Sicherheitsbeamten verändert, mit dem sie schwangere Frauen, kleine Kinder oder freundliche Großmütter musterten.

Wenn viele Passagiere auf Befragung und Kontrolle besorgt oder verärgert reagieren, dann deshalb, weil derlei Durchsuchun­gen zumindest auf unbewusster Ebene wie eine Anklage wirken und eine bereits vorhandene Neigung zu Schuldgefühlen noch verstärken können. Die lange Warterei vor einem Flughafenscanner mag in manch einem von uns die Frage aufkommen lassen, ob wir das Haus nicht vielleicht doch mit einem Sprengsatz im Koffer verlassen oder unwissentlich einen monate­langen Terroristentrainingskurs absolviert haben. In ihrem Buch «Neid und Dankbarkeit» (1957) führte die Psychoanalytikerin Melanie Klein diese verborgenen Schuldgefühle auf das dem Menschen angeborene ödipale Verlangen zurück, den jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteil ermorden zu wollen. Diese Schuldgefühle können im Erwachsenenalter so stark werden, dass man gleichsam zwanghaft gegenüber Behördenträgern ein falsches Schuldbekenntnis ablegen oder gar ein echtes Verbrechen begehen möchte, um auf diese Weise wenigstens ein gewisses Maß an Entlastung von dem sonst überstarken Gefühl zu bekommen, man habe etwas falsch gemacht.

Einen Vorteil hat das reibungslose Passieren der Sicherheitskontrolle immerhin, zumindest für jene von uns, die (wie ich) in solchen Fällen von einem unbestimmten Schuldgefühl geplagt werden. Schafft man es ohne Piepen und Abtasten durch die Detektoren, betritt man den Sicherheitsbereich des Terminals mit einem Gefühl, wie man es sonst vielleicht nur noch von jenen Momenten kennt, an denen man nach der Beichte aus der Kirche oder an Jom Kippur aus der Synagoge kam – für den Augenblick erlöst und frei von der Last aller Sünden.

Auf der anderen Seite der Sicherheitskontrollen gab es allerhand einzukaufen. Über zweihundert Einzelhandelsgeschäfte buhlten um die Aufmerksamkeit der Reisenden – weit mehr also, als man gemeinhin in einem gewöhnlichen Einkaufszentrum findet. Diese Zahl löst regelmäßig Klagen bei Kritikern aus, die sich darüber beschweren, dass Terminal 5 eher einem Großmarkt als einem Flughafen gleicht, obwohl kaum nachzuvollziehen ist, was daran falsch sein soll, welche entscheidenden Aspekte der aeronautischen Identität dieses Gebäudes vernach­lässigt oder um welches Vergnügen die Passagiere denn angesichts der Tatsache gebracht werden, dass wir selbst dann Einkaufszentren aufsuchen, wenn sie uns nicht den zusätzlichen Vorteil eines Zugangs zum Flugsteig nach Johannesburg bieten.

Gleich zu Beginn des zentralen Einkaufsbereichs findet man einen Wechselschalter. Angesichts der uns regelmäßig suggerierten Vorstellung, wir lebten in einer bunten, weiten Welt, entlockte uns der Gedanke an einen Wechselschalter wohl nur ein müdes Kopfnicken, stünden wir nicht tatsächlich hinten in einem Bureau de Change, an der Rückwand Reihen mit aberhundert Tresorfächern, von denen das eine womöglich einen ordentlichen Stapel uruguayischer Pesos enthält, ein anderes turkmenische Manats oder malawische Kwachas. Auch wenn finan­zielle Transaktionen an den Handelstischen der Londoner Börse mit frappanter elektronischer Geschwindigkeit abgewickelt werden, entsteht durch den direkten physischen Kontakt mit dicken Notenbündeln doch eine ganz andere Art von Unmittelbarkeit, ein lebhafter Eindruck nämlich vom bunten Gemisch der Menschen. Diese mit Farben und Schrifttypen aller Art bedruckten Noten zieren Bilder von bedeutenden Persönlichkeiten, von Diktatoren und Gründungsvätern, aber auch von Bana­nenbäumen und Kobolden. Viele sind vom häufigen Gebrauch abgegriffen und zerknittert. Mit ihrer Hilfe wurden Kamele im Jemen oder Sattel in Peru gekauft, sie haben in den Brieftaschen älterer Friseure in Nepal gesteckt oder unter den Kissen eines Schuljungen aus Moldawien gelegen. Ein zerfledderter Fünfzig-Kina-Schein aus Papua Neuguinea (auf der Rückseite ein Paradiesvogel, vorn Premierminister Michael Somare) lässt kaum noch die Abfolge jener Transaktionen erahnen (von Obst zu Schuhen, Waffen zu Spielzeug), die mit der Ankunft in Heathrow ihr vorläufiges Ende gefunden haben.

Gleich gegenüber vom Wechselschalter war der größte Buchladen des Terminals. Den defensiven Behauptungen des Autors über die kommerziellen Aussichten des Buchhandels zum Trotz, stiegen hier die Verkaufsziffern steil in die Höhe. Wer zwei Bücher kauft, kann ein drittes umsonst mitnehmen; wer sich vier leistet, hat Anspruch auf ein Glas Sekt. Die Rede vom Tod der Literatur ist eindeutig übertrieben. Während auf den Webseiten der Partnervermittlungen Bücherliebhaber gewöhnlich nur in eine einzige Kategorie fallen, verrät die breite Angebotsauswahl bei WH Smith allerhand über die vielfältigen Motive der Leser, die sie zu einem Buch greifen lassen. Wollte man allerdings von der Vielzahl der blutbefleckten Einbände einen entsprechenden Rückschluss ziehen, müsste der wohl lauten, dass es bei Fluggästen querbeet ein starkes Verlangen danach gibt, sich Angst machen zu lassen. Hoch über der Erde gelüstet es sie nach der panischen Furcht davor, ermordet zu werden und dabei ihre eher profane Angst um den Erfolg einer Konferenz in Salzburg oder vor jenen Herausforderungen zu vergessen, die es womöglich vor dem ersten Sex mit einem neuen Partner in Antigua zu bewältigen galt.

Ich unterhielt mich mit Manishankar, dem Geschäftsführer; er arbeitete hier seit Eröffnung des Terminals. Mit der exzessiven Detailfreude eines Menschen, der eine einsame Woche auf dem Flughafen verbrachte, erklärte ich ihm, dass ich nach jener Art Büchern suchte, in denen eine freundliche Stimme Gefühle zum Ausdruck brachte, die der Leser längst kannte, aber noch nie recht verstanden hatte, Gefühle, die ihm jene mysteriösen, alltäglichen Dinge nahe brachte, die unsere Gesell­schaft als Ganzes gern verschweigt, Gefühle, bei denen man sich irgendwie nicht mehr so allein und fremd fühlte.

Manishankar fragte mich, ob ich eine Zeitschrift wünschte. Daran herrschte kein Mangel; gleich mehrere beschäftigten sich im Leitartikel mit der Frage, wie es gelingen konnte, mit über vierzig Jahren noch gut auszusehen und enthielten wohlmeinende Ratschläge, die allerdings auf der Annahme basierten, dass man mit neununddreißig Jahren (dem Alter des Autors) noch ganz passabel ausgesehen hat. Auf einem benachbarten Regal fand sich eine Sammlung klassischer Romane, die nicht nach Autorenname oder Titel, sondern nach dem Land sortiert waren, in dem die jeweilige Geschichte spielte. Zu Milan Kundera wurde so als Wegführer für Prag geraten, und von Raymond Carver nahm man an, dass er den verborgenen Charakter der Kleinstädte zwischen Los Angeles und Santa Fé offenbare. Oscar Wilde meinte einst, London sei nebliger geworden, seit James Whistler zu malen begonnen hatte, und man fragte sich, ob die stille Trostlosigkeit einsamer Städte im amerikanischen Westen nicht auf ähnliche Weise erst durch Carvers Schreiben so offensichtlich geworden war.

Jeder versierte Schriftsteller rückt auffällige Aspekte seiner Erfahrungswelt in den Vordergrund, Einzelheiten, die ansonsten in der unsere Sinne beständig umspülenden Datenflut unterzugehen drohen – und veranlasst uns auf diese Weise, das derart Beschriebene in der Welt um uns wahrzunehmen und zu würdigen. Literarische Werke könnte man in diesem Zusammenhang für äußerst subtile Instrumente halten, durch die in Heathrow aufbrechende Reisende gedrängt werden, ihre Aufmerksamkeit auf die Konformität und Korruption der Kölner Gesellschaft zu lenken (Heinrich Böll), auf die verhaltene Erotik des ländlichen Italien (Italo Svevo) oder auf die Melancholie von Tokios U-Bahnen (Kenzaburo Oe).

Erst nachdem ich mich mehrere Tage lang wiederholt in den Flughafengeschäften umgesehen hatte, begann ich zu ahnen, was jene Kritiker gemeint haben könnten, die sich über die Allmacht des Konsums beklagten. Dabei schien es im Wesentlichen um ein Missverhältnis zwischen dem Fliegen und dem Einkaufen zu gehen, das in gewisser Weise mit dem Wunsch zusammenhing, im Angesicht des Todes eine gewisse Würde wahren zu wollen. Trotz der vielen, im Lauf der letzten Jahrzehnte erzielten Erfolge auf dem Gebiet der Luftfahrttechnik ist die Zeit vor dem Betreten eines Flugzeugs statistisch gesehen immer noch eher das Vorspiel zu einer Katastrophe als ein daheim in Ruhe vor dem Fernseher verbrachter Abend. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir die letzten Momente vor unserem Ende am besten verbringen, in welcher Geistesverfassung wir zur Erde hinabstürzen möchten – und ob wir wirklich umgeben von Duty-Free-Taschen in die Ewigkeit eingehen wollen. Wer die Allgegenwart der Läden beklagt, will vielleicht nur anregen, dass wir uns lieber auf das Ende vorbereiten sollten.

In der «Blink Beauty Bar» erschloss sich mir erneut die Bedeutung des religiösen Appells an die Ernsthaftigkeit, wie er in Bachs Kantate 106 Worte findet:

Bestelle dein Haus,
Denn du wirst sterben
Und nicht lebendig bleiben.

Obwohl es längst alltäglich scheint, bleibt auch in weltlicher Zeit das Ritual des Fliegens unauslöschlich mit den vorrangigen Themen der Existenz verknüpft – und mit deren Niederschlag in den Geschichten der Weltreligionen. Wir haben zu viel über die Himmelfahrt gehört, zu viel über Stimmen aus der Höhe, zu viel über umherfliegende Engel und Heilige, um die Luftfahrt – wie etwa das Bahnfahren – allein aus der Perspektive eines Fußgängers wahrnehmen zu können. Insgeheim begleitet uns eine Ahnung vom Göttlichen, Ewigen und Bedeutungsvollen ins Flugzeug und hallt noch im lauten Verlesen der Sicherheitsvorschriften nach, im Wetterbericht unseres Kapitäns, und prägt insbesondere auch unseren Blick von oben herab auf die sanft geschwungene Erdwölbung.

Es schien mir irgendwie angemessen, dass ich vor einer Parfümeriefiliale, die einen zarten, aus gut achttausend Geruchs­stoffen zusammengesetzten Duft verströmte, zwei Priester treffen sollte. Reverend Sturdy, der ältere der beiden, hatte eine Warnweste mit der schwarzen Aufschrift «Airport Priest» an.
Er war Ende sechzig und trug einen gewaltigen, für Geistliche typischen Bart sowie eine Goldrandbrille. Wenn er sprach, dann so beeindruckend langsam und wohlgesetzt wie ein Gelehrter, der keinen Moment lang die Nuancen hinter jeder seiner Aussagen vergessen kann und es zudem gewohnt ist, sich in einer Umgebung zu bewegen, in der jede seine Äußerungen auf die Waagschale gelegt werden könnte, ohne dass er deshalb fürchtet, er könnte jemanden unnötig behelligen oder über Gebühr aufhalten. Sein gleichermaßen deutlich sichtbar gekleideter Kollege Albert Kahn – auf dessen von einem Mitarbeiter des Flughafens geliehener Weste «Bereitschaftsdienst» stand – war Anfang zwanzig und absolvierte im Rahmen seines Theologiestudiums an der Universität von Durham ein Praktikum in Heathrow.

«Mit welchen Fragen wenden sich die Menschen an Sie?», wollte ich von Reverend Sturdy wissen, als wir an einer Filiale jener bemerkenswert undefinierbaren Modemarke «Reiss» vorbeigingen. Es folgte eine lange Pause, in der uns eine geisterhafte Stimme erneut ermahnte, unser Gepäck nicht unbeaufsichtigt zu lassen. «Die Menschen wenden sich an mich, wenn sie nicht weiterwissen», erwiderte der Reverend schließlich und betonte die letzten Worte, als wollte er damit die spirituelle Orientierungslosigkeit aller Menschen anklingen lassen, dieser unglückseligen Wesen, über die der Heilige Augustinus schrieb, sie seien «Pilger auf Erden, bis sie in die Heimstatt Gottes einziehen». «Ja, aber warum wissen sie nicht weiter, wonach suchen sie?» «Ach», erwiderte der Reverend mit einem Seufzer, «meist nach der Toilette.»

 

Auszug aus dem Buch
Airport. Eine Woche in Heathrow von Alain de Botton
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
© 2010 S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.

Das Buch ist ab 12. April im Handel.

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