Adolf H. Zwei Leben

War Adolf Hitler nur ein „Unfall“ der Geschichte?

Die Minute, die den Gang der Welt veränderte

„Adolf Hitler: durchgefallen.“
Das Verdikt fiel herab wie ein Stahllineal auf eine Kinderhand.
„Adolf Hitler: durchgefallen.“
Eiserner Vorhang. Vorbei. Bei uns nicht mehr. Seht woanders weiter. Draußen.
Hitler schaute um sich. Dutzende junge Männer – mit hochroten Ohren, die Zähne zusammengebissen, der Körper gespannt, auf Zehenspitzen stehend, die Achselhöhlen im Gedränge feucht geworden – hörten die Worte des Pedells, der ihr Schicksal herunterleierte. Niemand beachtete ihn. Kein Mensch hatte die enorme Tragweite dessen begriffen, was soeben verkündet worden war, die Katastrophe, die die Halle der Kunstakademie erschütterte, die Explosion, die das Universum zerriss: Adolf Hitler durchgefallen.
Angesichts ihrer Gleichgültigkeit glaubte Hitler fast schon, nicht richtig verstanden zu haben. Ich leide. Eine eiskalte Klinge schlitzt mich auf von der Brust bis zu den Gedärmen, ich verblute, und niemand bemerkt es? Sieht denn niemand das Unglück, das mich zermalmt? Lebe einzig ich auf dieser Erde mit solcher Heftigkeit? Ist es dieselbe Welt, in der ich mit den anderen lebe?
Der Pedell hatte die Verlesung der Resultate beendet. Er faltete sein Blatt zusammen und lächelte ins Leere hinein. Ein gelblicher langer Lulatsch, eiskalt wie ein Taschenmesser, die Beine und Arme hölzern, unendlich lang, schlaksig und fast unabhängig vom Rumpf, an instabilen Gelenken gehalten. Nach getaner Arbeit stieg er vom Podest und gesellte sich wieder seinen Kollegen bei. Dem Äußeren nach keineswegs ein Henker, wohl aber der Denkungsart nach. Überzeugt davon, die Wahrheit verkündet zu haben. Ein Kretin von der Sorte, dass er zwar Angst hatte vor einer Maus, aber nicht eine Sekunde zögerte, als er seelenruhig verkündete: „Adolf Hitler: durchgefallen.“
Schon im Jahr zuvor hatte er dieselben schrecklichen Worte gesagt. Aber damals war es nicht so schlimm gewesen: Hitler hatte nichts für die Prüfung getan und sich zum ersten Mal vorgestellt. Heute dagegen kam der gleiche Satz einem Todesurteil gleich: Man durfte sich nur zweimal bewerben.
Hitlers Blick blieb an den Pedell geheftet, der jetzt mit den Akademieaufsehern lachte, dreißigjährige lange Bohnenstangen in grauen Hemden, alte Herren in den Augen Hitlers, der erst neunzehn war. Für sie war es ein gewöhnlicher Tag, ein Tag wie jeder andere, ein Tag, der ihr Gehalt am Monatsende rechtfertigte. Für Hitler dagegen war es der letzte Tag seiner Kindheit, der letzte, an dem er noch hatte glauben können, dass Traum und Wirklichkeit eins werden könnten.
Die Halle der Akademie leerte sich langsam, wie eine Bronzeglocke, die sich ihrer Klänge entledigt und sie hinausschickt in die weite Stadt. Um das Glück der Zulassung oder die Traurigkeit der Ablehnung zu würdigen, verteilten sich die jungen Leute über die Kaffeehäuser von Wien.
Nur Hitler blieb wie angenagelt stehen, betäubt und aschfahl. Plötzlich nahm er sich von außen wahr, als eine Romanfigur: Seit Jahren schon vaterlos, war ihm im Winter zuvor auch die Mutter gestorben. In der Tasche nur noch hundert Schilling, im Koffer drei Hemden und eine Nietzsche-Gesamtausgabe. Kalt kündigte sich die Armut an, soeben hatte man ihm das Recht abgesprochen, einen Beruf zu erlernen. Was stand auf seiner Habenseite? Nichts. Ein knochiges Äußeres mit großen Füßen und sehr kleinen Händen. Ein Freund, dem er sein Scheitern nicht eingestehen würde, so sehr hatte er zuvor geprahlt, es diesmal zu schaffen. Eine Verlobte, Stephanie, der er oft schrieb, die aber nie antwortete. Hitler sah sich realistisch und hatte Mitleid mit sich. Dabei war dies das letzte Gefühl, von dem er sich leiten lassen wollte.
Die Akademieaufseher traten an den tränenüberströmten Burschen heran. Sie luden ihn ein, in der Pförtnerloge einen Kakao mit ihnen zu trinken. Der junge Mann ließ seinen Gefühlen freien Lauf und weinte weiter still vor sich hin.
Draußen strahlte heiter die Sonne, der Himmel war von blendendem Blau, übersät mit Vögeln. Durch das Fenster sah Hitler dem Schauspiel der Natur zu, und er verstand nicht. Also weder die Menschen noch die Natur? Da ist niemand, der mein Leiden teilt?
Hitler trank seinen Kakao, dankte den Akademieaufsehern höflich und empfahl sich. Diese Fürsorglichkeit tröstete ihn nicht: Wie jedes menschliche Verhalten war sie allgemein, von Prinzipien und Werten geleitet, nicht aber an ihn persönlich gerichtet. Davon hatte er genug.
Er verließ die Kunstakademie und verlor sich alsbald mit kleinen Schritten und hängenden Schultern im Gewusel von Wien. Diese Stadt war wundervoll, sie war lyrisch, barock und herrschaftlich gewesen, der Schauplatz seiner Hoffnungen; nun wurde sie zum engen Rahmen seines Scheiterns. Würde er sie noch lieben? Würde sie ihn noch lieben?
Das war es, was an jenem 8. Oktober 1908 geschah: Eine aus Malern, Radierern, Zeichnern und Architekten bestehende Jury hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, den Fall des jungen Mannes entschieden. Ungeschickter Strich. Verworrene Komposition. Unkenntnis der Techniken. Konventionelle Phantasie. Sie hatten nur eine Minute gebraucht und bedenkenlos ihr Urteil gefällt: Dieser Adolf Hitler hatte keine Zukunft.
Was wäre geschehen, hätte die Kunstakademie anders entschieden? Was wäre mit ihm passiert, hätte in ebenjener Minute die Jury Adolf Hitler angenommen? Diese Minute hätte den Lauf eines Lebens verändert, sie hätte aber auch den Lauf der Welt verändert. Was wäre aus dem zwanzigsten Jahrhundert ohne den Nazismus geworden? Hätte es in einer Welt, in der Adolf Hitler Maler gewesen wäre, einen Zweiten Weltkrieg mit mehr als fünfzig Millionen Toten gegeben, darunter sechs Millionen Juden?
***
„Adolf H.: bestanden.“
Eine Hitzewelle durchlief den jungen Mann. In ihm wogte das Glück, es pulste in seinen Schläfen, rauschte in seinen Ohren, weitete ihm die Lungen und wühlte sein Herz auf. Es war ein lang anhaltender Augenblick, erfüllt und angespannt, die Muskeln hart, ein ekstatischer Krampf, eine reine Lust wie der erste unwillkürliche Orgasmus mit dreizehn Jahren.
Als die Welle abebbte und er wieder zu sich kam, entdeckte Adolf H., dass er völlig durchnässt war. Seine staubige Kleidung roch nach saurem Schweiß. Er besaß keine Wäsche zum Wechseln. Aber was machte das schon: Er war angenommen!
Der Pedell faltete seinen Zettel zusammen und zwinkerte ihm zu. Adolf schenkte ihm ein unbändiges Lächeln. So nahmen ihn selbst die niederen Bediensteten, sogar die Wärter, nicht nur die Professoren, mit Freude in die Akademie auf!
Adolf H. drehte sich um und sah ein paar Burschen, die sich beglückwünschten. Er trat, ohne zu zögern, an sie heran und streckte ihnen die Hand entgegen.
„Guten Tag, ich bin Adolf H. Ich bin auch aufgenommen worden.“
Der Kreis öffnete sich ihm. Der Geräuschpegel stieg an. Es war ein Reigen von Umarmungen, Lächeln und Namen, die man sich zum ersten Mal sagte, aber nicht gleich einprägte. Man hatte ja noch das ganze Jahr vor sich, um einander besser kennenzulernen.
Es war Herbst, doch dieser Tag besaß die Frische wahrer Anfänge, die Sonne war mit von der Partie und lachte an einem Himmel von unwiderruflichem Blau.
Die jungen Männer sprachen alle auf einmal, keiner hörte dem anderen zu. Man verstand kaum das eigene Wort, doch jeder wusste, was der andere sagte, weil sie alle die gemeinsame Freude einte.
Einem aber gelang es, das Tohuwabohu zu übertönen, und er brüllte, sie sollten ins Wirtshaus Kanter gehen, um zu feiern.
„Auf geht’s!“
Adolf schlüpfte mit ihnen hinaus. Er war solidarisch. Er gehörte zur Gruppe.
Er war schon mit einem Fuß aus der Akademie heraus, als er hinter sich einen reglosen Burschen bemerkte, der allein mitten in der riesigen Halle stand und still schwere Tränen weinte.
Mitleid streifte Adolf H., er hatte noch die Zeit, „der Arme“ zu denken, und wurde dann jäh vom Glück ergriffen. Das Glück übermannte ihn in einer zweiten, zerstörerischen Welle, stärker noch als die vorangegangene. War es doch von nun an eine verstärkte, angereicherte Freude, eine doppelte Freude: die Freude, es geschafft zu haben, begleitet von der Freude, nicht gescheitert zu sein. Adolf H. hatte soeben entdeckt, dass sich das Glück stärkt am Unglück der anderen.
Er gesellte sich wieder seinen Kameraden bei. War den Wienern an diesem Nachmittag überhaupt klar, dass an ihnen eine Gruppe junger Genies vorbeiging? Geduld, sagte sich Adolf, eines Tages werden sie es begreifen.
Geschrei und Freude schäumten hoch auf im Gasthaus Kanter, und das Bier strömte überschäumend in die Seidel. Adolf H. trank, wie er noch nie getrunken hatte. An diesem Abend wurde aus ihm endgültig ein Mann. Er und seine neuen Freunde erklärten einander, was für große Künstler sie werden würden und wie sie, daran gab es keinen Zweifel, ihr Jahrhundert prägen würden; sie begannen sogar, über die Alten zu lästern. Dies war ein historischer Abend. Adolf H. trank immer mehr, er trank, wie man Musik machte, um mit den anderen im Einklang zu sein, um mit ihnen zu verschmelzen.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich nicht gegen die anderen, sondern mit ihnen behauptete. Er wusste sich seit Jahren schon als Maler, er hatte nie daran gezweifelt, obwohl er seit seinem Scheitern im Jahr zuvor darauf wartete, dass man ihn als den anerkannte, als der er sich erträumte! Das Leben offenbarte sich als gerecht und schön. Von diesem Abend an konnte er es sich erlauben, Freunde zu haben.
Er trank und trank.
Nachdem sie die Welt umgekrempelt hatten, erklärten sie nun einander, wo sie herkamen, was ihre Familien taten. Als Adolf an der Reihe war, verspürte er einen rasenden Drang zu pinkeln, und er rannte auf die Toilette.
Sein Urin besprengte machtvoll das Steingut, er pinkelte mit dickem Strahl, er fühlte sich unverwundbar.
Im grünlichen, pockennarbigen Spiegel sah er prüfend seinen neuen Kopf an: das Haupt eines Studenten der Kunstakademie. Es schien ihm, als könne man es ihm schon ansehen, als läge ein neuer Glanz in seinen Augen, ein Funkeln ohnegleichen. Er studierte sich mit Genuss, posierte ein bisschen vor sich selbst, betrachtete sich mit den Augen der Nachwelt, Adolf H., der große Maler…
Ein Schmerz lähmte seinen Kiefer, die Lippen bedeckten sich mit Schaum, und Adolf schlug auf dem Waschbecken auf. Seine Schultern wurden von Krämpfen geschüttelt, die Schluchzer verwüsteten sein Gesicht: Er hatte soeben an seine Mutter denken müssen.
Mama… Wie glücklich sie an diesem Abend gewesen wäre! Sie wäre so stolz auf ihn gewesen! Sie hätte ihn an ihre kranke Brust gepresst.
Mama, ich bin in die Akademie aufgenommen.
In allen Einzelheiten malte er sich das Glück seiner Mutter aus und erfuhr endlich in ganzer Fülle ihre Liebe.
Mama, ich bin in die Akademie aufgenommen.
Er sagte es sanft noch einmal, wie eine Beschwörungsformel in dem Moment, da der Sturm vorüberzieht.
Dann ging er zu seinen Freunden zurück.
„Adolf, wo warst du? Hast du dich übergeben müssen?“
Sie hatten auf ihn gewartet! Sie nannten ihn bei seinem Vornamen! Sie hatten sich Sorgen um ihn gemacht! Der junge Mann war so bewegt, dass er das Wort ergriff:
„Ich glaube, man kann heute nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren malen. Es gibt jetzt die Fotografie, und wir müssen uns daher auf die Farbe konzentrieren. Ich glaube nicht, dass die Farbe natürlich sein sollte!“
„Wie? Von wegen! Meyer meint…“
Und eigensinnig wie ein gutes Kaminfeuer loderte das Gespräch wieder auf. Adolf begeisterte sich für Ideen, von denen er vor fünf Minuten noch nie etwas gehört hatte, er stürzte sich in neue Theorien, die er augenblicklich für der Weisheit letztes Wort hielt. Energisch boten ihm die anderen Paroli.
In den kurzen Sekunden, da er schwieg, lauschte Adolf H. nicht etwa seinen Kommilitonen, sondern dachte schwelgerisch an die Briefe, die er am nächsten Tag schreiben würde: einen an seine Verlobte Stephanie, die von nun an keinen Grund mehr hatte, so hochnäsig zu tun, einen an seine Tante, die nie an sein Talent als Maler geglaubt hatte, einen an seinen Vormund Mayrhofer, der sich den unerhörten Rat erlaubt hatte, er solle sich „einen richtigen Beruf“ suchen, und einen an seine Schwester Paula, dieser frechen, hässlichen Blage, für die er nur Gleichgültigkeit empfand, die aber trotzdem begreifen sollte, was für ein großer Mann ihr Bruder sei. Außerdem einen an Rauber, diesen Schwachkopf, der ihm schlechte Zensuren in Zeichnen gegeben, und einen an Krontz, der es sich erlaubt hatte, seine Farbzusammenstellungen zu kritisieren. Zu guter Letzt noch einen an seinen Grundschullehrer, der ihn gedemütigt hatte, als er acht Jahre war, indem er der ganzen Klasse seinen schönen roten fünfblättrigen Klee zeigte… In seiner Freude legte er seine Briefe wie eine Flinte an. Seine Kugeln würden all jene treffen, die nicht an ihn geglaubt hatten. Er verspürte einen unbändigen Lebensdrang. An diesem Abend fühlte er sich gut, morgen aber würde er sich noch besser fühlen, weil er den anderen weh tun würde. Leben, das heißt ein bisschen zu töten.
So hatte Adolf H. an diesem 8. Oktober zwar noch nicht das geringste Werk von Bedeutung geschaffen und hatte lediglich das Recht erworben, den Beruf des Kunstmalers zu erlernen, war aber im Alkoholdunst des Gasthauses Kanter an einen wesentlichen Punkt angelangt, ohne den es keinen Künstler gibt: Er hielt sich endgültig für den Mittelpunkt der Welt.

Das Buch „Adolf H. – Zwei Leben“ erscheint Mitte Februar im Ammann Verlag

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