Demonstration "Die Waffen nieder" am Breitscheidplatz in Berlin, 03.10.2024 / picture alliance / PIC ONE | Christian Ender

Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg - Hat Deutschland eine Pflicht zur postheroischen Wehrlosigkeit?

80 Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht steht in Deutschland jegliche Verteidigungsbereitschaft noch immer unter Verdacht. Die gesellschaftliche Einstellung zum Militärischen muss sich ändern – und auch die zum eigenen Land.

Portraet Ronald G. Asch

Autoreninfo

Ronald G. Asch hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Freiburg inne

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Vor kurzem wurde der Präsident Litauens, Gitanas Nausėda, in den Medien mit den Worten zitiert, er wolle, dass die in Zukunft in Litauen zu stationierenden deutschen Soldaten sich dort wohler fühlten als in ihrer eigenen Heimat.  Der Präsident spielte damit wohl auch darauf an, dass die Bundeswehr als Institution in der deutschen Gesellschaft nur begrenzten Rückhalt besitzt, wenn sie nicht sogar in breiten Milieus weiterhin offen abgelehnt wird. 

Ein wenig mag sich das mit der sogenannten Zeitenwende nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine geändert haben, aber doch nur sehr partiell. Bei weitem nicht jeder auf der politischen Linken wird heute noch der Parole zustimmen, dass Soldaten und gerade auch deutsche Soldaten eigentlich immer Mörder seien, aber geliebt wird die Bundeswehr bei uns sicherlich nicht. Auf den ersten Blick ist das natürlich gut nachvollziehbar. Das letzte Mal, als eine deutsche Armee einen größeren Krieg führte, führte das in eine namenlose nicht nur militärische, sondern auch moralische Katastrophe, ein Debakel, an das uns der Tag der deutschen Kapitulation, der sich jetzt zum 80. Mal jährt, regelmäßig erinnert. Es ist von daher nur natürlich, dass in Deutschland der Einsatz militärischer Mittel zur Durchsetzung selbst scheinbar legitimer politischer Ziele viel umstrittener ist, als in den USA oder in Frankreich. Es wäre wohl sogar ein schlechtes Zeichen, wenn das anders wäre.

Verteidigungsbereitschaft als Kriegstreiberei gebrandmarkt

Weniger leicht nachvollziehbar ist, dass schon das vorsichtige Bemühen, angesichts neuer Bedrohungen ein Minimum an Verteidigungsbereitschaft zu wiederherzustellen, als Kriegstreiberei gebrandmarkt wird. Genau das geschieht jedoch immer wieder, und das nicht nur von Seiten des Bündnisses Sarah Wagenknecht, der Linkspartei oder auch aus den Reihen der AfD. So warnte der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling jüngst im Spiegel eindringlich vor dem „gefährliche[n] Kurs der geistigen Mobilmachung“.  Es sei höchste Zeit, dem allgemeinen „Säbelrassen“ etwas entgegenzusetzen. 

Sicherlich, Bröckling hat recht, wenn er vor einer militärischen Selbstüberschätzung Deutschlands und Europas warnt. Diese findet zur Zeit ihren Ausdruck etwa in der Annahme, die Europäer könnten auf eigene Faust, ohne US-Unterstützung der Ukraine im gegenwärtigen Krieg zum Sieg verhelfen, oder auch nur nach einem möglichen Friedensschluss mit ihren Truppen ohne Beteiligung amerikanischer Divisionen die Sicherheit des bedrohten Landes gewährleisten. Solche Vorstellungen sind zumindest so lange vollständig illusionär, wie es in Deutschland, Frankreich und Großbritannien keine Wehrpflicht gibt. Erst recht hat Bröckling recht, wenn er Schreibtischstrategen anprangert, die für den Ersteinsatz taktischer Nuklearwaffen gegen einen möglichen russischen Angriff auf Nato-Territorium plädieren – auch wenn genau das Teil der freilich hoch riskanten westlichen Abwehrstrategie vor 1989 war. Die Eskalationsspirale nach einem solchen Einsatz von Atomwaffen, bei dem Deutschland als Nicht-Nuklearmacht im Übrigen keinerlei Mitsprache hätte, könnte vermutlich keiner mehr stoppen.

Aber gerade dann, wenn man ein solches Szenario vermeiden will, muss die konventionelle Abschreckung sehr viel glaubwürdiger werden als sie es jetzt ist, und das ist nur realistisch, wenn sich die gesellschaftliche Einstellung zum Militärischen bei uns ändert. Das gilt auch dann, wenn man von der Wiedereinführung der Wehrpflicht oder der Abschaffung des allerdings absurden Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung für aktive Berufssoldaten (wohlgemerkt nicht für Wehrpflichtige), das bei uns gilt, zunächst absieht.

Deutschland als moralisierender Trittbrettfahrer

Wer diesen begrenzten Wandel der Einstellung zum Krieg ablehnt, setzt möglicherweise unausgesprochen darauf, dass Deutschland als moralisch überlegener Trittbrettfahrer immer genug Verbündete finden wird, die frei von unseren pazifistischen Skrupeln jene Abschreckung übernehmen, zu der wir nicht bereit sind. Dass man dafür dann unter Umständen einen erheblichen politischen Preis zahlen muss, wird dabei freilich übersehen, obwohl ein Blick auf Trumps gegenwärtige Politik gegenüber Europa dies gut illustrieren könnte. 

Oder aber man hofft in der konkreten Situation, Putin besänftigen zu können, indem man Moskau massive territoriale Konzessionen macht, nicht nur in Gestalt der Ostukraine, sondern weit darüber hinaus, also auch zum Beispiel im Baltikum. Abgesehen davon, dass völlig unklar ist, ob diese Rechnung wirklich aufginge, wäre das dann doch eine Einstellung, die der französischen „mourir pour Danzig“-Mentalität von 1939 ähneln würde, nur dass es diesmal – einstweilen – nicht um Danzig, sondern um Kyjiw, Riga, Vilnius, und am Ende auch um Lemberg (Lwiw) ginge. Immerhin würde man mit einer solchen Haltung vielleicht in Washington auf Beifall stoßen, wo der Präsident und sein Hofstaat wohl zum Teil ähnlich denken und übrigens auch immer betonen, dass Frieden mit Russland das oberste Ziel sein müsse, egal zu welchem Preis.

Soldaten brauchen erhöhtes Ansehen

Aber wer im Namen des Pazifismus jede Form eines kriegerischen Heroismus grundsätzlich ächtet und für verwerflich hält, zeigt auch, dass er sich nicht bewusst ist, wie wichtig für die Genese des modernen demokratischen Verfassungsstaates ältere republikanische Traditionen waren, von denen sich die heutige Demokratie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vollständig lösen kann, wenn sie nicht ihre eigenen Grundlagen in Frage stellen will. Für den klassischen Republikanismus der Frühen Neuzeit musste eine Republik aus Bürgern bestehen, die genug „Tugend“ (virtus – virtù) besaßen, um für ihre Freiheit zu kämpfen. In diesem Sinne konnte Machiavelli in seinen Discorsi, einem zentralen und einflussreichen Text des Republikanismus der Renaissance, feststellen: „Nur Männer, die für den eigenen Ruhm kämpfen, sind tüchtige und treue Soldaten.“ 

Nun ist uns natürlich die Idee des Ruhmes ebenso vollständig fremd geworden wie die der Ehre. Solche Begriffe erscheinen heute im Westen und besonders in Deutschland als gänzlich exotisch, wenn nicht gar als toxisch. Aber ohne ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Reputation, an erhöhtem Ansehen werden auch in einer modernen Gesellschaft Soldaten nicht auskommen, wenn man von ihnen erwartet, ein persönliches Risiko bis hin zum Tod an der Front einzugehen. In einer Gesellschaft, in der postheroische Wehrlosigkeit die höchste Tugend ist, kann man als Soldat auf ein solches Ansehen kaum hoffen, und entsprechend gering wird dann auch die Kampfmoral der jeweiligen Armeen ausfallen.

Ländern ohne Patriotismus droht ein wenig rosiges Schicksal

Das Problem ist heute einerseits, dass sich die Idee einer die Demokratie tragenden exklusiven und zugleich wehrhaften Bürgergemeinschaft ohnehin auflöst, wenn man zwischen Fremden und Bürgern keinen Unterschied mehr macht, wie es die vorherrschende No-Borders-Ideologie ja explizit verlangt, und das nicht nur auf Kirchentagen. Und dass andererseits, und hier besteht natürlich ein enger Zusammenhang, auch die Idee des Patriotismus und sei er noch so sehr auf eine politische Gemeinschaft bezogen und nicht primär ethnisch-kulturell begründet, mehr denn je abgelehnt wird. Für unser Land gilt das wegen des gebrochenen Verhältnisses der Deutschen zur eigenen Geschichte natürlich in ganz besonderer Weise, aber man kann ähnliche Entwicklungen auch in anderen westlichen Ländern wie etwa Großbritannien beobachten. 

Wer jede Form der Identifikation mit dem eigenen Land freilich radikal zurückweist, dem sei die Lektüre von Ibn Khalduns großer Einführung in die Weltgeschichte, der „Muqaddima“ aus der Zeit um 1400 empfohlen. Das Schicksal von Gesellschaften, die keinerlei Zusammengehörigkeitsgefühl mehr haben und auch nicht mehr bereit sind, sich gegen Bedrohungen von außen zu wehren, also keine ʿAsabīya, wie Ibn Khaldun dies nennt, mehr besitzen, ist aus der Sicht des großen nordafrikanischen Gelehrten jedenfalls kein rosiges. Am Ende werden sie von übermächtigen Feinden überwältigt werden. Das kann man bewusst in Kauf nehmen, eben als Preis der Friedfertigkeit, der Offenheit und der Gewaltlosigkeit, aber dann soll man das auch sagen.

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Ernst-Günther Konrad | Do., 8. Mai 2025 - 10:44

Soldaten sind Mörder und dürfen so genannt werden, sagt ein höchstrichterliches Urteil. Sowohl der soldatische Ruf als auch die Institution der Bundeswehr wurde doch sukzessive seit den 1970 Jahren herunter gemacht und herunter gewirtschaftet. Was man von der BW hielt und ob man sie überhaupt braucht, wurde doch spätestens mit der Abschaffung der Wehrpflicht offenbart. Und jede Form von gesunder Kameradschaft und Zusammenhalt durfte nicht mehr sein und jedes sicher geschmacklose Bildchen oder Text zum rechten Gedankengut hochstilisiert und die BW weiterhin gedemütigt und kaputt gemacht, neben der Tatsache, dass wir allen und jeden militärische Ausrüstung gaben, nur unseren eigenen Soldaten nicht. Die bekamen Umstandsmode und Kitaplätze am Standort, wenn der nicht wegrationalisiert worden ist. Und heute? Spricht man wieder von kriegstüchtig. Nicht einfach wehrhaft, sondern kriegstüchtig. Und wer benutzte dieses Wort zum Anfeuern der Massen? Richtig es war Goebbels und andere Nazis?

Thorwald Franke | Do., 8. Mai 2025 - 11:20

Die AfD hat einen guten Teil des Radikal-Pazifismus geerbt, den die Grünen haben liegen lassen. Es ist natürlich eine vielfache Heuchelei im Spiel. Die Grünen Wähler selbst würden nie in den Krieg ziehen wollen, die AfD-Führung würde nie wirklich pazifistisch sein wollen. Diese vielfache hin- und wieder-Heuchelei ist ein Gordischer Knoten, der zerschlagen werden müsste.

Alles beginnt damit, dass die Deutschen wieder glücklich mit ihrem eigenen Land werden. Erst daraus erwächst dann die Frage nach der Wehrhaftigkeit in einer sinnvollen Weise.

Dazu bedarf es aber der Demokratisierung. Die Deutschen müssen wieder das Gefühl bekommen, die Dinge wirklich selbst in der Hand zu haben. Ganz offenbar fehlt dieses Gefühl gerade.

Diesen Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Demokratie erkannten schon die preußischen Reformer Anfang des 19. Jahrhunderts. Heutige Politiker sind leider nicht so schlau und träumen von einer gelenkten Demokratie.

Maria Arenz | Do., 8. Mai 2025 - 11:30

Es ist auch egal, warum es den in Deutschalnd nicht mehr annähernd im erforderlichen Umfang gibt. Diese Haltung gehört eben auch zu den Dingen, die schon Böckenförde als zu den Voraussetzungen einer säkularen, rechtsstaatlichen Demokratie zählte, die der Staat nicht herstellen kann. Wenn ich Kinder im wehrfähigen Alter hätte, würde ich sicher verstehen, daß sie für diese "bunte", immer dysfunktionalere Republik ihren Kopf nicht hinhalten wollen. Allerdings gäbe es eine Lösung, mit der man außer dem fehlenden Wehrwillen der Eingeborenenen gleich noch ein andres Problem lösen könnte: Eine Fremdenlegion aus all den Männern, die hier inzwischen mangels einer vernünftigen Aufgabe udn Aufsicht als eine Art inoffizieller Besatzungsmacht Bahnhöfe , ÖPNV, Parks und Innenstädte unsicher machen, und bei ausreichendem Anreiz und -von Frankreich ausgeliehenen Ausbildern!- sicher zu einer Truppe geformt werden könnten, die Russen anders besiegen könnte als durch Lachreiz.

Walter Bühler | Do., 8. Mai 2025 - 13:44

... als einheimische Literaturgewächse, die bisher das germanische oder christliche Heldentum in Europa loben und preisen wollten.

Zeiten und Perspektiven ändern sich! Blicken wir nach Mekka!

Zweifellos ist die Lust auf Krieg, Eroberung, Weltbeherrschung und Einheitsreligion im Islam noch viel stärker und stabiler verankert als bei uns, den noch christlichen, aber meist doch sehr kriegsmüden Deutschen.

Deshalb sind ja auch die Aussichten auf die Vorherrschaft des Islamistismus in Europa so gut. Wenn nun europäische Historiker kommen und uns zur ʿAsabīya aufrufen, steckt wohl hinter dieser wissenschaftlichen Empfehlung zweifelsfrei ein realistischer Kopf, der dem kommenden Islam gelassen oder gar hoffnungsfroh entgegen sieht.

Der Fall Konstantinopels war aus der Sicht dieses Historikers wohl ein gutes Vorzeichen.

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Oder habe ich Sie falsch verstanden, Herr Asch?

Inana | Do., 8. Mai 2025 - 14:10

Das Problem ist eher, dass es in der Debatte eigentlich nicht um Deutschland und um die eigene Gesellschaft geht, sondern, wie der Autor ja richtig schreibt, die Absicherung Osteuropas in erster Linie gegen Russland. Und eben auch darum, dass Deutschland auch in Staaten wie Polen oder Frankreich als "militärische Führungsmacht anerkannt werden will.
Und das kann man wollen. Nur man muss auch akzeptieren, dass das nicht unbedingt breiter Konsens ist, weil es dann doch weit von der bisherigen Politik ist - und kann auch nicht unbedingt erwarten, dass es breit verbindet, denn es sind eben nicht unbedingt im klassische Sinne nationale Interessen. Nationaler Konsens ist schon gar nicht, die teilweise durchaus durchscheinende Kriegsbegeisterung und starke Nähe zur Ukraine bei vielen Politikern überzeugt im Land nicht jeden.

Hans Süßenguth-Großmann | Do., 8. Mai 2025 - 17:57

auch ein bisschen damit zu tun, dass es dem Land gut geht. Dies kann ich nach der "Zeitenwende" nicht erkennen. Über NS 1 haben wir sicher und billig Gas bezogen. Das hat einigen nicht gefallen und sie haben uns den Tritt ans Schienbein verpasst. Wer es war?, Tiefes Schweigen.
Jetzt sollen wir keine Sünder mehr sein, weil wir mit dem bösen Putin nicht mehr handeln und jetzt patriotisch nach mehr Waffen schreien! Es geht uns also besser, wenn man Baerbock, Merz u.a. glaubt.
Ich als Defätist und "gelernter DDR Bürger" sage früher ging es uns gut, heute geht es uns besser. Es wäre besser, wenn es uns wieder gut gehen würde.

Konstantin Richter | Do., 8. Mai 2025 - 18:59

Panzer und Kampfflugzeuge braucht heutzutage ja keiner mehr um nach Deutschland zu gelangen. Die Entsendung einer ausreichenden Anzahl von "Flüchtlingen" reicht ja bereits aus. Der Sultan hat das begriffen. Man muß natürlich dabei einigermaßen behutsam vorgehen, damit niemand die Nachtigall trapsen hört. Ich denke, eine multikulturelle Gesellschaft kann keine wirkliche Wehrfähigkeit aufbauen, da die Interessenlagen der "Teilgesellschaften" zu unterschiedlich sind. Ein Krieg wird entweder durch Patrioten oder durch Söldner gewonnen. Ich denke wir verlieren, weil wir kaum noch Patrioten haben und uns für die Söldner langfristig die Mittel fehlen.