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Der Intellektuelle - 19 Eigenschaften einer ruhig gestellten Spezies

Welche Eigenschaften zeichnen den Intellektuellen aus? Michael Naumann skizziert die 19 Eigenschaften einer ruhig gestellten Spezies

Autoreninfo

Prof Dr. Michael Naumann ist Geschäftsführer der Barenboim-Said-Akademie gGmbH. Von Februar 2010 bis April 2012 war er Chefredakteur von Cicero.

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1. Der Intellektuelle als solcher wird nicht mehr benötigt. Das faschistische, kommunistische, kapitalistische, autoritäre, sogenannte „gesamtverblendete“ System hat den Intellektuellen im Laufe des 20. Jahrhunderts aus seiner freischwebenden Existenz befreit und mit einer Professur ruhig gestellt – wenn es ihn nicht ermordet hat.

2. Theodor W. Adorno hat schon alles gesagt.

3. Er war ein großer Intellektueller, aber heimlich, so lästerte einmal sein Freund Max Horkheimer, sehnte er sich im Exil nach einer sicheren Existenz auf einer kleinen Forschungsstelle in Kalifornien.

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4. Der wohlsituierte deutsche Privatgelehrte verliert seine diskret mitgeschleppte Berufsbezeichnung „Intellektueller“ an dem Tag, an dem er in einer blöden Talkshow sitzt. Das ist der Augenblick, an dem er plötzlich öffentlich als „Intellektueller“, mithin als „schwierig“ gilt. Fortan schämt er sich.

5. Aber es gibt ihn noch im Land seiner Herkunft: Er schreibt (wie einst Zola) Romane, berät Präsidenten (wie Régis Debray oder Bernard-Henri Lévy), lebt wie früher Jean-Paul Sartre im Café de Flore oder nebenan im Deux Magots in Paris und wird dann Botschafter auf Malta, wo er seine Memoiren vorbereitet. Alles, so wird er sagen, war ganz anders.

6. Der Intellektuelle weiß alles, der Philosoph deutet viel. Der Intellektuelle jammert, der Philosoph trauert. Der Intellektuelle raucht und trinkt Kaffee, der Philosoph streichelt seine Katze.

7. Früher saßen Deutschlands führende Intellektuelle als Lektoren im Suhrkamp-Verlag. Karl Markus Michel, Walter Boehlich, Günther Busch: Vom Kursbuch bis zur „edition suhrkamp“ – die Verlagsarbeit dieser humanistisch gebildeten, aufgeklärten Dialektiker etablierten Siegfried Unselds Haus als geistiges Kraftzentrum der 68er-Generation, mit der sie selbst in Wirklichkeit herzlich wenig zu tun haben mochten. Sie wollten lesen, redigieren und die deutsche Sprache retten. Sie sind alle tot.

8. Eine Rangliste deutscher Intellektueller hätten sie mit dem angemessenen Spott überzogen, dem ihr Freund Robert Gernhardt – kein Intellektueller – eine kleine Zeichnung hinzugefügt hätte. Drei Intellektuelle, ein Philosoph.

9. Die „konstruktiven Intellektuellen“, eine Subspezies des Kapitalismus, sitzen in Partei-Stiftungen, Thinktanks, Max-Planck-Instituten und glauben, dass die Mächtigen, denen stets ihre wahre Liebe galt, ihre Texte lesen und ihre Ratschläge befleißigen. Überhaupt: Intellektuelle schreiben „Texte“, keine Artikel. Doch ein „konstruktiver Intellektueller“ hat seine Berufung verfehlt – als dekonstruktiver, ablehnender, Vorurteile niederreißender, nörgelnder, böswilliger, melancholischer, satirischer, selbstverliebter, auf alle Fälle aber beredter Denker hätte er auch keine Chance mehr, wahrgenommen zu werden. Der „konstruktive Intellektuelle“ hat dafür, im Gegensatz zum anderen, gute Manieren.

10. Intellektuellenfeindlichkeit war einmal die kleine Schwester des Antisemitismus.

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11. Fritz J. Raddatz kannte viele Intellektuelle – oder solche, die sich dafür hielten. Weil er sie beim Namen nennt, haben sie sein Tagebuch (eine Art Roman) gekauft, um im opulenten Namensregister nachzuschauen, ob sie noch leben.

12. Die größten Intellektuellen der jüngeren Neuzeit sprachen Englisch, zum Beispiel Thomas ­Jefferson und John Adams. Letzterer stellte sich den Himmel als Debattierclub vor. Vorher haben sie noch schnell eine Revolution initiiert und eine Nation gegründet.

13. Da wir schon in Amerika sind: In New Yorks ästhetisch versierten Kreisen lautete Ausgang des vorigen Jahrhunderts die Reihenfolge des Dinners: Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise, and then let’s talk about Susan ­Sontag. Sie bildete das Zentralkomitee der amerikanischen Intellektuellen und war sein einziges Mitglied. Manchmal saß sie in Berlins „Paris Bar“ und wartete sehnsüchtig auf Walter Benjamin. Aber es kamen nur Heiner Müller und ein stiller Mann von der Stasi.

14. Intellektuelle sind ihrem Land gram. Doch heimlich lieben sie es. Wie ein aristokratischer Mäzen einmal ­Jonathan Swift zurief: „Würden Sie ihre Nation wirklich so sehr verachten, wie Sie behaupten, dann wären Sie ihr nicht so böse.“

15. Die Sonderform des deutschen katholischen Intellektuellen blühte in der Zeit des Kalten Krieges. Als Jesuiten kannten sie sich besser in Karl Marx’ Theorien aus als die Politruks im Osten. Das lag daran, dass sie sich als Transzendenz-Fraktion seiner eschatologischen Erlösungslehre empfanden. Dass ein deutscher Intellektueller einmal Papst werden sollte, ahnten sie nicht. Der hat einen Vorgänger, Coelestin II, ein Anhänger Abaelards. Coelestin wurde 1144 vergiftet, Pater Abaelard hatte man schon vorher mit zwei Ziegelsteinen entmannt; denn er lehnte das Zölibat ab und wollte den christlichen Glauben mit menschlicher Vernunft versöhnen. Ein tragischer, früher Intellektueller – seine Bücher wurden gleich mehrfach verbrannt.

16. Konsequenz ist eine fürchterliche deutsche Intellektuellentugend. Darum ist jede Intellektuellen-Liste, die Hans Magnus Enzensbergers Namen aufführt, ein Dokument bürokratischer Blödheit. Er ist viel zu klug, um intellektuell, also konsequent zu sein.

17. Lenin und Trotzki kamen als revolutionäre Intellektuelle an die Macht und brachten dann Tausende Menschen um. Ihr Nachfolger gehörte nicht zu den Intellektuellen, sondern ließ sie reihenweise ermorden. Einer von ihnen war so dumm, die Frau des NKWD-Chefs zu verführen. Daraus folgt nichts außer Grauen.

18. Blaise Pascal hat die Rechenmaschine erfunden. Aber seine Behauptung, alles Unglück der Welt beruhe darauf, dass der Mensch nicht einen Tag lang allein in seinem Zimmer sitzen könne, stimmt nicht mehr. Heute kann der Mensch wochenlang ganz allein bei sich bleiben – vor seinem iPad oder seinem Mac. Und alles Unglück der Welt wird darauf beruhen, dass er glaubt, er sei draußen in der Wirklichkeit gewesen.

19. Damit das klar ist: Steve Jobs hat die Rechenmaschine nicht erfunden und war auch kein Intellektueller. 

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