
- Zaubern an der Zeitenwende
Deutschland feiert den 150. Geburtstag von Thomas Mann. Sein Werk ist auch als Warnung für unsere Gegenwart zu verstehen – eine Gegenwart, die uns auf der digitalen Grenze zwischen Humanismus und Transhumanismus balancieren lässt.
Der Zauberer spricht in die Zeit hinein. Steif und aus heutiger Sicht durchaus gezwungen hat Thomas Mann auf einem Holzstuhl Platz genommen. Sein Rücken ist aufrecht, die Krawatte sitzt dem Schriftsteller eng an seinem hochgeschraubten Hals. Die Sätze des späteren Literaturnobelpreisträgers sind kurz, seine Aussprache spitz, prononciert; und selbst in seinem 54. Lebensjahr klingt er noch immer auffallend norddeutsch: „Das Publikum, zu dem ich heute spreche, ist nicht nur räumlich von mir getrennt“, erklärt der Schöpfer des Gustav von Aschenbach aus „Der Tod in Venedig“ sowie des morbiden Personals hoch droben auf dem „Zauberberg“: „Es ist in der Zeit von mir entrückt, und ich spreche zu einem zukünftigen Publikum in die Zeit hinein.“ Er beugt den Oberkörper nach vorne – und dann wieder zurück; lässt seinen Kopf von rechts nach links herüberhüpfen – und andersherum. Ein Knistern liegt derweil unter seiner Stimme; und ein befremdliches Knacken springt ihm in die Lücke eines Gedankens hinein.
Nobelpreis und ein literarisches Ständchen
Noch ist das wohl alles Neuland – und das nicht nur für Thomas Mann: der Stuhl, das Licht, die Kamera. Es ist der 22. Januar 1929. Nur noch wenige Monate, und der Schriftsteller wird im großen Saal des Konserthuset von Stockholm den Nobelpreis für Literatur überreicht bekommen – eine, wie es in der Laudatio heißen wird, „im Lauf der Jahre immer mehr sich festigende Anerkennung“, die Mann für seinen Roman „Die Buddenbrooks“ entgegennehmen wird. Noch aber ahnt er nichts von dieser Ehre. An diesem außergewöhnlichen Januartag 1929 steht ein ganz anderer im Rampenlicht: Gotthold Ephraim Lessing. An besagtem Tag begeht Deutschland den 200. Geburtstag des großen Dichters der Toleranz. Niemand Geringeres als Thomas Mann soll ihm aus diesem Anlass ein literarisches Ständchen bringen – erstmals nicht coram publico, sondern eingeschlossen in ein Filmstudio.
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