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() Cornelia Schleime
„Ich bin keine Buchhalterin meines Lebens“

Cornelia Schleimes Leben wäre Stoff genug für eine Autobiografie. Sie entschied sich für den Roman

Sie sind erfolgreiche Malerin und schreiben ein Buch. Warum?
Weil das, was mich dabei interessierte, nicht in ein Bild passt. Es würde das Bild sprengen. Mein Atelier ist zu klein, für die Worte der Geschichte, die ich suchte. Verrat, Trauma und die Schatten der Vergangenheit sind zu groß.

Repressalien, Schikane und Verrat sind Erfahrungen Ihrer DDR-Biografie. Sie hatten über elf Jahre lang einen Weggefährten, der Sie und andere Künstler der Ostberliner Szene vermeintlich förderte und vor der Stasi schützte. Als Malerin wurden Sie mit einem Ausstellungsverbot belegt und konnten schließlich 1984 in den Westen übersiedeln. Im Jahr 1990 erfuhren Sie von der Enttarnung jenes Freundes und Dichters als IMB, Inoffizieller Mitarbeiter „mit Feindberührung“. Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein. Ihr Debütroman „Weit fort“ weist große Parallelen auf. Er liest sich wie eine versteckte Biografie.
Es gab einen persönlichen Impuls für die Geschichte, aber es war nur ein Impuls. Dann entwickelte ich die Sprache und die Figuren. Sicher, ich habe eine Lebens- und Erfahrungswelt gewählt, in der ich mich persönlich auskenne. Dennoch ist „Weit fort“ Fiktion, der Roman ist ausdrücklich nicht biografisch zu lesen. Eine sich selbst erklärende Rückschau hätte mich gelangweilt. Ich bin nicht die Buchhalterin meines Lebens! Mich interessierte, wie Vergangenheit in die Gegenwart wirkt und damit eine Zukunft unmöglich macht. Die Zukunft zweier Liebenden. Wir leben alle mit dem Phantom der Vergangenheit, das in die Gegenwart eingreift. In meinem Roman zeige ich, wie die Erfahrungen der Diktatur in der Gegenwart wirken. Ein verdrängtes Thema kann durch einen Klick im Internet aktiviert werden…

Bevor wir über die Gegenwart sprechen, lassen Sie uns über Ihre Vergangenheit reden. Sie hätten Gelegenheit gehabt, den Schmerz zweier deutscher Traumata zu verdrängen: Sie wurden von der Stasi verfolgt, Ihr Vater war im Konzentrationslager der Nazis.
Mein Vater war fünf Jahre Häftling in dem Konzentrationslager Sachsenhausen. Wie viele Opfer schwieg er, verdrängte sein Trauma. Als ich Studentin war, besuchten wir die Gedenkstätte: Damals brach es erstmals aus meinem Vater heraus. Er erzählte von den grausamen Qualen der Mithäftlinge, den Leichen die er in den Todesduschen sah. Über Nacht lagen sie dort angeschnallt, während die ganze Zeit ein Kaltwasserstrahl auf das Herz gerichtet war. Am Morgen waren sie tot. Plötzlich verstand ich, welche Last mein Vater mit sich trug.

Ihr Vater lehnte sich später auch gegen das DDR-System auf?
Er hätte sich jedem System widersetzt. Im Osten wurde mein Vater als Antifaschist geachtet. Man hätte ihn in der DDR gerne als sozialistischen Helden gefeiert, aber er war überzeugter Kritiker jedes dogmatischen Systems. Die SED-Mitgliedschaft hat er verweigert, er war unangepasst, hasste jede Form von Systemdogmatismus. Als Kind war das nicht immer leicht. Ich erlebte sehr früh die soziale Demontage. Doch das Wissen um die Unbeugsamkeit meines Vaters gab mir später viel Kraft.

Sie waren von Beginn Ihres Schaffens an unangepasst. Bald kam es zum Ausstellungsverbot, Sie waren der DDR ein Dorn im Auge. 1984 schließlich siedelten Sie in den Westen über. Wie kam es dazu?
Ich hatte bereits fünf Ausreiseanträge gestellt. Vergeblich. Zwei Jahre lang saß ich auf gepackten Koffern. Ursprünglich war eine Hochzeit mit dem schon im Westen wohnenden Ralf Kehrbach geplant: Wir hätten im Osten geheiratet und wären gemeinsam – ich als Ehefrau eines Bundesbürgers – in den Westen ausgereist. Alles war genehmigt worden, alle Papiere lagen bereit. Einen Tag vor dem Termin wurde die Hochzeit aus reiner Schikane vom Osten verboten. Das war der Moment, in dem sich bei mir Depression und Aggressivität abwechselten. Ich entschied mich zum Hungerstreik, in einer Kirche. Ich rief meinen Freund Ralf an, der sehr gute Kontakte zum Rias hatte, und teilte ihm meine Entscheidung mit. Wie bei all unseren Telefonaten hörte die Stasi mit. Ich bekam Besuch vom Dichter, er hatte damals Telefon, ihn hatte man angerufen: „Cornelia Schleime soll in 24 Stunden die DDR verlassen.“

Was haben Sie in Ihren letzten 24 Stunden in der DDR getan?
Ich habe mein eigenes Ost-Leben abwickeln müssen, mit einem Laufzettel: Wohnung abmelden, Strom, Gas, Sozialversicherung, polizeiliche Meldestelle. Während ich durch Ostberlin hetzte und mir die Stempel abholte, fertigte eine Freundin eine Liste an mit den Kunstwerken in meiner Wohnung. Zum Schluss informierte ich noch Westdiplomaten, die abends zwei Kartons mit fünf Super-8-Filmen und zwei Bildtagebüchern abholten. Mir blieb eine einzige Tasche. Mit der wurde ich am nächsten Tag mit meinem Sohn durch den Glaspalast in der Friedrichstraße in den Westen gelassen.

Den Schlüssel zur Wohnung hatten Sie Ihrem damaligen Vertrauten gegeben…
Und habe damit alles verloren: Fotos, Bilder, Skulpturen, private Erinnerungen an die Kindheit und Jugend. Bis heute ist mein gesamter Nachlass verschollen. Alle Indizien deuten auf die Wohnungsverwaltung als Täter. Hier und da tauchen auf dem Kunstmarkt vereinzelt Gegenstände auf. Einzig die beiden Kartons mit den Filmen und den Bildtagebüchern sind mir geblieben.

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck im Westen?
Ich erinnere mich an Autos mit riesigen Schraubenschlüsseln auf dem Dach oder überdimensionierten Eistüten, solche Werbeautos. Und der Geruch. Es roch einfach alles viel besser. Im Auffanglager Mariendorf musste ich zum Gesundheitscheck, da lief Musik im Wartezimmer! Die Menschen waren freundlich, so etwas kannte ich von Behörden nicht. Ich fühlte mich im Paradies angekommen. Die Entsorgung meiner Identität im Osten dauerte 24 Stunden. Der Aufbau meiner Identität im Westen dauerte mehrere Monate.

Ihr damaliger Vertrauter reiste 1986 in den Westen aus. Hatten Sie zu dieser Zeit noch Kontakt?
Viele reisten zu dieser Zeit aus, hockten dann wieder zusammen, aber ich wollte nicht auf einer Ost-Insel im Westen leben. Ich ging mehr oder weniger allein meinen Weg.

Im Jahr 1990 wurde der Dichter als Stasimitarbeiter enttarnt. Jener Dichter war ein IMB, Inoffizieller Mitarbeiter „mit Feindberührung“. Ihr langjähriger Freund und Vertrauter ein Feind – wie war Ihre Reaktion auf den Verrat?
Fassungslosigkeit. Ich befand mich gerade mit einem Stipendium in New York. Ein Freund rief an und erzählte mir von der Enttarnung. Zurück in Berlin, besuchten wir den Dichter sofort und fragten ihn. Er leugnete alles ab. Es sei ein großer Irrtum. Schließlich fügten sich immer mehr Indizien zur Gewissheit.

Was ging Ihnen durch den Kopf?
Mich bewegte immer wieder die Frage: Was war zuerst da, Freundschaft oder Verrat? Und hätte eine andere Reihenfolge einen Unterschied gemacht? Irgendwann kamen bei mir Rachegefühle hoch: Ich wollte mir eine Waffe besorgen, Erlösung für den Verrat suchen. Ich war verzweifelt. Der Dichter flüchtete sich in immer neue Erklärungen, er sei eigentlich Opfer gewesen, er wollte uns nur schützen. Er flüchtete sich in Erklärungsmodelle.

Fühlten Sie sich als Opfer?
Ich war Opfer eines Betrugs. Der Verrat, die Repressalien, das ganze menschenverachtende System der DDR war eine schmerzvolle, gängelnde Erfahrung. Aber ich bin aktiv geblieben, ich habe auf alles künstlerisch reagiert. Ich kämpfte gegen die innere Verdrängung und habe aus dieser Erfahrung Bilder und Poesie machen können.

In Ihrem Roman spielen Sie mit einem neuen Medium, dem Internet. Die Malerin Clara lernt über eine Partnervermittlung im Netz einen Mann kennen. Es dringen jedoch Erfahrungen aus dem vergangenen analogen Zeitalter in die vermeintlich jungfräuliche digitale Zeit…
Die Malerin bemerkt Auffälligkeiten im Verhalten von Ludwig, jenem Mann, den sie mittels der psychologischen Filter in der Partneragentur gefunden hat. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Er erinnert sie an einen vermeintlichen Freund aus der Vergangenheit. Es kommt zum Störfall. Ludwig verschwindet, taucht ab. Aus ihren Erfahrungen heraus beginnt sie langsam etwas zu ahnen und die Geschichte rückwärts zu lesen…

Hatte er eine Stasivergangenheit – und sie war das Opfer der Stasi?
Sie nimmt es zumindest an. Plötzlich taucht er ab, reagiert wie ein enttarnter Agent: bei Gefahr abtauchen! Das ist aber sein Fehler, dadurch bringt er sie erst darauf. Jetzt beginnt sie zu recherchieren. Eine Westfrau hätte aus den Puzzlestücken nichts erkannt. Eigentlich ist es eine moderne Geschichte von Romeo und Julia. Sie lieben sich, aber die Liebe wird für beide zur Gefahr. Im Weg sind nicht zwei Familien, sondern zwei Systeme. Es wirkt ein Phantom.

Wann endet die Wirkung des Phantoms?
Dann, wenn es nicht mehr verdrängt wird. Es geht mir in meinem Roman um jegliche Form von Verdrängung. Gefühlen von Nähe, Schmerz und Verrat muss man sich stellen. Man muss durch das Leiden hindurch, sonst erfährt man nicht die Befreiung.

Sie beschreiben individuelle Verdrängungen. Erkennen Sie eine kollektive Aufarbeitung?
Ich glaube, bevor kollektiv aufgearbeitet wird, sollte es ein jeder erst selbst tun. Das heißt, er muss die Fessel seiner individuellen Verdrängung lösen. Sofern er überhaupt ein Bewusstsein hat. Ich erinnere mich an eine Freundin, die im Knast zwangssterilisiert wurde. Der Stasioffizier, der das wahrscheinlich zu verantworten hatte, erhält weiter seine Rente… Vielleicht glaubt er noch heute, dies sei alles rechtens gewesen. Das ist das eigentliche Phantom, die Rechtgläubigkeit der alten Funktionärsgarde.

In Ihrem Roman verschwindet Ludwig, der Enttarnte, plötzlich ohne eine Form des Abschieds…
Was könnte er auch sagen? Ich war mehr, als du dir je vorstellen kannst! Oder ich war nichts von dem! Sie hat eine Nase, sie würde es riechen. Er verschwindet, wie man es gelernt hat.

Flüchten Sie?
Nicht vor mir. Manchmal vor anderen, hierher aufs Land, mit meinem Beagle Jacky, in mein Atelier. Aber ich komme hierher, um zu arbeiten, um Energien freizusetzen. Ich bin getrieben von meinen Sehnsüchten: Wie wird es sein, wie kann es werden? Ein neues Bild? Ein neuer Text? Ein neuer Mann?

Und…?
Der Ausgang ist offen…

Der neue Kunstbildband „LUST – Erotische Aquarelle“ von Cornelia Schleime erscheint im März als Künstler-Edition im Prestel Verlag

Das Interview führte Till Weishaupt

(Foto: Picture Alliance)

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