„Der Zorn verraucht,das Feuer bleibt“

Mit gleich drei neuen Büchern meldet sich Peter Handke zurück

Das Erwachen andächtiger Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande. Zu Peter Handkes Haus führt eine Allee, über der sich die Baumkronen wie das Gewölbe einer Kathedrale schließen. Es ist ein unwirklich klarer Wintertag. Soeben ist der Dichter von einem langen Spaziergang durch die Wälder von Chaville bei Paris zurückgekehrt. „Ich habe noch nichts gegessen – mögen Sie Pilzsuppe?“ Auf dem Küchentisch stehen viele tiefe Teller, voller Pilze. Trompetenpfifferlinge zum Beispiel, daneben rote, breitkrempige Pilze und alraunenartige kleine gelbe. Die Ausbeute langer Wanderungen. Wir essen Pilzsuppe mit Nudeln, nebenan, am langen Tisch, auf dem Steine und Federn in Gläsern stehen, auch sie Fundstücke – Sammelobsession, Beschwörungsmagie. Was Peter Handke in seiner neuen Erzählung „Die morawische Nacht“ beschwört, hat die Magie eines nächtlichen Fiebertraums. Jeder Schritt kann zur Falltür führen, durch die man lustvoll ins Bodenlose fällt, in ein Zwischenreich, wo sich die Frage nach Realitäten verflüchtigt. Ein Autor lädt seine Freunde zum späten Souper auf sein Hausboot an der Morawa und entwirft erzählend das Roadmovie einer großen Europareise, die zugleich eine Reise durch autobiografisch vernarbtes Terrain ist. Sprachmächtig und bilderreich wird erinnert, entworfen, erfunden. Ein grandioses Spiel: Erzähler und Gäste, Autor und Protagonist kreisen umeinander, kommentieren einander, bis eine durch Selbstironie geschärfte Kontur sichtbar wird. Ein Schriftsteller wird besichtigt. Mit gleich drei neuen Veröffentlichungen: Neben der voluminösen Erzählung „Die morawische Nacht“ erschienen soeben der von Ulla Berkévicz herausgegebene Gedichtband „Leben ohne Poesie“ und der große Essayband „Meine Ortstafeln – Meine Zeittafeln 1967-2007“. Außerdem die zum Teil in der Literaturzeitschrift manuskripte veröffentlichten Sätze und Sentenzen, die unter dem Titel „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ versammelt sind. Herr Handke, in Ihrem „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ stehen einzelne Sätze, Assoziationen, Anrufungen, die mir sehr gefallen haben. Lassen Sie mich gelegentlich ein paar dieser Sätze zitieren? Zum Beispiel? „Immer wird dich die Einsamkeit nicht verwöhnen“. Ah, Sie wollen hoffentlich keine Interpretation von mir. In Ihrer neuen Erzählung „Die morawische Nacht“ ist einmal die Rede von den „von Natur aus Alleinigen, Alleinseinsidioten, Alleinseinswahnsinnigen“. Ist Alleinsein für Sie die beste aller Lebensformen? Grad heute früh habe ich gedacht: Im Grunde bin ich ein Familienmensch. Es kommt nur auf die Familie an, wie man mit ihr umgeht und wie man den richtigen Abstand gewinnt. Mein Ideal war, beides zu verbinden – was eigentlich ziemlich hirnrissig ist: zu meinen, dass man das Schreiben und Kinder verbinden könnte; oder – verbinden ist nicht das Wort – dass beides parallel geführt werden könnte. Es kann sein, dass ich damit gescheitert bin, aber ich bin nicht einmal sicher. Sonst hätte ich wenigstens eine Gewissheit im Leben. Sie sind ja noch nicht am Ende Ihres Lebens angekommen. Wer weiß (lacht). Es gibt eine gewisse Frauenphobie in Ihrer neuen Erzählung. Und einen vitalen Fluchtinstinkt des Autors und Helden. Doch, ja, es ist eine Phobie, sicher. Ich glaube, ich habe sie noch nie so selbstkritisch erzählt wie dieses Mal. Aber wenn es so klar wäre, würde ich es ja nicht erzählen, sondern würde es nur hinstellen. Ich habe es aber erzählt. „Ohne Begehren: auch nichts.“ Na, da ist manchmal ein Satz, der einen so anfliegt, und dann findet man den zugleich blöd und seltsam. Oder nehmen Sie den hier: „Ohne Frau ist es natürlich besser, aber falsch.“ Man kann sich doch eigentlich gar nicht willentlich dafür oder dagegen entscheiden, oder? Na, eben nicht. Es ist halt ein typisches Selbstgespräch (lacht). Schließen eine intensive Beziehung zu einer Frau und das Schreiben einander aus? Ja, wer sagt denn, dass der Autor in der „Morawischen Nacht“ nicht mehr schreibt? Am Ende stellt sich etwas anderes heraus. Er hält sich für einen Schreibverweigerer und hat dennoch wie absichtslos ein Buch geschrieben. Es ist ein Traum. Er hat eine Nacht lang etwas geträumt, woraus die lange Arbeit der Erzählung und das Buch entstanden sind. Aus dieser einen Nacht werden viele Tage der Arbeit. Ist das auch Koketterie? Die Möglichkeit des Nichtschreibens zumindest als Gedankenspiel in Betracht zu ziehen? Nach den fast vierzig Jahren, die ich jetzt mit diesem herrlichen Beruf verbringe, kommt schon manchmal der Gedanke: Jetzt hast du alles sanft und kräftig umrissen, was du zu umreißen hattest im Leben. Jetzt geht es darum, es zum Ausklingen zu bringen. Das hat nichts mit Koketterie zu tun. Das entsteht aus der Psychophysik, wie ich das nenne. Es kommen Fragen wie: Was willst du jetzt noch? Du wirst doch nicht um Gottes willen auch noch eine Autobiografie loslassen? Ich habe schon noch etwas vor, aber ich glaube, „Die morawische Nacht“ war das letzte wirklich epische Unternehmen, in dem ich von einem Problem erzählen wollte: Was ist Schreiben? Was ist Lesen? Was sind Worte? So weiträumig, glaube ich, hat vielleicht nie vorher jemand diese Fragen bearbeitet. Wenn Sie wüssten, dass Sie in den nächsten zehn Jahren keine Zeile mehr schreiben, würden Sie anders durchs Leben gehen, weil Sie nicht unwillkürlich die literarische Botanisiertrommel dabeihaben? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist schon so, wie Goethe es gesagt hat – Schreiben ist Schmerz und Freude. Es ist für mich immer noch ein Tabu. Bevor ich mich an den Tisch setze, habe ich jeden Tag auch Mulmigkeit und Bangigkeit zu überwinden, bis ich mich dann endlich hinbequeme – ich gebe mir regelrecht einen Tritt. Andererseits: Wenn ich dann an dem Tisch sitze, kommt oft eine große, ungeheure Ruhe über mich, und ich denke: Ja, jetzt bin ich an meinem Platz, jetzt mache ich mich leben und vielleicht dichten. Es ist schwer vorstellbar, dass Sie diesen Platz freiwillig verlassen könnten. Ich bin kein besessener Schreiber. Ich bin nicht getrieben. Über Erich Fried habe ich einmal gehört, dass er noch in der Agonie die Bewegungen ausführte, ein Blatt Papier zu bekritzeln. Mit Buchstaben, die nicht mehr leserlich waren. Dass er noch in diesem Zustand seine täglichen vier, fünf Gedichte geliefert hat, erfüllt mich mit Entsetzen. Ich möchte zu meinem Buch des Lebens kommen, das ich schreibe, weiterschreibe – ohne zu schreiben. Dass sich sozusagen alles, was ich geschrieben habe, im Wind und im Himmelblau und im Grün von diesem und jenem fortsetzt, ohne dass das Schreiben mir fehlt. Das wäre ein Ideal. Auch ohne zu schreiben, wäre ich immer noch der Schreiber. Der vermeintliche „Autor-in-Ruhe“ in Ihrer Erzählung begegnet unter anderem einem Journalisten, der ihn wegen seines immer noch existenten Autorennimbus beneidet – und ihn verhöhnt. Ja, die Figur des Autors ist ein bisschen gebrochen durch einen Journalisten, der sich belustigt über die Art des Schriftstellers oder Ex-Schriftstellers. Ich wollte das bewusst brechen, wollte den Schriftsteller schief gesehen werden lassen durch jemand anderen, der ihm nicht gut gesinnt ist, sodass wiederum der Leser sich seinen Teil denken kann. Der erste Satz Ihrer „Selbstgespräche“ lautet: „Hier fließt das Wasser – was soll ich woanders?“, geschrieben wurde er an der Morawa, in Cuprija, am 27. April 2006. Auch Ihre Erzählung spielt an der Morawa. Sind Sie in letzter Zeit da gewesen? Der Balkan ist ein Land der Flüsse, und mir ist das Flussland sehr nahe. Ich erkläre das immer mit einer Banalität: Ich bin Schütze, ein Feuerzeichen, wie man sagt, und ich habe Wasser nötig, fließendes Wasser, das tut mir gut. Dies ist eine hanebüchene Erklärung, die ich an den Haaren herbeigezogen habe. Hört sich ganz danach an. Der Autor der Erzählung sucht das Balkanische auf einer Reise quer durch Europa – nachdem er es an der Morawa zurückgelassen hat. Was ist dieses Balkanische? Suchen auch Sie es? Ja, das Balkanische zieht mich an – das Unregulierte. Diese ganze begradigte, gesäuberte Welt, in der wir wie im Film leben – ich rede jetzt nicht von einer Vorliebe zu umgestürzten Mülltonnen – ist deprimierend. Das spricht doch nicht zur Seele. Wenn Sie aber eine Grube mit Schlamm sehen, und es liegt ein Schuh drinnen, so ist das sicher etwas Trauriges. Es könnte zum Beispiel der Schuh eines Geflüchteten sein. Jedenfalls stachelt solch ein Anblick dazu an, die Wirklichkeit zu erforschen. Ich will ja nicht den Balkan mythologisieren, um Gottes willen. Balkan ist überall, und Balkan kann furchtbar sein, doch Balkan kann auf der anderen Seite auch eine Glocke anschlagen, eine Erfahrung, durch die das innere Auge sich aufschlägt. Und das innere Ohr endlich zu hören beginnt. Das ist eine große Glocke, die aus vielen kleinen Gegenständen besteht. Es gibt mehrere Szenen, noch in der Nähe der Morawa, in denen der Bus des Reisenden von Kleinkindern mit Steinen beworfen wird. Schon im „Bildverlust“ gab es Szenen mit steinewerfenden Kindern. Kann sein, kann sein, dann wiederhole ich mich – nicht zu fassen. Das Bild scheint vielmehr immer noch präsent zu sein. Ist das auch heute Ihre Erfahrung im Kosovo? Dieser Hass, der den Kindern mit der Muttermilch eingegeben wird? Das ist gleich geblieben. Nur im Moment werden wahrscheinlich aus bestimmten Gründen – ich muss jetzt lachen – die Kinder in die Häuser gesperrt, damit sie ein bisschen abwarten mit dem Steinewerfen. Damit ist ja gar nichts gegen ein bestimmtes Volk gesagt. Es ist nur eine gewisse Traurigkeit da, dass Eltern und Großeltern es nicht schaffen, den Hass abzuwenden, sodass schon in den Zweijährigen dieser Steinwurfdrang steckt, der, scheint es, geduldet wird. Sehen Sie kein Zeichen der Normalisierung im Kosovo? Jetzt fragen Sie mich politisch, und was die aktuelle Politik betrifft, fühle ich mich nicht zuständig. In der Erzählung wird geschildert, dass die Serben in ihren Enklaven wie in Gefängnissen leben. Dass sie ihre Felder nicht bestellen können, ohne beschossen zu werden, dass sie ihre Toten im Dorf begraben müssen, weil die Gräber außerhalb der Dorfmauern zerstört werden. Das klingt nicht gerade nach Normalität. Ich kann sicher sein, und Ihr Wort in Gottes Ohr, dass es sich normalisiert – was auch immer „normalisiert“ bedeutet… …ein für alle erträglicher modus vivendi unter Bedingungen, die diktiert wurden und daher auch problematisch sind. Tragisch bleibt auf jeden Fall, was geschehen ist und was geschehen soll. Die Tragödie wird weitergehen. Sie wird nur ihre Gewichte verlagern. Und das scheint das Gesetz der Geschichte zu sein, zumindest auf dem Balkan. Fahren Sie regelmäßig hin? Natürlich, ja, so zwei-, dreimal im Jahr. Ich möchte mehr allein sein. In den vergangenen Jahren bin ich immer häufiger allein dort gewesen und sehr viel gewandert. Es gibt einen Bergzug in der Nähe von Belgrad, Fruška Gora, wo sehr viele Klöster sind, und dann gibt es eine Landschaft in der Mitte Serbiens, die einen sehr schönen Namen hat: Šumadija. Šuma ist das serbische Wort für Wald. Dort bin ich sehr oft gewandert und habe viel erlebt, was nicht schlimm war. Was nicht schlimm war? …was halt das Leben war – Bilder, Bildchen, wie die Griechen deshalb sagen: eidola, kleine Bildchen, die am meisten bewirken, nicht die Bilder im Fernseher. Ich könnte noch tausend Dinge erzählen, aber lassen Sie uns nicht so sehr auf ideologisches Terrain gehen. Beobachten Sie dort gern Menschen? Ich beobachte nicht, ich schaue. Für mich ist Schauen Zufall. Aber Schauen ist das Erste, womit man sich die Welt erobert. Durch Anschauung wird man Welteroberer. Ich verwende gern das arabische Wort „Mushahada“. Das ist es: Aus der Anschauung entsteht alles. In der „Morawischen Nacht“ wird über die Menschen im Kosovo gesagt, dass sie dieses Schauen verlernt hätten, das zuvor offenbar ein Charakteristikum der Menschen des Balkan war, etwas typisch „Balkanesisches“, wie Sie schreiben… …sagen Sie ruhig „balkanesisch“, natürlich. Und das ist ja nicht nur ein Balkan-Phänomen. Es ist auch mein eigener Mangel: Ich bedauere es, wenn ich am Tag nicht „ins Schauen gekommen bin“, wie die deutsche Sprache so schön sagt: „Ich bin gegangen und ins Schauen gekommen.“ Und dann wieder aus dem Schauen, da sagt die deutsche Sprache: „Ich bin aus dem Schauen nicht mehr herausgekommen.“ Das wäre ein Ideal, nicht wahr? Aber so gesund bleibt man nicht bis zum Tode. Dieses Schauen hat etwas Entgrenztes, so wie Sie es in Ihrem „Versuch über die Müdigkeit“ beschrieben haben, eine Absichtslosigkeit. Nur so geht es, es gibt ja nicht umsonst den Spruch: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Schauen Sie, das ist ganz praktisch. Wenn ich in den Wald gehe, ich sage immer „in die Wälder“, denn es gibt so verschiedene hier rund um Paris, dann komme ich leicht in Versuchung zu suchen – das ist ein blödes Wortspiel –, und das schränkt mich ein, dieses Suchen. Was suchen Sie? Ob das nun Pilze oder Beeren sind oder eine Falkenfeder oder überhaupt eine Feder, vielleicht eine Rabenfeder, die blau schillert. Sie leben seit vielen Jahren hier in Chaville, der Balkan aber scheint für Sie eine ungeheure Magie zu haben. Ja, die Loire hätte mich vermutlich nicht auf den Fantasiesprung gebracht. Nehmen Sie allein schon das Wort „Morawa“ und „Die morawische Nacht“ – sehr viel hängt ja vom Klang der Silben und auch von Namen ab. Hinzu kommt: Ich kenne die Flusslandschaft der Morawa sehr gut, ich habe sie nicht gerade „durchwandert“, das ist ein furchtbarer Ausdruck, aber ich bin viel hin und her gereist in dieser Landschaft. Das hat mich sehr gereizt. Es ist mir fremder, es ist unzivilisierter, ruppiger, als Landschaft, aber auch als Menschentum. Schon in meinem ersten Buch „Die Hornissen“ steht: „Heiß macht ihn immer, was er nicht weiß.“ Also nicht: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Nein, umgekehrt: „Was ich nicht weiß, macht mich heiß.“ Ich weiß zu viel von hier, vom westlichen Europa. Meine präzise Tagesfantasie, Tagtraumfantasie, was ja Schreiben ist, die gegliederten Tagtraum­fantasien in mir, mit Fluggang in die Tiefe, können hier nicht entstehen. Das Fremde lässt ihnen mehr Freiheit? Was ich nicht weiß, kann ich erfinden. So habe ich es immer gemacht. All meine Bücher handeln ja in der Zukunft – den „Kurzen Brief zum langen Abschied“ habe ich mit 26 geschrieben, und in dem Buch feiere ich meinen 30. Geburtstag. „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ beginnt 1997, geschrieben habe ich das Buch 1993. Nur in der Geschichte von meiner Mutter, „Wunschloses Unglück“, habe ich etwas beschrieben, was war. Das fiel mir unglaublich schwer, mir kam es fast unliterarisch vor. Ich kann im Grunde nicht beschreiben, was war, nur in die Zukunft projizieren. Bei der Geschichte „Die morawische Nacht“ habe ich mir vorgestellt: Wie könnte es in zehn Jahren dort sein? Dort an der Morawa und auch anderswo ist nach dem Balkan-Krieg alles ein bisschen verschwommen. Das bringt mich auf die Sprünge. Es fällt im Zusammenhang mit den Menschen dort auch das Wort Trotz. Trotz als letztes Refugium von Stärke, von Einstimmigkeit… Trotz ist ein Wort aus der Türken-Zeit. Jetzt muss ich doch einmal das Wort „Serben“ aussprechen, das ich in dem ganzen Buch vermieden habe: Der Trotz ist ein Überbleibsel der Oberherrschaft der Türken über die Serben. Vierhundert Jahre lang hat diese Herrschaft gedauert. Das Wort „Inat“, Trotz, ist ein türkisch-arabisches Wort. Die Türken haben das von ihnen unterdrückte und objektiv beherrschte Volk ein Volk des „Inat“, des Trotzes genannt. Und die Serben – das ist das letzte Mal, dass ich das Wort „Serben“ benutze – die Serben haben das dann umgedreht und gesagt: Ja, wir sind die Macht, wir sind das trotzige Volk. Sie haben aus der Beschimpfung eine Tugend gemacht. In diesem Sinne, ja. Vor fünfzehn Jahren, als es zu den Kriegen kam, haben die westlichen Medien von diesem „Inat“ gehört und es wiederum umgedreht. Nun wurde es wieder in der ersten, ursprünglichen Bedeutung verwendet, die es während der Türken-Herrschaft hatte. Es ist eine interessante Geschichte. Ein schönes Wort – „Inat“. Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn Inat nennen. Warum verwenden Sie das Wort „Serben“ so vorsichtig? Sind Sie dieser ganzen Diskussion müde? Ich war der Diskussion schon von Anfang an müde. Ich wollte nie diskutieren, ich wollte einfach darstellen, was es dort noch anderes zu sehen gibt – etwas, das vielleicht genauso bezeichnend ist oder: anders zu bezeichnen ist. Das heißt, Sie ziehen sich jetzt aus der Debatte zurück, oder ist der Zorn noch da? Die eigentliche Debatte hat es ja nie gegeben. Wenn es sein müsste, würde ich noch härtere Worte und Wörter gebrauchen. Aber der Zorn kommt und geht. Was bleibt, ist die Wut. Die deutsche Sprache sagt nicht umsonst: „Der Zorn verraucht.“ Stimmt. Der Zorn verraucht, aber das Feuer bleibt (lacht). „Früh irrt sich, wer ein Meister werden will.“ Muss man sich erst einmal irren, um ein Meister zu werden? Ja, das ist ein präsokratischer Satz und mehr als nur ein dummes Wortspiel. Wenn ich jemals eine Autobiografie schreibe, dann unter dem Gesichtspunkt, dass ich alle meine Irrtümer, alles, was ich falsch gesehen, falsch gehört, auch verwechselt habe, benenne. Aus diesem Mich-geirrt-Haben in einem Blick oder einem Geräusch sind oft erst die richtigen Blicke entstanden. Es hat zuweilen eine skurrile Komik, wenn Sie in einen inneren Dialog mit den Dingen geraten, mit einer nahezu animistischen Wahrnehmung. – „Bist auch verhungert?“ (zu der toten Spinne, vertrocknet im eigenen Netz) – Empfinden Sie so etwas unwillkürlich? Ja, das kommt vor, im Guten wie im Bösen, eben wie Sie es zitiert haben. Dass man ein Schuhband, das reißt, beschimpft, oder dass man eine Wolke duzt – es kommt vor, ohne dass man es will. Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus der Kindheit, wo auch alles belebt scheint. Es kommt sogar vor bei diesen Selbstgesprächen, dass man sich selbst maßregelt und sich selbst beschimpft. Oder dass man in ein Zwiegespräch mit seinen Verstorbenen gerät. Was da tagsüber in einem vor sich geht, ist sehr seltsam. Im Grunde ist der Mensch noch längst nicht erforscht. Ein Zwiegespräch betrifft Ihre Mutter: „Ja, Mutter.“ Oder: „Mutter, mache ich dir Schande?“ Das wird wohl seinen Grund gehabt haben. Es ist sicher eine Art Ahnenkult, den ich betreibe, ab und zu auch in der „Morawischen Nacht“. Aber dieser Ahnenkult ist materiell. Ich kann Inspiration, Materie und Form nicht trennen, so wie auch Materialismus und Spiritualismus für mich zusammengehören. Deswegen ist das Christentum für mich eine Materie-Religion. Wenn jemand die Evangelien gelesen hat, wenn er selber aufmerksam ist auf sein Leben und das Leben anderer, wenn eine Wunde offen ist – dann wird er sehen, dass das Evangelium Materie ist. Und so ist auch mein mich gelegentlich anfliegender Ahnenkult Materie. Sie haben sich intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt… Bevor ich hier in das Haus gezogen bin, habe ich die ganze Heilige Schrift, von Alpha bis Omega, auf Griechisch gelesen. Ich habe lange Jahre Griechisch gelernt und auch ein bisschen aus dem Altgriechischen übersetzt, Aischylos und Sophokles. Die Bibel habe ich dann Wort für Wort mit einem Wörterbuch gelesen – die Notizbücher dieser Jahre 1974 bis 1990 habe ich dem Literaturarchiv in Marbach gegeben. Die Bibel war eine Zeit lang mein täglich Brot. Das Erste, was ich danach in diesem Haus geschrieben habe, war der „Versuch über den geglückten Tag“. Darin gibt es sehr viele Anspielungen auf meine Lektüre der Heiligen Schrift. In Ihrem jüngst erschienenen Gedichtband „Leben ohne Poesie“ gibt es ein Gedicht über die Verkündigung: Der wunderbarste Raum der wunderbarste Abstand der wunderbarste Zwischenraum ist der zwischen dem Engel der Verkündigung und der jungfräulich Gebären-Sollenden: Abstand von der Lilie des Feldes zur Lilie des sechsten Tages Sind das religiöse Bilder, die für Sie besondere Symbolkraft haben? Natürlich sind das auch Bilder, denn der Verkündigungsengel wird ja mit einer Lilie dargestellt. Die schönste Verkündigung, die ich gesehen habe, stammt von Hans Memling. Da kommt der Engel geflogen, während Maria liest – sie liest ja immer auf den Verkündigungsdarstellungen. Man sieht den Schwung der Flügel, und vom Lufthauch fliegt eine Seite des Buches auf, in dem die Jungfrau Maria liest – was für eine unglaubliche Erzählung, was für ein schönes Bild. Wurzelt Ihre Religiosität in der Kindheit oder hat sie sich erst später entwickelt? Zu der Zeit, als ich „Langsame Heimkehr“ schrieb, das Buch, mit dem ich mich laut Franz Kafka am meisten selber umgegraben habe, kamen all diese gewissen Angelerntheiten aus meiner Kindheit und Jugend wieder zurück und haben sich verwandelt von der Angelerntheit zu etwas zu Lernendem. Das hat mich bis jetzt nicht verlassen. So kam es auch zum Gedicht über die Lilie des sechsten Tages, das Sie gerade zitiert haben. Was bedeutet es Ihnen, Gedichte zu schreiben? Ich habe in meinem Leben vielleicht fünf wirkliche Gedichte geschrieben. Nehmen Sie das Gedicht „An den Morgen“: Aufgewacht vor dem morgenhellen Himmel: Über die noch dunklen Dächer treibt aus den Kaminen schon langsamer Rauch Die Vögel: Sine fine dicentes Und alle Lieben leben „Sine fine dicentes“, diese Formulierung kommt aus der Heiligen Messe. Ohne Unterlass wird gesagt: heilig, heilig, heilig, heilig. Ich habe nur das „heilig“ weggelassen. Die Vögel am Morgen, sine fine dicentes, sangen ohne Unterlass. Das muss man wissen, das ist die Essenz des Gedichtes. Wie ich dazu kam? Es hat mich angeflogen, vor langer Zeit schon. Was sich als Gedicht ausdrückt, sehe und spüre ich nicht als Gedicht – es muss dringlich und leicht sein. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Gedichte, das kommt auch in den „Unwillkürlichen Selbstgesprächen“ vor: „Die Gedichte werden immer seltener.“ Ich frage mich, warum. Gehen Sie in die Messe? In den „Selbstgesprächen“ findet sich der Satz: „Warum bin ich nicht in die Messe gegangen, ich Arschloch.“ Ja, das war in Chicago, ich sehe es immer noch vor mir. Ich habe mich am Michigansee herumgetrieben, und eine Zeit lang war das sehr schön – allein sein, allein gehen, am meerhaften See von Chicago. Doch dann dachte ich: Nein, es hat mir doch die Gemeinschaft von Leuten gefehlt, die man zwar nicht kennt, die aber ganz auf die Messe ausgerichtet sind, auf die Eucharistie. Am Ende habe ich mich nicht gerade schuldig gefühlt, aber ich hatte ein Gefühl des Versäumnisses. Mein Rhythmus war zu sehr auf das ekstatische Alleingehen am See gerichtet gewesen. „So alt, und immer noch ungeduldig“, „Dreiundsechzig Jahre Ungeduld“ (im Flugzeug) – Sätze aus Ihren „Selbstgesprächen“. Ja, das trifft auf mich leider zu. Verliert sich die Ungeduld nicht? Warten Sie, in einer halben Stunde werden Sie meine Ungeduld spüren (lacht). Ja, es ist furchtbar. Ich gebe Ihnen das, Frau Eichel, ich habe extra für Sie noch ein paar kleine Seiten neuer „Selbstgespräche“ abgeschrieben. Da kommt mehrmals die Ungeduld vor. Hier – aber das muss man lang wirken lassen: „Ungeduld ist grußlos.“ Ich meine, es ist eigentlich ein Blödsinn, aber wenn man darüber nachdenkt, ist doch was dran. Die Ungeduld kann nicht grüßen. Haben Sie einen Moment Geduld? Ja, ich gedulde mich. Warten Sie, ich muss es suchen. Ah, da ist wieder die Ungeduld, sogar zweimal: „Und solange du die Geduld nicht hast, bist du nur ein trüber Gast.“ Dann gleich noch einmal: „Unmusikalische Ungeduld“. „Jede Straße hat ihre Verlorenen.“ Kennen Sie das Gefühl der Angst, im übertragenen Sinne verloren zu gehen? Sich selbst verloren zu gehen? Es steht alles auf des Messers Schneide. Gerade die Leute, die heute die Sieger sind, können schon am nächsten Morgen ganz unten sein. Das ist mein Grundgefühl. Ich habe heute einen Triumph mit irgendeinem Scheißerfolg, und am nächsten Tag bin ich der letzte Mensch. Heute bin ich glücklich mit jemandem, und ich freue mich, wie man sich überhaupt nur freuen kann, am nächsten Tag aber möchte ich Punkt, Punkt, Punkt. Das sind Wechselfälle. Fühlen Sie sich unzerstörbar? Nicht nur das Glück, auch das Unglück ist manchmal eine Schimäre. Mein Bruder, der sehr schwer krank ist, der jeden Tag leidet und viele Tabletten nehmen muss, freut sich des Lebens, soweit er kann – vielleicht mehr als unsereiner. Er sagt, dass es manchmal Tage gibt, in denen das Leben ganz einfach sei, sogar für ihn. Und dann wird es wieder so schwer. Man weiß nicht, warum und wie die Gewichte sich verlagern. Ein kleines Gewicht genügt, und plötzlich denkt man, es geht überhaupt nicht weiter. Ich weiß nicht, woran das liegt. – Dem Papst geht es sicher nicht so. Wer weiß… Na ja, von Mutter Teresa habe ich gehört, dass sie manchmal schwerste Depressionen hatte. Es hat schon ein bisschen mein Vertrauen in sie geweckt, dass sie so auf der Kippe war. Beschäftigen Sie sich mit dem Tod? Das ist übrigens gut gefragt, ich kann Ihnen nämlich eine Antwort geben: Ich beschäftige mich nicht mit dem Tod, er beschäftigt mich. Jeden Tag, so ist es halt. Und warum beschäftigt der Tod Sie? Sie sind vor kurzem 65 geworden – ist es das Gefühl des Alterns? Ich habe schon als Achtjähriger fürchterliche Todesängste gehabt, nur weil der Priester im Religionsunterricht gesagt hat, man könne am Abend, wenn man einschläft, nicht wissen, ob man am Morgen aufwacht. Danach hatte ich monatelang Todesangst. Ich wollte nicht einschlafen, weil ich dachte: Ich kann ja nicht wissen, ob ich wieder aufwache. Es war damals eigentlich schlimmer als jetzt. Was tun Sie, wenn der Tod Sie beschäftigt? Heute halte ich mich an den Satz von Spinoza: Der vernünftige Mensch, so lang er lebt, denkt über das Leben nach. Der vernünftige Mensch spricht nicht dauernd vom Tod. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Das Gespräch führte Christine Eichel Die Erzählung „Die morawische Nacht“, der Gedichtband „Leben ohne Poesie“ und die Essaysammlung „Meine Ortstafeln – Meine Zeittafeln 1967-2007“ sind im Suhrkamp Verlag erschienen Das ungekürzte Gespräch lesen Sie im Internet unter www.cicero.de

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.